30 Jahre BISS

Die Anfänge der Münchner Straßenzeitung „BISS-Bürger in sozialen Schwierigkeiten” gehen weit zurück bis ins Jahr 1991. Damals fand in der Evangelischen Akademie Tutzing eine Tagung zum Thema Obdachlosigkeit statt, bei der eine vergleichsweise kleine Gruppe engagierter Leute – Journalisten, Sozialarbeiterinnen und Kirchenleute – mit obdachlosen Menschen ins Gespräch kam. Es entstand die Idee, nach englischem Vorbild eine Straßenzeitung zu gründen, die armen und obdachlosen Menschen eine Aufgabe und ein Einkommen bietet. Es dauerte noch zwei Jahre, bis am 17. Oktober 1993, dem UNO-Welttag zur Überwindung der Armut, in München BISS als erste deutsche Straßenzeitung mit einer Auflage von 10.000 Exemplaren auf den Markt kam.

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Wie ich wohne

Wer wohnt wie? In der Kolumne geben Menschen aus dem BISS-Netzwerk Einblicke in ihren Wohnalltag. Sie erzählen, wie sie früher gelebt haben, wie sie momentan wohnen und was sie sich für die Zukunft erhoffen.

Der Weitgereiste

Protokoll FELICITAS WILKE

Foto MARTIN FENGEL

„Wenn man als fünfköpfige Familie mit Hund auf 83 Quadratmetern lebt, dann sieht es nie aufgeräumt aus. Allein schon, weil immer irgendwo mehrere Wäscheständer herumstehen. Wer Kinder hat, wäscht einfach ständig. Doch auch wenn es etwas chaotisch zugehen mag in unserer Dreizimmerwohnung in Planegg, dreckig ist es echt nicht. Wir wohnen hier seit mittlerweile zwölf Jahren. So lange habe ich vorher noch nirgendwo gelebt. Ich komme ursprünglich aus dem Ruhrgebiet und habe die ersten Jahre meines Lebens in einer großen Wohnung in Bergkamen verbracht, wo ich mit meinen Eltern zur Miete wohnte. Ich erinnere mich noch gut an den riesigen Garten. Nachdem sich meine Mutter und mein Vater getrennt hatten, zog ich mit meiner Mutter und meinem Stiefvater nach Hamm. Unsere erste Wohnung dort lag über einer Bäckerei. Was habe ich den Duft geliebt! Um Punkt sechs holte ich unsere Brötchen damals direkt aus der Backstube ab. Nach einiger Zeit ging es wieder in eine andere Wohnung. So viele Umzüge als Kind und Jugendlicher, das war nicht prickelnd – zumal mein Stiefvater und ich oft stritten, Handgreiflichkeiten inklusive. Als ich 19 war, packte ich meine Sachen und ging. Ich fing in Hamburg als Türsteher auf der Reeperbahn an. Mein Chef stellte mir ein Zimmer über der Disco, in dem ich wohnen konnte. Es war eine verrückte Zeit, in der ich Clubbesitzer, Zuhälter und Verbrecher kennenlernte – aber auch meine erste Ehefrau, natürlich in einer Disco! Als unser Sohn geboren wurde, machte ich mich mit Finanzdienstleistungen selbstständig und stieg schnell auf. Ich verdiente gut und war kurz davor, uns ein eigenes Haus zu kaufen. Doch dazu kam es nicht mehr: Meine Ehe scheiterte daran, dass ich teilweise bis drei Uhr nachts arbeitete und im Anzug ins Bett fiel. Danach verzockte ich mein ganzes Geld und landete im Obdachlosenheim. Während dieser Zeit begann ich, die „Hinz&Kunzt“ zu verkaufen, die Straßenzeitung in Hamburg. Nachdem auch meine zweite Ehe gescheitert war, erfüllte ich mir im Jahr 2005 einen Jugendtraum und fuhr drei Monate lang mit dem Fahrrad durch Europa. Ich fuhr bis Spanien und blieb einfach dort, wo es mir gefiel. Unterwegs übernachtete ich im Zelt. Die kleine vergoldete Uhr in Fahrradform, die heute in unserem Wohnzimmer steht, erinnert mich daran. Im Jahr 2006 landete ich, eher zufällig auf der Durchreise, bei der BISS in München. Mit Straßenzeitungen kannte ich mich ja schon aus. Ich lernte meine heutige Frau kennen und gründete mit ihr noch mal eine Familie: Unsere Söhne sind heute 14, 13 und neun Jahre alt. Viele Fotos an unserer Wand zeigen die Jungs. In unserer Wohnung teilen sie sich ein Zimmer, meine Frau schläft im Schlafzimmer und ich – weil ich so laut schnarche – im Wohnzimmer. Mein Traum wäre ein Haus mit Garten, erst recht, seit unser geliebter Hund Alvaro zur Familie gehört. Aber eine Wohnung mit drei Balkonen, wie wir sie haben, ist auch nicht übel! Im Sommer essen wir oft draußen oder hängen die Wäsche dort auf. Und das alles für 960 Euro ohne ständige Mieterhöhungen! Ich hoffe sehr, dass wir hier noch lange bleiben können.“

Stadtführungen

EIN TEXT AUS DER SCHREIBWERKSTATT

von

Dirk Schuchardt

Da ich ja schon so lange bei BISS bin, hat man mich vor einigen Jahren immer wieder gefragt, ob ich nicht Lust hätte, als Stadtführer zu arbeiten. Denn die BISS bietet ja auch Stadtführungen an. Ich zögerte lange und lehnte auch auf mehrmalige Nachfragen hin immer wieder erfolgreich ab – ich wollte lieber verkaufen. Irgendwann gab ich meinen Widerstand auf und versprach, mir so eine Führung wenigstens mal anzusehen. Ich ging also mit einem unserer Stadtführer mit und schaute mir an, wie das so abläuft. Am Abend vor meiner ersten eigenen Tour ging ich die Strecke einmal allein ab. Mit dabei hatte ich meine Infos, die mir als Leitfaden dienten. Als ich am BISS-Grab stand, fragte ich mich, wie ich in dem Gewirr von Gräbern und Gängen am schnellsten zum Mausoleum von Rudolph Moshammer gelangen sollte. Ich erinnerte mich an die Worte meines jüngsten Sohnes Philipp, der damals gerade einmal vier Jahre alt war: „Papa, frag einfach Google, denn Google weiß alles.“ Ich gab also auf Google Maps als Ziel das „Rudolph Moshammer Mausoleum“ ein und war gespannt, was mir mein Smartphone anzeigen würde. Zu meinem Erstaunen zeigte mir das Gerät den kürzesten Weg durch den Friedhof zum Zielort an. Am nächsten Tag hatte ich dann eine Gruppe interessierter Leute hinter mir. Los ging es am BISSBüro, wo die Geschäftsführung den Menschen erklärte, was BISS überhaupt ist und was wir machen. Dann führte ich die Gruppe durch den Ostbahnhof ins Gewerbegebiet zu Dynamo. Das Unternehmen hat es sich zur Aufgabe gemacht, sozial benachteiligte Menschen in den Bereichen Fahrradmontage und -reparatur und Recycling aus- und weiterzubilden. Die beiden sozialen Betriebe BISS und Dynamo kooperieren. Den Vortrag bei Dynamo hält jemand aus der Sozialarbeit. Danach zeigte ich meiner Gruppe noch das BISS-Grab und das Mausoleum vom Moshammer und erzählte dort alles Wissenswerte. Zwischendurch können mir die Leute natürlich Fragen stellen, zum Beispiel, wie ich zur BISS gekommen bin. Am Mausoleum ist meine Führung immer vorbei. Im Anschluss können die Teilnehmer noch die aktuelle Ausgabe der BISS bei mir erwerben. Ich möchte den Lesern sehr gern ans Herz legen, mal so eine Führung mitzumachen. Es gibt die Auswahl zwischen drei Führungen, welche das sind, kann man in jeder Ausgabe nachlesen. Ich mache die Führung I über „BISS & Partner“ und würde mich freuen, wenn mir mal ein Teilnehmer mitteilen würde, dass er sich durch diesen Artikel hat inspirieren lassen.

BISS-Foto-Award „Zu viel? Zu wenig?“
zum 30-jährigen Jubiläum

Karin Lohr, Foto: Volker Derlath

Ich bin glücklich, dass wir Ihnen in diesem Heft unser Projekt zum 30-jährigen Jubiläum präsentieren können: den BISS-Foto-Award „Zu viel? Zu wenig? – Leben in Armut und Obdachlosigkeit“, bei dem Fotografinnen und Fotografen ausgezeichnet werden, die mit den gestalterischen Mitteln der Fotografie das Thema des Wettbewerbs in herausragender Weise darstellen. Mit diesem Fotowettbewerb sollen Bilder geschaffen werden, die den Blick auf Menschen richten, um die es bei der Arbeit des gemeinnützigen Vereins BISS e.V. seit 1993 geht: Bürgerinnen und Bürger in sozialen Schwierigkeiten, insbesondere diejenigen, die von Wohnungslosigkeit und Armut bedroht oder betroffen sind. Die Arbeiten können von 1. Mai bis 30. Juni 2023 eingereicht werden. Die Auswahl wird eine äußerst kompetente Fachjury treffen, die wir Ihnen, zusammen mit Details des Wettbewerbs, in diesem Heft vorstellen (Seiten 16 bis 23). Und wir haben die Staatsministerin für Kultur und Medien Claudia Roth als Schirmfrau für das Projekt gewonnen. Mit Verlaub, Frau Staatsministerin, das ist das „Sahnehäubchen“ auf dem Ganzen. Die Ergebnisse des Fotowettbewerbs werden natürlich im BISS-Magazin veröffentlicht. Die von der Jury ausgezeichneten Bilder bekommen einen Platz auf dem Cover der BISS-Ausgaben ab Oktober 2023 in Folge. Dotiert ist der Foto-Award mit Geldpreisen in Höhe von insgesamt 12.000 Euro. Prämiert werden drei Fotoarbeiten sowie mit einem Sonderpreis eine weitere für besonders herausragende Leistungen von Fotografinnen und Fotografen unter 25 Jahren. Die Ausschreibung und
Teilnahmebedingungen finden Sie auf unserer Website unter www.biss-magazin.de. Wir sind schon gespannt auf die Einsendungen und wünschen vorab allen Beteiligten viel Erfolg und ein gutes Händchen.
Überhaupt bieten wir Ihnen in diesem Monat wieder ein tolles Heft. Die junge Frau aus Afghanistan, die ihren Weg in Deutschland beschreibt, habe ich persönlich getroffen und war beeindruckt – von ihrem Willen, etwas zu leisten, vor allem aber von ihrer zugewandten Art und davon, wie sehr sie es schätzt, in Deutschland leben zu können, und diese Chance mit allen ihren Kräften wahrnimmt. Sie hat uns BISSlern grünen Tee aus Afghanistan und gemahlenen Kardamom geschenkt. Den trinke ich regelmäßig mit Genuss, sehr zu empfehlen, wenn man ihn auf die Art zubereitet, wie Farkhunda es empfiehlt: Kurz ziehen lassen, dann entfaltet sich das zarte Aroma voll. Uns steht wieder ein ereignisreiches Jahr bevor, warten Sie ab, vielleicht bei einer Tasse Tee, und bleiben Sie uns weiterhin gewogen!


Herzlichst

Karin Lohr, Geschäftsführerin

Wem gehört die Stadt?

Von Dr. Simone Egger

Text in einfacher Sprache


München ist die teuerste Stadt in Deutschland. In München gibt es zu wenige Wohnungen. Weil viele Menschen in München eine Wohnung suchen, sind die Mieten hoch. Wer normal verdient, kann sich München kaum leisten. Nur die, die viel Geld verdienen, finden leicht eine Wohnung. Schwierig wird es auch, wenn man Kinder, einen Hund oder eine Katze hat. Schon mit einem ausländischen Namen wird man zu Wohnungsbesichtigungen oft nicht eingeladen.
Wer ein Haus oder eine Wohnung vermietet, will viel Geld damit verdienen. Dass es wichtig ist, dass viele unterschiedliche Menschen in einer Stadt wohnen, interessiert sie oft nicht. In München gibt es viele Baustellen und Kräne. Die neuen Wohnungen sind aber teuer. Je mehr Menschen nach München kommen, desto größer wird der Abstand zwischen arm und reich. In einigen Stadtviertel wohnen überwiegend arme Menschen, in anderen reiche.
Wenn sich jemand beschwert, dann sind das meistens Menschen aus der Innenstadt, die ein normales Einkommen haben. Menschen in ärmeren Stadtteilen wie Moosach und dem Hasenbergl finden auch keine Wohnung oder keinen Platz für ein Geschäft. Aber ihnen hört niemand zu. Wichtig für eine Stadt sind aber nicht nur die Menschen, die im Büro arbeiten und gut verdienen, sondern auch die, die im Supermarkt die Regale einräumen oder den Bus steuern. Wenn es keine Müllmänner mehr gibt, bleibt der Müll auch in den reichen Vierteln liegen, wenn es niemanden mehr gibt, der im Kindergarten arbeitet, muss sich der Architekt um die Kinder kümmern und kann keine Häuser mehr planen. Nur wenn es sich Menschen aus allen Berufen leisten können, in München zu wohnen, kann die Stadt gut funktionieren.

Durch Corona ist die Situation noch schwieriger geworden. Die, die eine große Wohnung oder ein Haus haben, konnten gut daheim arbeiten. Andere haben ihre Arbeit verloren. Viele mussten trotz Pandemie in die Arbeit gehen und konnten sich nicht vor den Viren schützen. Für Menschen ohne Zuhause oder mit einer kleinen Wohnung war Corona sehr schlimm. Corona hat die Menschen aber auch einsam gemacht. Wenn jemand mit Corona gestorben ist, durften seine Verwandten nicht einmal ins Krankenhaus.

Wichtig ist, dass es viele Plätze in der Stadt gibt, wo man hingehen darf, ohne etwas kaufen oder essen zu müssen. Besonders nach Corona wollen sich Menschen treffen, miteinander reden und lachen.
Bis vor einem Jahr gab es den Gasteig in der Rosenheimer Straße. Im Gasteig kamen reiche und arme Menschen zusammen. Im Gasteig gab es Konzerte, die Bücherei, aber auch viel Platz, um einfach zu sitzen und das Internet zu benutzen. Der Gasteig wird in den nächsten Jahren umgebaut. Die Konzerte finden jetzt im HP-8 statt.
Einen Platz, wo sich alle Menschen aufhalten können, gibt es im HP-8 nicht. Früher konnte man auch im Kaufhof oder Karstadt im warmen Kaufhaus rumgehen, die Toilette benutzen oder im Restaurant sitzen. Der Karstadt ist abgerissen worden. Auch am Hauptbahnhof wurde die Schalterhalle abgerissen. Es werden neue Büros, Restaurants und Gärten gebaut, in die aber nicht mehr jeder gehen darf.
Wissenschaftler sagen seit vielen Jahren, dass Menschen mit viel Geld Wohnungen in München kaufen und natürlich wollen, dass sich das auch lohnt. Die Folge ist, dass alles zugebaut wird und es immer weniger Orte gibt, an denen sich Menschen einfach treffen können. Wenn Menschen mit wenig Geld keine Wohnung finden, können sie sich auch nicht in München einleben. Sie kümmern sich dann auch nicht um Nachbarn oder helfen in Vereinen mit.
Während Corona hat die Stadt erlaubt, dass Restaurants und Bars Stühle und Tische auf die Parkplätze vor den Restaurants stellen. Diese Sitzplätze nennt man Schani-Gärten. Die Politiker sagen, dass dadurch das Klima in München besser wird, weil es weniger Autos gibt und die Menschen mehr Platz haben. Aber auch in die Schani-Gärten dürfen sich nur Menschen setzen, die ein Getränk oder Essen bestellen. Menschen mit wenig Geld dürfen sich nicht hinsetzen.
München braucht unbedingt Plätze, wo sich Menschen treffen können, ohne Geld dafür bezahlen zu müssen. Nur wenn die Politiker sich darum kümmern, bleibt München eine Stadt, in der sich alle wohlfühlen und friedlich zusammenleben. Das ist wichtig, damit München eine lebenswerte Stadt bleibt.