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BISS-Ausgabe Juni 2024 | Abenteuer

Cover des BISS-Magazins Juni 2024

Inhalt | Abenteuer | Nichts macht Kindern mehr Spaß, als sich selbst auszuprobieren und Neues zu schaffen. | 6 Abenteuer in der Stadt: Die große Freiheit direkt vor der Haustür | 12 Pflege, einmal anders gedacht: Ein Gespräch darüber, wie Pflege besser funktionieren könnte | 16 Nachtpflege für Demenzkranke: Bei wohlBEDACHT werden Demenzkranke nachts versorgt | 20 VerAplus Senior Experts unterstützen junge Auszubildende | SCHREIBWERKSTATT| 5 Wie ich wohne | 26 BISS-Verkäufer*innen erzählen, was sie bewegt | Rubriken | 3 Editorial | 28 Patenuhren | 29 Freunde und Gönner | 30 Impressum, Mein Projekt | 31 Adressen

„Ohne Karin würde ich es nicht schaffen“

Rund ein Viertel der Azubis in Deutschland bricht die Ausbildung ab, häufig schon im ersten Jahr. Initiativen wie das bundesweite Coaching-Programm „VerAplus“ sind deshalb Gold wert, wenn es Stress in der Berufsschule oder im Betrieb gibt. Hier betreuen Fachleute im Ruhestand Lehrlinge in Not – und das ehrenamtlich und kostenlos. Eine von ihnen ist Karin Münzer (68) aus dem Landkreis Erding, die als Senior-Expertin derzeit drei jungen Leuten rund um München unter die Arme greift, unter anderem Hotelfachfrau-Azubi Dilfuza Ablakulova (27). BISS war bei einem ihrer Treffen dabei.

Von KERSTIN GÜNTZEL

Foto TOBY BINDER

Draußen ist es an diesem Freitagabend unwirtlich und feucht, drinnen in der Lobby des HR-Hotels in Oberding am Münchner Flughafen dagegen heimelig und warm. Leise Musik und Stimmengemurmel dringen von der Bar herüber: Dilfuza Ablakulova, die hier im ersten Ausbildungsjahr arbeitet und wohnt, hat es sich mit Karin Münzer gemütlich gemacht. Die beiden könnten Mutter und Tochter sein, wie sie da am Tisch sitzen, lachen, sich fürsorglich am Arm berühren und fröhlich schwatzen. Die lebhaften Frauen treffen sich mindestens einmal wöchentlich. Wenn Prüfungen anstehen, auch öfter. Denn Dilfuza Ablakulova, die erst 2021 aus der 1,2-Millionen-Stadt Duschanbe in Tadschikistan nach Deutschland kam, hat noch ziemliche Schwierigkeiten mit Deutsch, vor allem schriftlich. Zu Anfang ihrer Coaching-Tätigkeit stellte sich die Rentnerin auf eine reine Nachhilfe ein. Mittlerweile weiß sie, dass aber gerade der seelische Beistand auch enorm wichtig ist: „Meine Schützlinge sind hier mutterseelenallein. Das kann einem schon mal auf die Psyche schlagen. In ein fremdes Land mit einer komplett anderen Sprache zu kommen, ganz ohne Rückhalt – ich glaube, meine beiden Söhne, die heute 30 und 32 sind, hätten das nicht geschafft. Unser Nachwuchs ist ja oft verwöhnt. Auch deshalb fühle ich mich für meine Schützlinge verantwortlich wie für meine eigenen Kinder.“

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Wie ich wohne

Wer wohnt wie? In der Kolumne geben Menschen aus dem BISS-Netzwerk Einblicke in ihren Wohnalltag. Sie erzählen, wie sie früher gelebt haben, wie sie momentan wohnen und was sie sich für die Zukunft erhoffen.

Der Sonntagskoch

Protokoll ANNELIESE WELTHER

Foto MARTIN FENGEL

Seit einigen Wochen wohne ich in einer ruhigen Seitengasse der Boschetsrieder Straße, in einem Mehrfamilienhaus aus den Siebzigerjahren, ganz oben im dritten Stock. Wenn man im dunklen Treppenhaus hochsteigt, gelangt man auf meiner Etage wieder ans Licht, das durch die Dachfenster eindringt. Mein neu gekauftes Regal ist noch ganz leer. Die Welt ist auch nicht an einem Tag entstanden, mit der Zeit wird es sich füllen. Als ich die Wohnung zum ersten Mal betrat, waren gerade mal ein Stuhl, ein Bettkasten und ein von der Wand herunterklappbarer Tisch drin. Alles andere habe ich neu gekauft: Teppiche, Gardinen, eine Matratze, die restlichen Stühle und den Fernseher. Zum Fernsehen hatte ich bislang nicht viel Zeit, aber ich schalte ihn gerne ein, um Geräusche in der Wohnung zu haben. Natürlich hoffe ich, bald mal etwas richtig anschauen zu können. Meinen Kaffeeautomaten habe ich auch noch nicht in Betrieb genommen, er steht in meiner kleinen Kochnische. Bei der Caritas, wo ich vorher wohnte, musste man sich die Küche mit vielen Leuten teilen. Da habe ich mir nie etwas zubereitet, bin morgens früh raus und abends spät nach Hause. Mit meinem Zimmernachbarn hatte ich kaum Kontakt. Jetzt koche ich mir sonntags gerne was, zum Beispiel Bohnensuppe oder Kartoffelpüree. Unter der Woche komme ich nach wie vor spät von der Arbeit, da ich in Restaurants verkaufe. Die U-Bahn ist keine zehn Minuten entfernt, von dort bin ich schnell überall. Für mein Ein-Zimmer-Appartement zahle ich 495 Euro warm. Einen Teil meines Verdienstes wende ich dafür auf, einen weiteren schicke ich meiner Frau in Rumänien. Ich bin auf dem Land aufgewachsen, wo es nur Einzelhäuser gab, egal wie klein diese auch waren. Das von meinen Eltern hatte ein großes Zimmer, in dem wir alle einschließlich uns fünf Kindern wohnten. Mein Leben teile ich ein in die Zeit, bevor meine Mutter starb, und in die danach. Ich glaube, sie hatte Krebs, ganz genau habe ich das damals nicht mitgekriegt, da ich erst sechs Jahre alt war. Etwa zwei Wochen lang hat sich mein ältester Bruder, selbst gerade mal 14, um mich und meine anderen Geschwister gekümmert, dann musste mein Vater uns ins Heim geben. Dort hatten wir alles, Kleider, Essen, andere Kinder zum Spielen, wir konnten zur Schule gehen, aber eins fehlte uns doch: die Liebe unserer Eltern. Nach der achten Klasse machte ich eine Ausbildung zum Tischler. Eine Anstellung fand ich nie und schlug mich mit Aufträgen von Ortsansässigen mehr schlecht als recht durch. Einige Male fuhr ich zur Apfelernte nach Österreich. Dann beschloss ich, Rumänien zu verlassen, und landete schließlich in München. Meiner Frau wurde vor Kurzem ein Tumor aus dem Unterleib entfernt, allerdings ist bei der Operation einiges schiefgelaufen und ihr wurde eine Vene durchtrennt. Sie hat immer noch Beschwerden und muss einen Sack voller Medikamente nehmen. Im August und an Weihnachten besuche ich sie. Vielleicht kann ich sie irgendwann einmal nachholen.

Ein Dreirad mit 41 Jahren

EIN TEXT AUS DER SCHREIBWERKSTATT

von Jasmin Nejmi

Ich habe Fahrradfahren, verglichen mit anderen Kindern, erst spät gelernt, mit sieben Jahren. Dann aber hat es mir schnell viel Freude bereitet. Bei jedem Wetter war ich damit unterwegs, sogar freihändig bin ich gefahren. Leider wurde mir das Rad irgendwann geklaut, worüber ich sehr traurig war. Später, als Erwachsene, bekam ich von meiner Kirchengemeinde ein neues geschenkt. Ich hatte wieder viel Spaß damit, doch leider wurde es mir abermals geklaut. Damals dachte ich: Jetzt lasse ich es bleiben, ich habe einfach kein Glück mit Fahrrädern. Doch dann habe ich von meiner Betreuerin bei der Schuldnerberatung den Tipp bekommen, dass es noch Stiftungsmittel gibt, auf die man sich bewerben kann, und dass ich mir damit ein neues Rad kaufen könnte. Da ich es allein raus aus meinen Schulden geschafft habe, schlug sie mich für das Programm vor. Ich kann wegen meiner MS-Erkrankung nicht mehr Fahrrad fahren, aber ein Lastenrad mit drei Rädern kann ich steuern. Tatsächlich bekam ich das nötige Geld und konnte mir in einem Geschäft in Feldkirchen ein Lastenrad aussuchen. Es hat vorne ein Rad und hinten zwei, über denen der große Gepäckträger angebracht ist. Der einzige Nachteil ist die etwas hässliche Farbe irgendwo zwischen Gold und Beige. Dafür hat das Rad zwei Schlösser, die es vor einem Diebstahl schützen. Das Gefährt bringt mich zum Ostbahnhof, zum Arzt oder zur Krankengymnastik. Dank des großen Gepäckträgers kann ich auch Katzenstreu oder Katzenfutter transportieren. Als ich kürzlich einen Platten hatte und das Rad bis zur Reparatur nicht nutzen konnte, habe ich erst gemerkt, was mir fehlt, wenn es mal nicht da ist. Jetzt kann ich aber zum Glück wieder damit fahren.

Nicht nur Bares

Foto: Volker Derlath

Fast alle, die die BISS auf der Straße verkaufen, besitzen ein Mobiltelefon, manche auch ein Smartphone. Für die Kommunikation zwischen Innen- und Außendienst ist das im Alltag ausgesprochen praktisch, denn anders als in konventionellen Unternehmen sind die meisten unserer Angestellten ja nicht zu festen Arbeitszeiten täglich im Betrieb anwesend. Es hat sich bewährt, wichtige Infos zusätzlich per SMS zu verschicken, beispielsweise den vorgezogenen Erscheinungstag der neuen Ausgabe, wenn das Magazin vor dem Monatsletzten ausverkauft ist. Den Verkaufspreis von aktuell 2,80 Euro je Ausgabe kassierten die
Verkäuferinnen und Verkäufer seit Jahrzehnten ausschließlich bar. Das bietet den Beteiligten viele Vorteile: Die Transaktion ist simpel, man behält den Überblick, es geht schnell und der Verkäufer braucht nichts weiter als Wechselgeld und eine Hosentasche. Kann also für immer so bleiben? Nun berichteten gerade in letzter Zeit BISS-Verkäuferinnen und -Verkäufer von Begegnungen mit Leuten, die sagten, sie würden gern ein Magazin kaufen, hätten aber überhaupt kein Bargeld bei sich. Eine Entwicklung, die an Supermarktkassen und an Kiosken zu beobachten ist, wo selbst Kleinstbeträge bargeldlos bezahlt werden. Das kann man gut finden oder nicht, ich meine jedoch, es darf daraus kein Nachteil für die BISSler entstehen. So haben wir uns Gedanken gemacht, wie diejenigen unserer Verkäuferinnen und Verkäufer, die am bargeldlosen Kassieren interessiert sind, dazu in die Lage versetzt werden können. Werkstudentin Laura hat dieses Projekt übernommen, und welche Herausforderungen alle Projektbeteiligten bewältigt haben, können Sie in dieser Ausgabe exklusiv (ab Seite 24) lesen.
Als Zwischenergebnis gibt es zum jetzigen Zeitpunkt eine Handvoll von BISSVerkäufern, die bargeldlose Zahlungen akzeptieren. Es war schön, zu beobachten, wie stolz die Einzelnen waren, als das Kassieren per Handy funktionierte und sie von den jeweiligen Kunden eine positive Rückmeldung bekamen. Viel wichtiger als die zusätzlich verkauften Exemplare ist, dass jeder Beteiligte für dieses Verfahren ein funktionierendes Bankkonto braucht. Das wird den einen oder die andere motivieren, ein gesperrtes Konto zu reaktivieren oder überhaupt erst eines zu eröffnen. Auf die zunehmende Digitalisierung in der Gesellschaft sind arme und obdachlose Menschen kaum vorbereitet. Was bei Kindern aus sozial benachteiligten Familien anfängt, setzt sich im Erwachsenenalter fort. Ich setze darauf, dass wir mit Projekten wie diesem und unserer digitalen Sprechstunde für Verkäufer dazu beitragen, dass Berührungsängste und Vorbehalte weniger werden. Ein erster Schritt, aber ohne den geht es ja gar nicht erst weiter.

Herzlichst

Karin Lohr, Geschäftsführerin