Inhalt | Solidarisch| Wissen, woher das Essen kommt. Beim Kartoffelkombinat kann man den Pflanzen beim Wachsen helfen. | 6 Solidarisch, gesund, lecker: Gemeinsam Gemüse anbauen | 12 Tablettenabhängigkeit: Vom Heilmittel zum Suchtmittel | 16 Ein Platz zum Leben: Wohnen für psychisch kranke junge Erwachsene | 20 Haus ANNA: Kinderhospiz | 5 Wie ich wohne | 26BISS-Verkäufer*innen erzählen, was sie bewegt | Rubriken | 3 Editorial | 25 Patenuhren | 28 Freunde und Gönner | 30 Mein Projekt, Impressum | 31 Adressen
Wer wohnt wie? In der Kolumne geben Menschen aus dem BISS-Netzwerk Einblicke in ihren Wohnalltag. Sie erzählen, wie sie früher gelebt haben, wie sie momentan wohnen und was sie sich für die Zukunft erhoffen.
Der Millionär
Protokoll ANNELIESE WELTHER
Foto MARTIN FENGEL
Gerade günstig ist meine Wohnung nicht: Für das etwa zwölf Quadratmeter große Zimmer, die Kochzeile, das Bad und den Balkon zahle ich schlappe 1.200 Euro warm pro Monat, meine Freundin zahlt 700 und ich 500. Trotzdem ist die Wohnung für mich super. Zum einen ist sie zentral gelegen, in der Nähe vom Goetheplatz, so ist meine Freundin schnell bei ihrem Job. Das ist wichtig, denn sie arbeitet bei den Toiletten am Marienplatz und fängt um sechs Uhr morgens an. Normalerweise stehen wir um fünf Uhr auf und machen uns gemeinsam auf den Weg. Ich bin auf ihre Hilfe angewiesen, da ich im Rollstuhl sitze. Mein rechter Arm ist gelähmt und in den Beinen habe ich gerade mal so viel Kraft, dass ich nur sehr kurze Wege in meiner Wohnung bewältigen kann. Blöd ist, wenn der Fahrstuhl mal nicht funktioniert, dann muss mir jemand die Treppe runterhelfen. Zum Glück – und das ist auch ein Pluspunkt für die Wohnung – liegt sie im ersten Stock. Bin ich erst einmal bei der S-Bahn, komme ich allein zurecht. Mein Verkaufsplatz ist in Erding vor einem großen Supermarkt. Um 15 Uhr holt mich meine Freundin ab, bringt mich nach Hause und geht zu ihrem Minijob. Aufgewachsen bin ich in einem Haus mit acht Zimmern, da mein Großvater vermögend war. Später hatte ich ganz normale Wohnungen mit drei bis vier Zimmern. Als ganz junger Mann betrieb ich Schwarzhandel, geriet dann etliche Jahre später unglücklich in eine Schlägerei, und so kam es, dass ich zweimal im Gefängnis saß. Immer wieder rappelte ich mich auf, hatte schließlich Fuß gefasst im Obst- und Gemüsehandel. Doch dann sperrte meine Frau mich aus der gemeinsamen Wohnung aus. Hinzu kam die Lähmung, die plötzlich auftrat und deren Ursache ich nie richtig erfahren habe. Bevor ich hier einzog, lebte ich in einer Unterkunft ganz in der Nähe. Dort habe ich für ein kleineres und schäbigeres Zimmer 1.500 Euro bezahlt. Außerdem durfte ich auch nur allein wohnen, meine Freundin konnte mich nur abholen und zurückbringen. In ganz München haben wir gesucht, viele Unterkünfte waren in einem katastrophalen Zustand. Zufällig fanden wir im Internet die Adresse dieses Hauses, und weil wir die Kaution gleich zahlen konnten, haben wir das Appartement bekommen. Zwar ist die Fluktuation sehr hoch – vor drei Jahren sind wir eingezogen und kaum einer unserer damaligen Nachbarn ist noch da –, aber alle gehen respektvoll miteinander um. Außerdem ist es sauber und gepflegt, der Eingangsbereich im Erdgeschoss ist sogar ein bisschen schick. Das Wichtigste für mich ist, dass ich meine Ruhe habe. Wir meckern nicht herum und die Hausverwaltung lässt uns auch in Frieden. Es gibt hier auch nicht Aushänge mit tausend Hausregeln, niemand klopft andauernd an die Tür oder schreit auf dem Gang herum. Drinnen bei uns ist es ein bisschen eng. Wir haben ein großes Bett, auf dem ich meistens liege, einen schmalen Kleiderschrank und einen Tisch mit zwei Klappstühlen, zu mehr reicht der Platz nicht. Überall, selbst über der Badewanne, hängen unsere Kleider. Meinen Rollstuhl stelle ich auf den Balkon. Für mich ist das alles aber Luxus, ich fühle mich hier wie ein Millionär.
Tabletten können helfen. Aber nicht jeder weiß: Sie können auch abhängig machen, wenn man sie zu lange oder falsch einnimmt. Besonders gefährlich sind bestimmte Schmerz-Tabletten und einige Schlaf- und Beruhigungsmittel. Schon kleine Mengen können schnell abhängig machen.
Oliver Gast, Foto: Tanja Kernweiss
Etwa 2,9 Millionen Menschen in Deutschland sind betroffen: Sie nehmen Medikamente zu oft, zu lange oder falsch ein. Viele sind von den Medikamenten abhängig und merken das oft erst spät.
Zum Beispiel wurden im Jahr 2022 bestimmte Schlafmittel sehr oft verschrieben. Der Wirkstoff darin heißt Eszopiclon. Man sollte Eszopiclon nur kurze Zeit einnehmen. Es kann schnell abhängig machen.
Prof. Dr. Ulrich Zimmermann ist Psychiater und Chefarzt der Klinik für Suchtmedizin und Psychotherapie in Haar. Er sagt:
„Man muss wissen, dass Medikamente abhängig machen können. Davon wieder loszukommen, ist schwer. Sehr schwer.“
Man kann davon schnell körperlich und seelisch krank werden. Zuerst helfen die Medikamente.
Und man merkt oft gar nicht, dass man sie schon zu lange einnimmt. Oder auch zu viel davon.
Dann können Medikamente zu Drogen werden. Sogar Schmerzmittel wie Ibuprofen und Hustenmittel sind gefährlich.
Fachleute sagen schon seit einiger Zeit: Probleme mit Medikamenten müssen ernster genommen werden. Auch die Politik muss sich darum kümmern.
Im Jahr 2021 haben Fachleute neue Empfehlungen herausgegeben. Sie erklären, warum Medikamente gefährlich sein können und wie man besser damit umgehen kann. Die Tipps helfen Ärzt*innen und anderen Fachleuten. Und auch den Patient*innen. Viele Hausärzt*innen verschreiben Medikamente, die süchtig machen können. Sie verschreiben die Medikamente oft über eine lange Zeit. Deshalb sagen Fachleute: Es muss klare Regeln geben, wann solche Medikamente wirklich nötig sind. Außerdem soll die Menge regelmäßig überprüft werden. Wichtig ist auch: Ärzt*innen sollen die seelische und soziale Situation der Patient*innen beachten. Und die Medikamente rechtzeitig wieder absetzen.
Zum Beispiel nehmen auch viele ältere Menschen über viele Jahre bestimmte Schlafmittel.
Prof. Dr. Ulrich Zimmermann sagt: „Das kann 20 Jahre lang gut gehen. Aber dann wird man mit dem Alter vielleicht vergesslich und nimmt das Medikament zu oft ein. Dadurch wird einem zum Beispiel schwindelig und man stürzt.“
Im Auftrag des Gesundheitsministeriums wurde in den Jahren 2022 und 2023 eine Studie gemacht. Darin wurde geschaut, wie oft Jugendliche und junge Erwachsene Beruhigungs- oder Schmerzmittel nehmen. Die Studie zeigt: Viele junge Menschen, die solche Medikamente nehmen, probieren auch andere Drogen aus.Viele junge Menschen fühlen sich seit der Corona-Zeit seelisch schlechter. Auch andere Krisen auf der Welt machen ihnen Sorgen. Deshalb greifen manche öfter zu starken Beruhigungs- oder Schmerzmitteln.
Prof. Dr. Ulrich Zimmermann sagt:
„Angst-Störungen und Depressionen kann man gut behandeln. Mit Medikamenten und mit Therapie.„
Aber die Patienten müssen auch mitmachen. Denn oft ist es so: Wenn sich die Patienten durch die Medikamente besser fühlen, dann wollen sie oft keine Therapie. Sie wollen sich nicht darum kümmern, warum es ihnen schlecht ging. Denn eine Therapie kann auch anstrengend sein und lange dauern. Außerdem ist es schwierig, einen Therapeuten zu finden.“
Auch Oliver Gast nimmt seit vielen Jahren starke Medikamente. Zuerst haben ihm die Medikamente geholfen, von seiner Alkohol-Sucht loszukommen. Doch dann wurden die Medikamente zum Problem. Oliver Gast ist 56 Jahre alt. Er hatte einen guten Job und Familie.
Vor 20 Jahren bekam er plötzlich Panik-Attacken. Ein Arzt stellte eine schwere Depression bei ihm fest. Oliver Gast bekam Medikamente und begann eine Therapie. Aber er nahm die Medikamente dann nicht, sondern trank Alkohol. Zuerst Bier, später stärkeren Alkohol. Dann musste er einen Alkoholentzug machen. Dafür bekam er ein starkes Medikament. Oliver Gast erzählt: „Mit dem Medikament fühle ich mich ein bisschen beschwingt. Es ist angenehm, fast wie ein leichter Schwips.“
So wurde er zwar den Alkohol los, wurde aber nach und nach abhängig von den Medikamenten.
Mit den Folgen kämpft er bis heute. Zum Beispiel fällt es ihm schwer, sich zu konzentrieren. Aber insgesamt geht es ihm besser. Er ist zuversichtlich und er hat wieder Pläne für sein Leben. Durch die Medikamente ist auch seine Depression nicht mehr so schlimm. Vielleicht beginnt er bald eine Psychotherapie. Aber es muss ihm körperlich erst einmal besser gehen. Er hat Brüche in seinen Füßen und braucht deshalb Krücken.
Oliver Gasts Geschichte zeigt:
Man kann sehr schnell von Medikamenten abhängig werden. Man muss sich dafür nicht schämen. Aber man sollte sich Hilfe holen!
Woran erkenne ich, ob ich von Medikamenten abhängig bin?
Zum Beispiel:
Ich nehme mehr Medikamente als geplant oder ich nehme sie länger als geplant.
Ich schaffe es nicht, weniger Medikamente zu nehmen.
Ich habe ein starkes Verlangen, das Medikament zu nehmen.
Ich denke oft an das Medikament oder verbringe viel Zeit damit, es zu bekommen.
Ich vernachlässige deswegen meine Arbeit, Hobbys, Familie oder Freunde.
Ich brauche immer mehr von dem Medikament, damit es wirkt.
Wenn ich das Medikament nicht nehme, fühle ich mich körperlich schlecht.
Zum Beispiel: Ich zittere oder ich schwitze.
Haben Sie das Gefühl, das trifft auf Sie zu?
Dann holen Sie sich so früh wie möglich Hilfe.
► Sprechen Sie mit Ihrem Arzt oder Ihrer Ärztin.
► Oder lassen Sie sich in einer Suchtberatungsstelle beraten.
► Erste Hilfe im Internet findet man bei der Deutschen Hauptstelle für Suchtfragen e.V.:
Es sind schon 20 Jahre vergangen seit dem tragischen Ende eines außergewöhnlichen Lebens. Für uns BISSler wird Rudolph Moshammer unvergesslich bleiben. Er hat an dem Projekt BISS von Anfang an mitgewirkt. Mit seinem Verein unterstützt er die Festanstellung von BISS-Verkäufern heute noch. Mir bleibt die Erinnerung an sein Geschäft in der Maximilianstraße. Es waren die Jahre 1996 bis 1998, als es mir finanziell nicht gut gegangen ist und ich immer wieder auf der Maximilianstraße entlang gegangen bin. Das hat meiner Seele gutgetan, für einen Augenblick konnte ich meine Not vergessen. Besonders beeindruckt war ich, dass vor dem Moshammer-Geschäft „Carnaval de Venise“ immer Menschen stehen geblieben sind. Ein paar Mal konnte ich ihn auch persönlich aus der Ferne sehen. Heute, wenn ich mit der Tram 21 vorbeifahre, blicke ich immer noch dorthin, wo sein Laden war, und stelle fest, dass nicht nur das Geschäft nicht mehr da ist, die Maximilianstraße ist auch nicht mehr das, was sie mal war. Sie ist zwar noch schön, aber steril, ohne Seele, an jeder Ladentür ist ein Aufpasser. Vielleicht muss das in dieser Zeit heute so sein, aber schön ist das nicht. Jetzt, Anfang Februar, habe ich im Fernsehen eine Spezialausgabe der BR-Reihe „Lebenslinien“ zu Moshammers Todestag gesehen. Beeindruckt hat mich in einem dort gezeigten Interview seine Antwort auf die Frage eines Journalisten, in der er erklärt, dass er sich nicht als homosexuell bezeichnen will, weil er sich nur in die Seele des Menschen verliebt, egal ob es ein Mann oder eine Frau ist. Ich glaube, es geht mir auch so. Ruhe in Frieden.
Karin Lohr, BISS-Geschäftsführerin, Foto: Volker Derlath
Mir ist der Slogan „Print wirkt“ das erste Mal begegnet, als ich vor vielen Jahren bei einem Münchner Meinungsforschungsinstitut gearbeitet habe. Demzufolge sind Anzeigen in Zeitungen und Zeitschriften besonders wirksam, was auch heute noch zutrifft, obwohl sich die Medienlandschaft seitdem stark verändert hat. Bei BISS wirkt Print noch einmal ganz anders, denn das gedruckte Magazin hilft den Menschen, die es verkaufen, ihre besonderen sozialen Schwierigkeiten zu überwinden. Gerade in den Sommermonaten ist der Verkauf für die BISS-Verkäuferinnen und -Verkäufer erfahrungsgemäß einfacher, denn das Leben findet meist im Freien statt, an der Isar, in den Straßencafés und in den Biergärten. Es kommt vor, dass Leute das ihnen angebotene Magazin nicht kaufen, aber trotzdem den Verkäufern Geld geben. Das ist gut gemeint, besser ist es, wenn diejenigen, die den Verkäufern grundsätzlich wohlgesonnen sind, das Magazin auch in Empfang nehmen. Schon allein deshalb, weil das Grundprinzip aller Straßenzeitungen weltweit seit über 30 Jahren „head up, not hands out“ lautet. Der Verkäufer soll eben nicht um ein Almosen betteln, sondern selbstbewusst ein gutes Produkt verkaufen. Insbesondere sollte man auch die Vorbildfunktion nicht unterschätzen, die eine Person, die die BISS kauft, für ihre Umgebung hat. Denn es ermuntert auch andere, auf den Verkäufer zuzugehen. Überhaupt kann sich unsere Doppelnummer Juli/August sehen lassen, mit der Titelgeschichte über das famose Münchner Kartoffelkombinat und natürlich den unvergleichlichen Texten aus der Schreibwerkstatt (Seiten 26/27). Ich finde ja, Papier wird unterschätzt, denn gerade auf Reisen bietet das Magazin viele Vorteile, handlich, mit nur 75 Gramm fast federleicht und es braucht keinen Strom und keinen WLAN-Zugang. Man kann es mit an den Strand nehmen oder auf eine Berghütte, es raschelt so schön beim Umblättern, was will man mehr? Die meisten unserer angestellten Verkäuferinnen und Verkäufer machen im August bezahlten Urlaub. Sie bekommen, wie andere Beschäftigte auch, das Monatsgehalt auf ihr Konto überwiesen. Aktuell sind es sogar 61 Frauen und Männer (Patenseite 25), das ist neuer Rekord, so viele waren es noch nie zuvor. Ihnen und ihren Familien bietet der Verkauf des Magazins einen Ausweg aus Armut und Obdachlosigkeit – Print wirkt, aber wie! Ich wünsche Ihnen einen schönen Sommer.