BISS / : Seite 3

Abenteuer Bahn

Foto: Volker Derlath

Auf einer Reise mit der Bahn kann man viel erleben. Bei unserer Exkursion nach Fürth (siehe Seite 29 im Heft) haben wir die Bahn sowohl von ihrer besten als auch von einer ihrer schlimmsten Seiten erlebt. Auf der Hinfahrt lief alles wie am Schnürchen: Abfahrt in München pünktlich, umsteigen wie geplant in Nürnberg nach Fürth und von dort ein paar Stationen mit dem Bus an unser Ziel. Nachmittags ging’s zurück, zunächst war alles unauffällig. Letzter Halt vor München war Dachau, da dachte man schon, jetzt kann uns nichts mehr passieren. Bis der Zug abrupt zum Stehen kam. Es folgte eine knappe Durchsage: Weichenstörung. Auf den Gleisen links und rechts fuhren munter ICEs, andere Züge und S-Bahnen an uns vorbei, anscheinend war nur „unsere“ Weiche davon betroffen. Nach zwei Stunden im vollen Zug bei hochsommerlichen Temperaturen ging’s erst ein bisschen zurück und dann die letzten paar Kilometer bis München. Wenn das ein unvorhergesehenes Ereignis gewesen wäre, kann man es nur ertragen. In unserem Fall aber haben wir kurz nach Abfahrt des Zuges in Nürnberg eine leise Durchsage gehört, die vermutlich nicht für die Reisenden bestimmt war: „Dieser Zug kommt aufgrund einer Weichenstörung voraussichtlich statt um 16.55 erst gegen 19 Uhr in München an.“ Alle Reisenden hätten also locker noch in Dachau und damit vor der maroden Weiche umsteigen können und wären so nicht geschlagene vier Stunden von Nürnberg nach München unterwegs gewesen.

Es gibt Dinge im Leben, die kann man nicht ändern. Die großen Schwierigkeiten der Bahn gehören nicht dazu, denn die Ursachen sind bekannt: Es gibt zu wenig Züge, zu wenig Gleise und zu wenig Personal. Dabei fahren immer mehr Menschen mit der Bahn, allein im ersten Halbjahr 2024 waren es 919,2 Millionen Reisende. Die steigenden Fahrgastzahlen werden dem beliebten Deutschlandticket zugeschrieben, eigentlich ein Riesenerfolg. Viele verstehen nicht, warum ein Unternehmen, das zu 100 Prozent im Eigentum des Bundes ist, Gewinn machen soll. Die Bahn gehört doch zur wichtigsten Infrastruktur eines Landes, wertvoll und unverzichtbar. Autobahnen und Parkplätze erwirtschaften ebenfalls keinen Überschuss, und doch hat die Politik in den vergangenen Jahrzehnten vorzugsweise in sie investiert. Ich wünsche mir in der Politik endlich einmal eine leidenschaftliche Verkehrsministerin, Bahnfahrerin, die Bescheid weiß und das Beste für die Schiene rausholen will. Oder einen Finanzminister, der nachts nicht schlafen kann, weil er überlegt, woher er das so dringend benötigte Geld nehmen soll, etwa durch konsequentes Verhindern von Steuerbetrügereien oder durch Wiedereinführung einer Vermögenssteuer für große Vermögen. Abenteuerliche Vorstellung, aber warum eigentlich?

Herzlichst

Karin Lohr, Geschäftsführerin

BISS-Ausgabe Juli-August 2024 | Es blüht

Cover des BISS-Magazins Sommer 2024

Inhalt | Es grünt | Wir alle können München ein wenig grüner machen. Green City hilft dabei, dass der Anfang klappt. | 6 Grün statt grau: „Grünpat*innen“ machen München lebenswerter Haustür | 12 Es geht nicht nur um mehr Geld: Interview mit Anette Farrenkopf | 16 Kinderrathaus: Kinder gestalten die Stadt | 20 Boxen statt Knast: Die Work and Box Company hilft Jugendlichen zurück in die Gesellschaft | SCHREIBWERKSTATT| 5 Wie ich wohne | 26 BISS-Verkäufer*innen erzählen, was sie bewegt | Rubriken | 3 Editorial | 25 Patenuhren | 28 Freunde und Gönner | 30 Impressum, Mein Projekt | 31 Adressen

Wie ich wohne

Wer wohnt wie? In der Kolumne geben Menschen aus dem BISS-Netzwerk Einblicke in ihren Wohnalltag. Sie erzählen, wie sie früher gelebt haben, wie sie momentan wohnen und was sie sich für die Zukunft erhoffen.

Protokoll ANNELIESE WELTHER

Foto MARTIN FENGEL

Die mit den Farben spielt

Überall stehen Kräne und Bauzäune herum, nur die Straßen sind geteert, Gehsteige gibt es noch nicht. Das Viertel, in dem ich wohne, Freiham, befindet sich gerade im Aufbau. In meinem Haus fehlen Geländer, der Balkon vor meiner Haustür ist provisorisch mit Grobspanplatten befestigt. Auch drinnen in meiner Einzimmerwohnung ist alles nagelneu und in den Farben Weiß, Rot und Grau eingerichtet. Ich finde, die Kombination von Weiß und Rot erzeugt eine angenehme Stimmung. In Italien habe ich mal eine Wohnung in diesen Farben gesehen und war ganz angetan, nun bin ich froh, mich auch so einrichten zu können. Da ich zuvor in einer Pension wohnte, besaß ich beim Einzug keine Möbel und musste mir alles kaufen. Von BISS habe ich hierfür 1.500 Euro bekommen sowie auch Vorhänge, Lampen und eine kleine Küchenzeile. In der Pension war es mir in all der Enge nicht möglich, richtig zu kochen. Es ist toll, dass ich jetzt die Möglichkeit habe, Gäste zu bewirten und sie sogar bei mir übernachten zu lassen. So war vor Kurzem eine Freundin aus meinem Heimatland Rumänien da und hat mir Truthahnfleisch sowie selbst gemachte Marmeladen und Zacuscă mitgebracht, ein in Rumänien sehr beliebtes Mus aus Paprika, Auberginen und Tomaten. Mein gesamtes Gefrierfach ist voll von dem mitgebrachten Fleisch, das ich vor allem an Feiertagen zubereiten werde. Die Marmeladen und die Zacuscă lagere ich gemeinsam mit Kartoffeln, Zwiebeln und Knoblauch auf meinem Minibalkon, für mehr ist dort gar kein Platz. Neben der Balkontür in einem Regal sind ganz oben Fotos von meinen BISS-Kolleginnen und mir, darunter Familienfotos, auch von meinem Sohn, als er noch klein war, und ganz unten Heiligenbilder. Wenn ich nicht weiß, wie etwas funktioniert, zum Beispiel der Backofen oder die Waschmaschine, frage ich meinen BISS-Kollegen, der nur ein paar Türen weiter wohnt. So allein tue ich mir oft schwer, aber mir ist es unangenehm, den Kollegen ständig zu fragen. Zum Glück komme ich mit den anderen Nachbarn ebenfalls gut aus, sie haben mir zum Beispiel schon beim Einrichten des Internets geholfen. Es wohnen hier sehr nette Menschen, wir grüßen uns, selbst wenn wir uns nur aus der Ferne sehen. Als man mir sagte, dass ich diese Wohnung kriegen würde, konnte ich es nicht glauben; selbst als ich die Schlüssel bereits in den Händen hielt, wusste ich nicht, ob ich nicht doch träume. Für die immense Freude finde ich keine Worte. In Gedanken habe ich Gott gedankt. Jeden Tag, wenn ich nach Hause zurückkehre, bekomme ich richtig Gänsehaut. In der Wohnung ist alles, was ich brauche. Sogar mein mittlerweile 21-jähriger Sohn, der momentan eine Therapie macht, hat einen Schrank für später, wenn er wieder zu mir zieht. Nur eins muss ich mir noch zulegen: Teppiche. Ins Zimmer soll ein grauer und in den Eingangsbereich ein roter kommen.

Arbeiten und boxen statt Knast

Von BENJAMIN EMONTS
Fotos TOBY BINDER

Im Ring der Work and Box Company können die Jugendlichen nicht nur Energie abbauen, sondern lernen auch, die Deckung zu halten und nicht gleich wütend zu werden.

Standhaft bleiben. Die Deckung halten. Einstecken können, ohne gleich wütend zu werden. Das sind die ersten und wohl wichtigsten Lektionen, die der Sozialpädagoge Jürgen Zenkel seinen Schützlingen beim Boxen mit auf den Weg gibt. Im Ring, so seine Anweisung, neigen die Jugendlichen deshalb ihren Oberkörper leicht nach vorn, gehen mit den Beinen etwas in die Knie und halten ihre Fäuste zur Deckung vor das Gesicht. Das Ziel lautet stets: stabil stehen und stabil bleiben. Egal ob im Boxring – oder in der Welt da draußen. Denn genau damit haben die Jugendlichen die größten Probleme. Die Work and Box Company – so heißt das Projekt – ist inzwischen 21 Jahre alt. Sie nimmt sich junger Frauen und Männer im
Alter zwischen 15 und 21 Jahren an. Die meisten von ihnen sind gewaltbereit und bereits straffällig geworden. Sie kommen meist aus prekären familiären Verhältnissen und schleppen traumatische Erlebnisse mit sich herum, die zu Wut, Hass und Gewaltexzessen führen. Die Work and Box Company will diese Jugendlichen trotz aller Widrigkeiten zurück in ein geregeltes Leben führen: durch enge persönliche Betreuung, Arbeit, Unterricht – und eben auch Boxen.

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Ausgeraubt

EIN TEXT AUS DER SCHREIBWERKSTATT

Von Sorin Moga

Seit einigen Jahren lebe ich auf der Straße. Zwar hatte mich BISS in einer Wohngemeinschaft untergebracht, aber ich kam mit meinem Mitbewohner nicht zurecht. Um Streit aus dem Weg zu gehen, bin ich ausgezogen, seitdem bin ich obdachlos. Vielleicht hatte ich damals nicht recht gehabt, so zu handeln, es tut mir leid, aber ich bin auch nur ein Mensch, der Fehler macht. Möglicherweise kriege ich noch die Gelegenheit, irgendwo zu wohnen, vielleicht auch allein. Im April wurde ich leider Opfer eines Diebstahls. In der Nacht, als ich schlief, ich weiß nicht, zu welcher Zeit und wer es war, durchsuchte jemand meine Jacken- und Hosentaschen, im Glauben, ich hätte dort Geld. Das hatte ich jedoch woanders. Meine ganzen Papiere waren aber in einer Hosentasche. Als ich um vier morgens aufwachte, bemerkte ich, dass sie mir gestohlen worden waren. Am Vormittag ging ich gleich ins BISS-Büro. Ein Mitarbeiter von BISS half mir, neue Karten für die Krankenversicherung, die Bank und den MVV zu bekommen. Nur einen neuen Personalausweis konnte ich noch nicht beantragen, dafür muss ich nach Rumänien reisen. Das werde ich im August tun, wenn wir von BISS den Monat bezahlt bekommen, um Urlaub zu machen. Bis dahin nutze ich als Ersatz die Bescheinigung über die Erstattung einer Anzeige, die ich von der Polizei erhalten habe und auf der meine persönlichen Daten stehen, sowie eine Kopie des Ausweises, die zum Glück im BISS-Büro hinterlegt gewesen war. Ich bin sehr dankbar, dass mir BISS bei der Beschaffung meiner Dokumente so zur Seite gestanden hat.