Möchte jemand tauschen?

Karin Lohr, Foto: Volker Derlath

Manche meinen, der Regelsatz für das Bürgergeld sei zu hoch (563 Euro pro Monat für Alleinstehende). Dadurch biete es Menschen, die eigentlich arbeiten könnten, den Anreiz, von dieser Grundsicherung zu leben und die Arbeitssuche aufzugeben. Die Zahlen zum Thema Bürgergeld liegen auf dem Tisch: 5,5 Millionen Menschen in Deutschland sind auf das Bürgergeld angewiesen, davon sind 1,8 Millionen Kinder und Jugendliche. Weitere zwei Millionen sind nur bedingt erwerbsfähig oder Aufstocker zum Einkommen (Quelle: Marcel Fratzscher, DIW). Bleiben 1,7 Millionen erwerbsfähige Leistungsbezieher, die unserer Erfahrung nach mehrheitlich lieber arbeiten würden, als Bürgergeld zu beziehen. Häufig stecken sie in Lebenskrisen oder Umbrüchen fest und brauchen zeitweise Unterstützung, bis sie wieder eine Arbeitsstelle finden und keine Hilfen mehr benötigen. Hier vor Ort fördern etwa das Münchner Beschäftigungs- und Qualifizierungsprogramm (MBQ) und die berufsbezogene Jugendhilfe die berufliche Integration. Denn wer eine abgeschlossene Ausbildung hat, findet viel einfacher einen Arbeitsplatz und kann seinen Lebensunterhalt selbst bestreiten. Wer die BISS liest, weiß das schon längst. Denn unsere Verkäuferinnen und Verkäufer bemühen sich trotz schwieriger Lebensumstände jeden Tag aufs Neue um ein besseres Leben. Einer von ihnen war Manfred Kügler, der erst 58 Jahre alt war, als er im August nach längerer Krankheit verstarb (Nachruf Seite 19). Seine Kundschaft weiß, wie unglaublich hart er gekämpft hat. Es gibt aber auch gute Nachrichten: BISS-Verkäufer Petru Radu ist überglücklich, denn er hat mit Unterstützung von BISS eine Wohnung gefunden. Es ist eine ganz besondere Wohnung, zu der die Benefizauktion zum 30-jährigen BISS-Jubiläum im vergangenen Jahr den Grundstein gelegt hat (siehe Seiten 24 und 25). Und wer die Patenseite aufmerksam studiert, kann sehen, das Ladislav Dieti zurück und seit dem 1. September wieder fest angestellt ist. Er hat seinen Schlaganfall überstanden und wollte, wie die beiden anderen Herren auch, unter allen Umständen wieder zurück in ein Leben mit einer sinnvollen Aufgabe, mit Festanstellung und insbesondere mit dem belebenden Kontakt zu den BISS-Leserinnen und -Lesern. Um wieder zum Bürgergeld zurückzukommen: Es soll helfen, existenzielle Krisen im Leben zu überstehen. Wer behauptet, die Mehrheit derjenigen, die darauf angewiesen sind, wollen es nicht anders, der sagt die Unwahrheit. Oder die Person weiß es nicht besser, beides finde ich gleichermaßen erschreckend. Insbesondere, wenn in der politischen Diskussion Stimmung gegen Schwächere gemacht wird. Das Leben tauschen, da bin ich mir sicher, will keiner.

Herzlichst

Abenteuer Bahn

Foto: Volker Derlath

Auf einer Reise mit der Bahn kann man viel erleben. Bei unserer Exkursion nach Fürth (siehe Seite 29 im Heft) haben wir die Bahn sowohl von ihrer besten als auch von einer ihrer schlimmsten Seiten erlebt. Auf der Hinfahrt lief alles wie am Schnürchen: Abfahrt in München pünktlich, umsteigen wie geplant in Nürnberg nach Fürth und von dort ein paar Stationen mit dem Bus an unser Ziel. Nachmittags ging’s zurück, zunächst war alles unauffällig. Letzter Halt vor München war Dachau, da dachte man schon, jetzt kann uns nichts mehr passieren. Bis der Zug abrupt zum Stehen kam. Es folgte eine knappe Durchsage: Weichenstörung. Auf den Gleisen links und rechts fuhren munter ICEs, andere Züge und S-Bahnen an uns vorbei, anscheinend war nur „unsere“ Weiche davon betroffen. Nach zwei Stunden im vollen Zug bei hochsommerlichen Temperaturen ging’s erst ein bisschen zurück und dann die letzten paar Kilometer bis München. Wenn das ein unvorhergesehenes Ereignis gewesen wäre, kann man es nur ertragen. In unserem Fall aber haben wir kurz nach Abfahrt des Zuges in Nürnberg eine leise Durchsage gehört, die vermutlich nicht für die Reisenden bestimmt war: „Dieser Zug kommt aufgrund einer Weichenstörung voraussichtlich statt um 16.55 erst gegen 19 Uhr in München an.“ Alle Reisenden hätten also locker noch in Dachau und damit vor der maroden Weiche umsteigen können und wären so nicht geschlagene vier Stunden von Nürnberg nach München unterwegs gewesen.

Es gibt Dinge im Leben, die kann man nicht ändern. Die großen Schwierigkeiten der Bahn gehören nicht dazu, denn die Ursachen sind bekannt: Es gibt zu wenig Züge, zu wenig Gleise und zu wenig Personal. Dabei fahren immer mehr Menschen mit der Bahn, allein im ersten Halbjahr 2024 waren es 919,2 Millionen Reisende. Die steigenden Fahrgastzahlen werden dem beliebten Deutschlandticket zugeschrieben, eigentlich ein Riesenerfolg. Viele verstehen nicht, warum ein Unternehmen, das zu 100 Prozent im Eigentum des Bundes ist, Gewinn machen soll. Die Bahn gehört doch zur wichtigsten Infrastruktur eines Landes, wertvoll und unverzichtbar. Autobahnen und Parkplätze erwirtschaften ebenfalls keinen Überschuss, und doch hat die Politik in den vergangenen Jahrzehnten vorzugsweise in sie investiert. Ich wünsche mir in der Politik endlich einmal eine leidenschaftliche Verkehrsministerin, Bahnfahrerin, die Bescheid weiß und das Beste für die Schiene rausholen will. Oder einen Finanzminister, der nachts nicht schlafen kann, weil er überlegt, woher er das so dringend benötigte Geld nehmen soll, etwa durch konsequentes Verhindern von Steuerbetrügereien oder durch Wiedereinführung einer Vermögenssteuer für große Vermögen. Abenteuerliche Vorstellung, aber warum eigentlich?

Herzlichst

Karin Lohr, Geschäftsführerin

Jubiläum hoch drei

Foto: Volker Derlath

Neulich, beim monatlichen Treffen aller BISSler, war es wieder so weit: Wir ehrten die Verkäuferinnen und Verkäufer, die schon lange bei BISS angestellt sind. Diesmal waren es drei – Gyulfatme Sali mit fünf, Pietro Dorigo mit 15 sowie BISS-Urgestein Christian Zimmermann mit sage und schreibe 25 Jahren Festanstellung. Was für ein besonderer Anlass und für mich eine der schönsten Tätigkeiten überhaupt, unseren Jubilaren in der großen Runde gratulieren zu dürfen. Es blieb aber nicht beim Händeschütteln mit der Geschäftsführung, sondern alle erhielten eine hübsch gerahmte Urkunde und einen Bonus auf ihr Bankkonto für ihre langjährige Treue. Für die Anwesenden war das ein bewegender Moment, denn alle wissen, wie viel Kraft und Mut jeder der drei aufbringen musste, um nach einer Krise wieder auf die Beine zu kommen. Keiner der drei muss auf der Straße oder in einer Notunterkunft übernachten, denn sie haben, auch mit Unterstützung ihres Arbeitgebers, bezahlbaren Wohnraum in München gefunden. Das ist möglich, weil BISS aus seinem Netzwerk großzügige Unterstützung erfährt, die wir an die hilfebedürftigen Menschen weitergeben. Ihnen allen ein großes Dankeschön dafür! Überhaupt war dieses Treffen, wie immer im großen Saal von St. Bonifaz, besonders gelungen. Wir hatten zum ersten Mal eine musikalische Begleitung durch Ariane Seiler am Klavier. Sie hatte sich auf unseren Aufruf im Frühjahr gemeldet und spielte selbst komponierte Stücke. Es war Zufall, dass sie die BISS in der Regel bei Frau Sali kauft, beide freuten sich über das unerwartete Zusammentreffen bei dieser Gelegenheit. Die monatlichen Treffen dienen dazu, miteinander ins Gespräch zu kommen und wichtige Infos weiterzugeben. Wir stellen dabei auch die aktuelle Ausgabe vor. Seit Kurzem geschieht das mittels Beamer und Übertragung auf eine große Leinwand, so haben alle eine gute Sicht. Bevor es dieses Jahr mit der Doppelnummer Juli/August in die Sommerpause geht, findet unser traditioneller Betriebsausflug statt. Der Reisebus ist schon bestellt und das Programm steht. Im August legen unsere angestellten Verkäufer erfahrungsgemäß eine Verkaufspause ein und machen Urlaub. Sie bekommen ihr Gehalt weiterbezahlt, ohne dafür arbeiten zu müssen – wie eben andere Angestellte auch. Mir gefällt es, wenn ich von ihren Reiseplänen und Zielen erfahre und merke, wie besonders diese Urlaubswochen sind und wie groß die Vorfreude ist.

Uns BISSlern und Ihnen, liebe Leserinnen und Leser, wünsche ich einen schönen Sommer und erholsame Tage. Kommen Sie gesund wieder.


Karin Lohr, Geschäftsführerin

Nicht nur Bares

Foto: Volker Derlath

Fast alle, die die BISS auf der Straße verkaufen, besitzen ein Mobiltelefon, manche auch ein Smartphone. Für die Kommunikation zwischen Innen- und Außendienst ist das im Alltag ausgesprochen praktisch, denn anders als in konventionellen Unternehmen sind die meisten unserer Angestellten ja nicht zu festen Arbeitszeiten täglich im Betrieb anwesend. Es hat sich bewährt, wichtige Infos zusätzlich per SMS zu verschicken, beispielsweise den vorgezogenen Erscheinungstag der neuen Ausgabe, wenn das Magazin vor dem Monatsletzten ausverkauft ist. Den Verkaufspreis von aktuell 2,80 Euro je Ausgabe kassierten die
Verkäuferinnen und Verkäufer seit Jahrzehnten ausschließlich bar. Das bietet den Beteiligten viele Vorteile: Die Transaktion ist simpel, man behält den Überblick, es geht schnell und der Verkäufer braucht nichts weiter als Wechselgeld und eine Hosentasche. Kann also für immer so bleiben? Nun berichteten gerade in letzter Zeit BISS-Verkäuferinnen und -Verkäufer von Begegnungen mit Leuten, die sagten, sie würden gern ein Magazin kaufen, hätten aber überhaupt kein Bargeld bei sich. Eine Entwicklung, die an Supermarktkassen und an Kiosken zu beobachten ist, wo selbst Kleinstbeträge bargeldlos bezahlt werden. Das kann man gut finden oder nicht, ich meine jedoch, es darf daraus kein Nachteil für die BISSler entstehen. So haben wir uns Gedanken gemacht, wie diejenigen unserer Verkäuferinnen und Verkäufer, die am bargeldlosen Kassieren interessiert sind, dazu in die Lage versetzt werden können. Werkstudentin Laura hat dieses Projekt übernommen, und welche Herausforderungen alle Projektbeteiligten bewältigt haben, können Sie in dieser Ausgabe exklusiv (ab Seite 24) lesen.
Als Zwischenergebnis gibt es zum jetzigen Zeitpunkt eine Handvoll von BISSVerkäufern, die bargeldlose Zahlungen akzeptieren. Es war schön, zu beobachten, wie stolz die Einzelnen waren, als das Kassieren per Handy funktionierte und sie von den jeweiligen Kunden eine positive Rückmeldung bekamen. Viel wichtiger als die zusätzlich verkauften Exemplare ist, dass jeder Beteiligte für dieses Verfahren ein funktionierendes Bankkonto braucht. Das wird den einen oder die andere motivieren, ein gesperrtes Konto zu reaktivieren oder überhaupt erst eines zu eröffnen. Auf die zunehmende Digitalisierung in der Gesellschaft sind arme und obdachlose Menschen kaum vorbereitet. Was bei Kindern aus sozial benachteiligten Familien anfängt, setzt sich im Erwachsenenalter fort. Ich setze darauf, dass wir mit Projekten wie diesem und unserer digitalen Sprechstunde für Verkäufer dazu beitragen, dass Berührungsängste und Vorbehalte weniger werden. Ein erster Schritt, aber ohne den geht es ja gar nicht erst weiter.

Herzlichst

Karin Lohr, Geschäftsführerin

Lieblingsplätze

Foto: Volker Derlath

Aktuell verkaufen rund 100 Frauen und Männer regelmäßig die BISS. Die meisten von ihnen bewegen sich im Münchner Stadtgebiet, einige im Landkreis und manche führt ihr Weg sogar ins bayerische Oberland bis nach Rosenheim oder Traunstein. Wir werden immer wieder gefragt, wie das mit den Verkaufsplätzen funktioniert und ob die etwa zugeteilt werden. Eine „offizielle“ Zuteilung, das ist sicher, würde nie funktionieren. Außer am Anfang, wenn jemand ganz neu zu BISS kommt und noch keine Vorstellung davon hat, wo er oder sie verkaufen möchte. Dann schlägt unser Sozialarbeiter einen Platz vor, von dem er weiß, dass der nicht belegt ist. Erfahrungsgemäß dauert es aber nicht lange, bis der oder die „Neue“ eigene Ideen entwickelt, wo es mit dem Verkauf ebenso gut, vielleicht sogar besser laufen könnte. Diese Beweglichkeit, gedanklich und im Handeln, ist einer der wichtigsten positiven Effekte, die den anfangs hilfebedürftigen Menschen Schritt für Schritt aus ihrer Notlage heraushelfen. Natürlich sind es die notwendigen Einnahmen aus dem Zeitungsverkauf, die Einzelfallhilfen und die Unterstützung bei der Suche nach bezahlbarem Wohnraum, die erst einmal im Vordergrund stehen. Und doch, nur so ist Hilfe zur Selbsthilfe möglich, wenn sich der „Bedürftige“ wieder als handelnder Mensch erlebt, der selbst bestimmen kann, wann er was tut und wie lange, oder? Dabei ist gar nicht so die Frage, ob ein Platz per se gut oder schlecht ist für den Verkauf. Langjährige BISS-Verkäufer wissen das am besten, denn sie machen die Orte, an denen sie stehen, erst zu guten Plätzen: BISS-Urgestein Tibor Adamec am Marienplatz, Pietro Dorigo, Pasings bella figura, und Dirk Schuchardt am Stachus, stets bereit für ein Schwätzchen. Nur drei von vielen, die wissen, dass es wie überall gute und weniger gute Tage gibt, selten klagen und sich über besonders gute Zeiten freuen. Plätze wie diese haben ein menschliches Gesicht und Charakter. So wird ein Platz nicht mal einfach von jemand anderem übernommen, wenn ein langjähriger Verkäufer stirbt. Es kann sein, dass eine Lücke bleibt, wie neben dem Kaufhaus Beck, wo früher Pavo Kulas verkaufte, an den ich jedes Mal denke, wenn ich dort vorbeikomme. Noch viel wichtiger als die Plätze sind für das Wohlbefinden und die Integration unserer 100 Verkäuferinnen und Verkäufer diejenigen, die das Magazin bei ihnen kaufen. Lieblingskundschaft sozusagen, freundlich, anerkennend und großzügig. Menschen wie Sie, was könnte es Besseres geben?

Herzlichst

Karin Lohr, Geschäftsführerin