„Außerordentlich leidenschaftliche Menschen“

Das Internationale Netzwerk der Straßenzeitungen (INSP) feiert 25-jähriges Jubiläum

Straßenzeitungsmacher aus aller Welt in Hannover

Interview HANNELE HUHTALA von der Finnischen Straßenzeitung „Iso Numero“, Mel Young, Gründer des INSP sowie des Homeless World Cup (HWC), im Gespräch mit Fay Selvan, Big Issue North und INSP-Vorstand Foto: Sebastian Sellhorst, Text: Margit Roth

Dieses Jahr feierten beim internationalen Treffen der Straßenzeitungen in Hannover gleich zwei Anwesende ihr 25-jähriges Jubiläum: Einmal die gastgebende Straßenzeitung Asphalt und der INSP selbst. Aus 25 Ländern schickten 50 Straßenzeitungen insgesamt 120 Delegierte. In den Workshops wurden Erfahrungen ausgetauscht und engagiert diskutiert. Auch wenn es nationale und regionale Besonderheiten gibt, so sind in allen Ländern diejenigen, die die Zeitungen verkaufen, von Armut und Obdachlosigkeit direkt betroffen oder bedroht. Alle Straßenzeitungen machen das Leben der Verkäufer besser, durch Einnahmen aus dem Verkauf, Vermittlung in medizinische Versorgung und Unterstützung bei der Wohnungssuche. Festanstellungen für Verkäufer bietet weltweit fast nur die BISS.

HANNELE HUHTALA (HH): Wie ging es mit INSP los?

MEL YOUNG (MY): Damals waren die ersten Straßenzeitungen in Großbritannien erfolgreich, andere Länder folgten dem Beispiel und gründeten ihre eigenen Zeitungen. Daraus entstand die Idee, uns zu treffen und auszutauschen. Außerdem gab es eine sehr erfolgreiche, pro- fit orientierte Straßenzeitung, deren Macher aber ziemlich fragwürdige Gestalten waren. Deshalb entschlossen wir uns, Verhaltensregeln zu entwickeln, damit unsere Leser wissen, wie wir arbeiten und was uns wichtig ist. Es gab also zwei Gründe: ein Netzwerk aufzubauen und unsere Werte zu formulieren und unseren Lesern zu erklären. Die Anfangsjahre waren ziemlich schwierig. Wir waren alle außerordentlich leidenschaftliche Menschen und wir waren uns in vielen Dingen nicht einig. Wir stritten uns manchmal bis aufs Messer. Ein Thema war beispielsweise, ob Werbung im Heft sein sollte oder nicht. Darüber konnten wir bis tief in die Nacht diskutieren. Irgendwann kamen wir dann zu dem Schluss, dass wir eine Organisation sind, in der es viele verschiedene Meinungen und Vorgehensweisen geben kann. Diese Einigung war die Basis von allem.

HH: Was ist das Besondere am INSP?

FAY SELVAN (FS): Das, was wir rund um den Globus tun, ist einzigartig. Die Personengruppe, für die wir arbeiten, ist in einem ständigen Wandel. Diejenigen, die die Ärmsten in einer Gesellschaft sind oder am meisten ausgeschlossen werden, ändern sich beständig. Deshalb sind wir so etwas wie ein gesellschaftliches Barometer. Auch wenn sich die Struktur unserer Klienten ständig ändert, sind wir beständig. Wir bieten jedem die Möglichkeit, eigenes Geld jenseits des geregelten Arbeitsmarktes zu verdienen. Deshalb sind wir so etwas wie ein Sicherheitsnetz für die Ärmsten.

HH: Welches sind die größten Herausforderungen für Straßenzeitungen heute?

FS: Bargeldloses Bezahlen und Auflagenrückgänge in manchen Regionen. Mit zunehmendem Alter lernt man aber, die Dinge besser einzuordnen. Als Videos auf den Markt kamen, prophezeiten alle den Untergang von Kinos. Es gibt sie immer noch, denn sie erfüllen auch eine soziale Aufgabe. Genauso ist es mit Straßenzeitungen. Wir bringen Menschen, die Gutes tun wollen, und Menschen, die Hilfe benötigen, in Kontakt. Dabei ist es keine Beziehung zwischen Bettler und Wohltäter, sondern zwischen Verkäufer und Käufer. Diese soziale Komponente dürfen wir nicht aus den Augen verlieren. Sie ist es, die Straßenzeitungen einzigartig macht. Wir werden uns gegenüber technischen Weiterentwicklungen nicht verschließen können, aber wir dürfen nicht vergessen, dass es das Zwischenmenschliche ist, das im Mittelpunkt stehen muss.

HH: Es gibt sehr viele unterschiedliche Arten von Straßenzeitungen, und an manchen Stellen herrscht immer noch Uneinigkeit darüber, welcher Weg der richtige ist. Warum ist es so schwierig, dafür einen Konsens zu finden?

MY: Das ist ganz einfach – wir arbeiten alle in sehr verschiedenen Kulturen und Ländern. Auch wenn es oft schwierig ist zu verstehen, aus welchem Grund im jeweiligen Land so und nicht anders vorgegangen wird, über die Grundwerte sind wir uns einig. Wichtig ist es nur, in der Unterschiedlichkeit auch eine Chance zu sehen und voneinander zu lernen. Solange wir alle das Wohl der Verkäufer im Blick behalten, sind wir als Netzwerk effektiv. HH: Zurzeit gibt es viele politische und gesellschaftliche Veränderungen. Wie beeinflusst das die Straßenzeitungen?

FS: In Großbritannien sind durch den Brexit vor allen Dingen unsere rumänischen Verkäufer betroffen. Sie sind nach England gekommen, um Geld zu verdienen und ein besseres Leben führen zu können. Durch den Brexit sind sie sehr verunsichert. Sollten unsere rumänischen Verkäufer England verlassen müssen, hätte das massive Auswirkungen auf die Straßenzeitungen. Ein anderes drängendes Thema sind die durch den Brexit anwachsende Fremdenfeindlichkeit, der zunehmende Populismus und die Ablehnung, mit der arme Menschen immer mehr konfrontiert werden. Wir haben aktuell einen Prime Minister, der nicht nur Menschen, die anders sind, respektlos behandelt, sondern auch deren Rechte untergräbt. Es ist sogar zu befürchten, dass der Human Rights Act aufgekündigt wird. Laut Statistik hat die Kindersterblichkeit 2019 in Großbritannien zugenommen. Zum ersten Mal seit ungefähr 100 Jahren sterben im ersten Lebensjahr mehr Babys als in den folgenden Lebensjahren. Die Situation verschlechtert sich in England zunehmend.

MY: Ich würde mich Fay gern anschließen. Die politischen Entwicklungen gehen über England hinaus. Es betrifft ganz Europa, wenn nicht die ganze Welt. Wir als Straßenzeitungen müssen uns dagegen auflehnen und kämpfen. Eine rassistische, sexistische Ideologie wie die, die durch den Brexit offenkundig geworden ist und auch von Donald Trump vertreten wird, widerspricht dem, wie wir uns Gesellschaft vorstellen. Wir wissen, was in Deutschland in den 1930ern passiert ist. Obdachlose wurden kriminalisiert. Noch sind Menschen, die diese Position wieder vertreten, in der Minderzahl. Darum ist es jetzt wichtig, aufzustehen und dagegen anzukämpfen. Die Aufgabe der Straßenzeitungen ist es, bei all den Dis- kussionen um Fake News vertrauenswürdigen, investigativen Journalismus zu machen. Die Menschen sind verunsichert, was sie noch glauben sollen, und fallen auf Propaganda herein. Das, was in Straßenzeitungen steht, ist deshalb sehr wichtig. Wir müssen uns gegenseitig unterstützen und für die Pressefreiheit kämpfen.

HH: Schließt das für euch auch ein, Demonstrationen zu organisieren?

MY: Ich sehe es nicht als meine Aufgabe, Demos zu organisieren. Ich denke vielmehr, dass wir das Mittel des Journalismus nutzen müssen, indem wir uns auf guten, investigativen Journalismus konzentrieren. Momentan gehen bei vielen Straßenzeitungen die Verkaufszahlen zurück. Ich denke, das wird sich wieder ändern, wenn wir uns auf guten, investigativen Journalismus konzentrieren. Es gibt so viele Projekte und positive Entwicklungen, die es wert sind, darüber zu berichten, und dringend Aufmerksamkeit benötigen. Das ist es, was die Menschen lesen wollen.

HH: Mit welchen Herausforderungen sind Straßenzeitung noch konfrontiert?

FS: Ein großer Wandel besteht darin, wie Menschen einkaufen. Menschen kaufen mehr online, deshalb verwaisen frühere Stadtzentren. Verkäufern fehlt dadurch die Laufkundschaft. In England sind Shoppingcenter sehr populär. Die Einkaufszentren sind in Privatbesitz, unsere Verkäufer dürfen dort nicht verkaufen. Für Verkäufer wird es dadurch immer schwieriger, mit ihren Käufern in Kontakt zu kommen. Wir müssen innovativ sein und Wege finden, damit unsere Verkäufer und die Leser wieder zusammenfinden.

MY: Wenn ich sehe, wie sich die jungen Menschen für den Klimaschutz einsetzen, bin ich überzeugt davon, dass nicht alles schlecht und aussichtslos ist. Diese jungen, politisch engagierten Menschen sind die Straßenzeitungskäufer von morgen. Von uns wird es abhängen, weiterhin präsent zu bleiben und neue Verkaufsstrategien zu finden. Unsere wichtigste Aufgabe ist es, über Armut und Obdachlosigkeit zu schreiben. Die Situation für obdachlose Menschen war vor 10, 15 Jahren schon einmal deutlich besser. Wir müssen darüber schreiben, welche politischen Veränderungen notwendig sind, welche Strukturen geändert werden müssen, um Armut zu bekämpfen. Unser Ziel ist es, uns überflüssig zu machen, aber das wird wohl noch einige Zeit dauern.

Zu Besuch bei der Montrealer Straßenzeitung „L’Itinéraire“

Zwischen Montreal und München liegen über 6.000 Kilometer. In Montreal sind es jedoch die Gemeinsamkeiten, die zuerst ins Auge fallen. In beiden Städten wurden in den 1970er-Jahren Olympische Spiele ausgetragen, in beiden Städten wird es im Winter ziemlich kalt, und wie die BISS blickt auch die Montrealer Straßenzeitung „L’Itinéraire“ (dt. Obdachlose) auf eine fast 25-jährige Geschichte zurück. Ich bin mit der Chefredakteurin Josée Panet-Raymond verabredet, um von ihr mehr über die Situation der Obdachlosen in Montreal zu erfahren.

von Margit Roth

Wann wurde „L’Itinéraire“ gegründet?

Die ersten Anfänge gab es 1989, in einer Zeit, in der es dreimal so viele Obdachlose in Montreal gab wie heute. Ein Mitarbeiter einer Obdachloseneinrichtung ermunterte Obdachlose dazu, über ihre Erlebnisse und Erfahrungen zu schreiben. Dann kam es zu einer Art Schneeball­ Effekt. Begonnen hat es also 1989 mit vier fotokopierten Seiten, 1992 wurde daraus ein kleines Journal und 1994 die Straßenzeitung „L’Itinéraire“.

Wie viele Menschen arbeiten heute für „L’Itinéraire“?

Die Straßenzeitung erscheint zweimal im Monat mit einer Auflage von jeweils ca. 15.000 Stück. Momentan sind ungefähr 120 Verkäufer in Montreal und fünf kleineren Städten im Umland unterwegs. In der Redaktion und im Café arbeiten 14 Angestellte, vier davon im Rahmen eines Reintegrationsprogramms, und viele Ehrenamtliche. Einige der Angestellten waren früher selbst obdachlos.

Wie viele Menschen leben in Montreal auf der Straße?

Laut einer Erhebung im letzten Jahr gibt es in Montreal 3.016 rough sleeper, also Menschen, die draußen schlafen. Über die tatsächlichen Zahlen lässt sich jedoch schwer etwas sagen. Besonders obdachlose Frauen kommen mal hier, mal dort irgendwo unter. Sie leben nicht auf der Straße, haben aber auch keine eigene Wohnung. Die Winter in Montreal sind sehr kalt und lang.

Dürfen Obdachlose in Montreal in der Underground City, also der Stadt unter der Stadt, oder der U-Bahn schlafen?

In Montreal gibt es vier große Notschlafstellen und einige kleinere Einrichtungen. Es gibt aber immer wieder Menschen, die es ablehnen, in diese Notunterkünfte zu gehen. Diese Menschen leiden häufig unter schweren psychische Erkrankungen und wollen auf keinen Fall in eine Notschlafstelle. Wenn die Temperaturen unter minus 20 Grad fallen, erlauben die Verkehrsbetriebe, dass Menschen dort übernachten. In sehr kalten Nächten sind städtische Angestellte und Ehrenamtliche in der Stadt unterwegs und versuchen, Obdachlose davon zu überzeugen, dass es lebensgefährlich ist, draußen zu bleiben. In einem extra dafür bereitgestellten Bus können sich Obdachlose wenigstens aufwärmen. Während wirklich kalter Phasen werden darüber hinaus zusätzliche Notschlafstellen angeboten.

Der jetzige linksliberale Premierminister Justin Trudeau ist auch in Deutschland bekannt und beliebt. Hat sich durch seine Wahl die Situation für Obdachlose in Kanada geändert?

Trudeau ist sehr viel fortschrittlicher, als es sein Vorgänger Stephen Harper von der Konservativen Partei war. Trudeau hat die Mittel für das Housing First Program spürbar erhöht. Regionalgruppen und Obdachlosenorganisationen sehen darin einen Schritt in die richtige Richtung. Aber es ist immer noch viel zu tun. In der Provinz Québec hat die Provinzregierung zwar mehr Wohnungen für Wohnungslose und Arme bereitgestellt, das angestrebte Ziel aber noch nicht erreicht. Nach der Wahl Trumps gab es zahlreiche Berichte, dass Bürger aus den USA nach Kanada auswandern.

Um welche Art von Migranten handelt es sich?

Zurzeit kommen die meisten Asylsuchenden, die aus den USA weggehen, ursprünglich aus Haiti. Sie haben Angst davor, von Trump nach Haiti zurückgeschickt zu werden. Außerdem haben wir viele Menschen aus Syrien und Somalia aufgenommen. In den Sommermonaten sind Migranten aus den USA zu Tausenden über die grüne Grenze aus dem Staat New York in die Provinz Québec gekommen. In den USA gab es Gerüchte, dass Flüchtlinge in Kanada in jedem Fall akzeptiert werden würden. Fakt ist jedoch, dass jeder Einzelfall geprüft wird und es keineswegs sicher ist, dass ein Antrag positiv beschieden wird. Momentan bekommen Migranten bei uns in jedem Fall Sozialhilfe und eine Krankenkassenkarte. Wie ihre Zukunft aussehen wird, ist jedoch noch sehr unsicher. Kanada ist ein sehr offenes Land. Wir haben beispielsweise im letzten Jahr 25.000 Syrer aufgenommen. Es wird jedoch bei jedem Migranten sehr genau geprüft, ob er oder sie zu Kanada passt. Vorbestrafte und Terroristen werden sofort des Landes verwiesen.

Verkaufen mittlerweile auch Flüchtlinge die Straßenzeitung?

Nein, bislang nicht. Das könnte sich jedoch in den nächsten Jahren ändern.

Nach vielen spannenden Begegnungen, intensiven Gesprächen, einer herzlichen Verabschiedung und dem Versprechen, sich beim nächsten ISNP-Kongress wiederzusehen, fahre ich ein wenig traurig zum Flughafen.

Internationales Treffen der Straßenzeitungen in Manchester

127 Delegierte aus 28 Ländern trafen sich zum diesjährigen INSP-Kongress in Manchester. Vier Tage lang wurden Konzepte diskutiert, Erfahrungen ausgetauscht und Kooperationen vereinbart.
Einmal im Jahr treffen sich Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter von Straßenzeitungen, um über Herausforderungen zu sprechen, Lösungsstrategien zu entwickeln, sich persönlich auszutauschen und immer auch, um sich Mut zuzusprechen. Der diesjährige Kongress fand in Manchester statt. Manchester versteht sich als Arbeiterstadt, als Keimzelle gesellschaftlicher Umbrüche – die Industrialisierung Englands nahm hier ihren Anfang. Die Innenstadt Manchesters, noch vor zwanzig, dreißig Jahren ein Moloch aus Dreck und Ruß, ist in den vergangenen Jahren für Spekulanten und Investoren interessant geworden. Ähnlich wie in deutschen Innenstädten steigen die Mieten sprunghaft an. „Big Issue North“, die Straßenzeitung für den Norden Englands, versucht seit 25 Jahren, obdachlosen Menschen eine Perspektive, insbesondere durch die Möglichkeit, selbst Geld zu verdienen, zu bieten. Als eine der ältesten und größten Straßenzeitungen hat sich „Big Issue North“ dieses Jahr bereit erklärt, den Kongress zu organisieren. Wie schon auf den früheren INSP-Kongressen ist es den Organisatoren auch dieses Jahr wieder gelungen, hochkarätige Redner einzuladen. Sie kommen, weil sie die Arbeit der Straßenzeitungen schätzen und die Chance nutzen, vor weltweit gut vernetzten Multiplikatoren zu sprechen. Den Auftakt machte Prof. Richard Wilkinson. Er sprach über die Auswirkungen auf alle Mitglieder einer Gesellschaft, wenn die Schere zwischen Arm und Reich sich zu weit öffnet. Neil McInroy, Leiter eines Thinktanks, der weltweit Kommunen berät, legte seinen Fokus auf die Gestaltung einer gerechteren Gesellschaft. Sein Credo: Denke global und weltoffen, kaufe lokal und stelle sicher, dass Unternehmen, vor allem Großunternehmen und Großverdiener, ihre Steuern zahlen. Über ein sehr konkretes und in zunehmendem Maße unkontrollierbares Problem unterhielten sich der Chefredakteur von „Big Issue North“, Kevin Gopal, und Michael Linnell. Linnell organisierte mehr als 30 Jahre lang Anti-Drogen-Kampagnen und koordiniert nun Englands „DrugWatch“-Programm. Linnel schilderte auf sehr eindrucksvolle Weise, welche Gefahren in den chemischen Drogen liegen, die auf der Straße billig zu bekommen, deren Zusammensetzung und Wirkung jedoch weder von den Konsumenten noch von den Ärzten und Therapeuten vorhersehbar sind. Ein absolutes Highlight des Kongresses sind die INSP-Awards, die in verschiedenen Kategorien wie Fotografie, Cover, Design und Kampagne vergeben werden. Ausgezeichnet werden herausragende Beiträge, die für alle anderen Zeitungen Vorbild und Inspiration sein können. Es ist beeindruckend, zu sehen, mit welchem Engagement und mit welcher Kreativität Journalisten und Designer aus Mexiko, Slowenien und anderen Ländern mit teils schwierigen lokalen Bedingungen brillante Ergebnisse erzielen. Viele Teilnehmer sehen sich nur einmal im Jahr an diesen vier Tagen. Die Freundschaften und Kooperationen, die in diesen Tagen geschlossen werden, wirken aber weit darüber hinaus. Nach vielen Umarmungen fahren alle wieder nach Hause und werden versuchen, für die Verkäufer und Leser eine noch bessere Zeitschrift zu machen.
Von MARGIT ROTH
Feste Arbeitsplätze für Straßenzeitungsverkäufer – ein bisschen was geht immer!
BISS-Kooperation mit Straßenzeitung „Kralji ulice“ in Slowenien und „Lice v lice“ in Mazedonien

Im Grunde genommen habe ich es den INSP-Straßenzeitungen zu verdanken, dass ich die meisten Staaten Osteuropas und des ehemaligen Jugoslawiens genau auf einer Landkarte platzieren kann. Denn auf jedem der INSP-Treffen der vergangenen Jahre fielen sie positiv auf, die smarten und sehr engagierten Mitarbeiter der Straßenzeitungen vom „Balkan“, wie wir untereinander gelegentlich scherzten. So waren als Erstes die Kollegen von „Lice v lice“ in Mazedonien ernsthaft daran interessiert, einen oder besser noch zwei ihrer Verkäufer fest anzustellen. Im Vorfeld ging es lange Zeit hin und her, per E-Mail und in ausführlichen Gesprächen, insbesondere über die eher schwierigen sozialrechtlichen Rahmenbedingungen in Mazedonien. So wie wir es verstanden haben, verliert ein Mensch dort sofort alle Sozialleistungen, wenn er eine bezahlte Arbeit annimmt. Das gilt auch, wenn er zunächst nur einen geringen Betrag hinzuverdient und zumindest für den Übergang beide Einkommensquellen bräuchte. Trotzdem ging das Projekt im vergangenen Jahr voran, und es wurde ein Verkäufer fest angestellt. In diesem Jahr folgte die Straßenzeitung „Kralji ulice“ in Slowenien, die inzwischen sogar zwei Verkäufer fest angestellt hat. In Slowenien sind die Rahmenbedingungen besser, denn das Land gehört zur EU, und Ljubljana, der Standort der Straßenzeitung, ist eine prosperierende Stadt mit viel Tourismus und Kultur. Darüber hinaus hat die slowenische Straßenzeitung eine vergleichsweise stabile verkaufte Auflage von 16.000 Exemplaren monatlich und ist gut in das Hilfesystem vor Ort eingebunden. Allen Beteiligten geht es vor allem darum, dass die Straßenzeitung in ihrem Land praktische Erfahrungen mit der Festanstellung ihrer Verkäufer macht. Das BISS-Modell dient dabei als Orientierung, muss aber in dem jeweiligen Land im Detail gestaltet werden. Was jedoch alle Straßenzeitungen in der Welt gemeinsam haben, sind ihre Verkäufer. Es sind Menschen, die in einer extremen Notlage Hilfe brauchen. Manche bleiben nur kurze Zeit, für viele jedoch bleibt der Verkauf der Straßenzeitung die einzige Möglichkeit, ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Für diesen Personenkreis müssen die Straßenzeitungen richtige Arbeitsplätze schaffen, wenn sie ihre Glaubwürdigkeit im Kampf gegen Obdachlosigkeit und Ausgrenzung nicht verlieren wollen. Wir BISSler freuen uns sehr darüber, unsere Projektpartner unterstützen zu können. Mittel- bis langfristig bauen wir darauf, dass sich wie in München auch in den anderen Ländern Paten, die einen Teil der Lohnkosten übernehmen, für die dort angestellten Verkäufer finden werden.
Summary in English for our friends in Skopje and in Ljubljana:
The Munich streetpaper BISS proudly presents a cooperation with the streetpapers „Lice v lice“ in Mazedonia and „Kralji ulice“ in Slowenia. Until now BISS is the only streetpaper, which employs most of the vendors. With the support of BISS „Lice v lice“ and „Kralji ulice“ started a project to test employment amongst their vendors. This should bring poor and homeless people back into society and offer them not only an income, but also the opportunity of contact and communication.
Von KARIN LOHR

„We don’t need no education? – Yes, we do!“

Text  MARGIT ROTH
Mzoxolo Mtila steht in seiner blauen Weste vor der Cape Peninsula University of Technology in Kapstadt. Seit einem Jahr verkauft er hier die „The Big Issue South Africa“. Er hofft, dass vielleicht auch seine Kinder irgendwann zu den Menschen gehören, die durch die Tür der Universität gehen können, und nicht mehr davorstehen müssen. Die Chancen dafür, und das weiß auch Mzoxolo Mtila, stehen in Südafrika auch mehr als 20 Jahre nach Ende der Apartheid schlecht. Seine Familie lebt in Centani, einem Dorf am Eastern Cape, irgendwo zwischen Port Elizabeth und Durban. Mzoxolo Mtila hat dort als Tankwart gearbeitet und hat versucht, mit seinem Gehalt seine Familie zu ernähren.
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Die Unsichtbaren von Kamagasaki

big_jssue_sw1Von Margit Roth
Herr Tanaka lebt auf einem kleinen Stück Karton. Neben dem Karton stehen zwei Plastiktüten mit seinen Habseligkeiten. Mehr hat er nicht, und mehr könnte er auch nicht tragen. Den Tag verbringt Herr Tanaka meistens im Airin Welfare Center, geschützt vor Sonne, Kälte und den Blicken der Passanten. Um 18 Uhr wird das Welfare Center geschlossen. Wenn das Wetter schlecht ist, stellt sich Herr Tanaka in die Schlange, um sich ein Ticket für einen der kostenlosen Schlafplätze in einer Obdachlosenunterkunft zu besorgen. Bei gutem Wetter schläft er irgendwo dort, wo ihn niemand sieht. Das Welfare Center ist kein heimeliger Ort. In der großen Halle ist es auch tagsüber dämmrig, die Wände sind dunkelgrau, die Farbe an vielen Stellen abgeblättert. Die Tür zur Männertoilette steht offen, ein strenger Geruch liegt in der Luft. Trotz der vielen Menschen im Raum ist es unheimlich still. Sie unterhalten sich nicht, sie spielen nicht Karten und hören auch keine Musik – sie sitzen einfach nur auf ihren Kartons und starren ins Leere. Morgens in aller Frühe werden im Welfare Center die Jobs vergeben. An den Säulen hängen gelbe, orange und rote Zettel mit Angeboten. Gesucht werden junge Bauarbeiter für einen Tag oder auch für Wochen. Neben der Anzahl der Tage, für die ein Mitarbeiter gesucht wird, steht das Gehalt auf dem Zettel, meist um die 10.000 Yen am Tag, also 88 Euro, und vor allen Dingen auch, wie viel vom Gehalt bei längeren Jobs für den Schlafplatz gleich einbehalten wird. Eine Wahl haben die Arbeiter nicht – wer den Job will, muss für einen schäbigen Matratzenplatz fast ein Viertel des Lohns wieder abgeben. Früher wurde Herr Tanaka häufig von den Anwerbern ausgewählt. Er kam vom Land, war es gewohnt zu arbeiten und war sich für keine Arbeit zu schade. Die Zeiten sind vorbei – für einen 60-Jährigen hat keiner mehr Verwendung.
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