Liebe Leserinnen und Leser,

Geschäftsführerin Kathrin Lohr; Foto: Florian Peljak

ich bin optimistisch, dass Sie von unserer Jubiläumsausgabe „30 Jahre BISS – Wir sind ein Team“ ebenso begeistert sind wie ich. Denn ich finde dieses Heft besonders gelungen, weil es die BISS-Verkäuferinnen und BISS-Verkäufer mit ihren Nöten und Bedürfnissen in den Mittelpunkt stellt, ohne sie jedoch auszustellen. In diesem Heft finden Sie aufschlussreiche Beiträge, etwa das Interview mit der BISS-Sozialarbeit, die Vorstellung der Gewinnerin und der Gewinner des BISS-Foto-Awards sowie den Bericht der Stiftung BISS. Seit unserer Gründung 1993 haben weit mehr als 1000 Verkäuferinnen und Verkäufer das Magazin auf der Straße angeboten, einige Pioniere der ersten Stunde sind sogar noch im Dienst. Und es waren unzählige andere bedürftige Personen, denen BISS mit Rat und Tat helfen konnte. Menschen, die von Armut und Obdachlosigkeit bedroht oder betroffen sind, tragen eine schwere Last. In persönlichen Gesprächen und aus den Beiträgen der Schreibwerkstatt kann man erfahren, wie hart für viele ihre Kindheit war, wie früh sie erwachsen werden mussten und wie wenig gute Orte bisher für sie existierten. Und doch sind diese Menschen nach einer Lebenskrise wieder aufgestanden, haben sich nicht in Bitterkeit vergraben und von der Welt abgewendet. Sie haben sich entschieden zu kämpfen, das ist großartig! Wir können niemandem seine Last abnehmen. Jedoch erfahren unsere Verkäuferinnen und Verkäufer in den Begegnungen und Gesprächen am Verkaufsplatz, dass sie ein anerkannter Teil unserer Gesellschaft sind. „Ich bin noch mit im Boot“, wie tröstlich ist das für jeden Einzelnen. BISS ist in der glücklichen Lage, sozial benachteiligten Menschen eine Beschäftigung, ein Einkommen, einen festen Arbeitsplatz und mittelfristig bezahlbaren Wohnraum bieten zu können. Das ist möglich, weil wir in den vergangenen 30 Jahren von vielen Menschen treu und überaus großzügig unterstützt wurden. Ihnen allen danke ich von ganzem Herzen für Ihren tatkräftigen Einsatz, Ihre Spenden und Ihre Freundschaft: der Leserschaft, den Spenderinnen und Spendern, den Patinnen und Paten, der Redaktion und Themenkonferenz, dem Innendienst, den Vorständen, den ehrenamtlichen Helferinnen und Helfern, der Stiftung BISS, der Abtei St. Bonifaz, allen Kooperationspartnern und natürlich den Verkäuferinnen und Verkäufern. Wir zusammen haben für andere unser Bestes gegeben, das gibt jedem von uns etwas Gutes zurück.

Herzlich

Karin Lohr, Geschäftsführerin

Schweigende Mehrheiten

Karin Lohr, Foto: Volker Derlath

Am 8. Oktober wird in Bayern der neue Landtag gewählt. Stimmberechtigt sind volljährige Personen mit deutscher Staatsbürgerschaft und Wohnsitz in Bayern. In München sind das voraussichtlich 896.000 Personen, deutlich weniger, als in der Stadt leben. Von unseren Verkäuferinnen und Verkäufern ist das sogar nur jeder Dritte, obwohl die meisten schon seit Langem in der Stadt leben und arbeiten. Ihre Lebensläufe sind typisch auch für andere, die aus Jugoslawien, Italien, der Türkei, später dann aus Rumänien und Bulgarien gekommen sind und im Niedriglohnbereich vergleichsweise schwer arbeiten oder gearbeitet haben. Während im Wahlkampf Populisten über „schweigende Mehrheiten“ schwadronieren, kann im echten Leben jeder sehen, wer das tatsächlich ist: beispielsweise die Frauen und Männer, die beim Bäcker die Butterbrezn einpacken, im Supermarkt Regale auffüllen, Pizzen und Getränke liefern oder in Büros und Krankenhäusern putzen. Obwohl sie Steuern und Sozialversicherung bezahlen, sind sie am deutschen Wohlstand nicht beteiligt. Denn kein anderes Industrieland besteuert Einkommen aus Arbeit so hoch, während Reichtum bei Erbschaften und Vermögen kaum herangezogen wird. Von hohen Immobilienpreisen und dem enormen Wertzuwachs profitieren Immobilienbesitzer, die Rechnung dafür zahlen andere. Wie kann es sein, dass manche, die in der glücklichen Lage sind, in den eigenen vier Wänden zu wohnen oder gar an andere zu vermieten, über Pläne der Regierung, Heizungen von fossiler auf erneuerbare Energie umzustellen, sich so in Rage katapultieren? Und bestimmte Politiker und Unterhaltungsmacher das aufgreifen und es im Wahlkampf wochenlang in Bierzelten und in den Medien pushen? Ich befürchte, dass das der kleinste gemeinsame Nenner derjenigen ist, die die wirklichen Herausforderungen unserer Gesellschaft nicht wahrhaben wollen: eine zunehmende soziale Ungerechtigkeit, den bedrohlichen Klimawandel und zunehmend dreiste demokratiefeindliche Attacken. Mir ist bewusst geworden, wie sehr unsere offene Demokratie immer wieder bestärkt werden muss. Wie gut es wäre, wenn wir, die das Privileg haben, zu wählen, auch die Rechte der Menschen im Blick behalten, die keine Stimme haben. Das bringt diejenigen Parteien nach vorn, die nicht nur eigene gute Ideen haben, sondern auch mit anderen sachlich und verträglich kooperieren und Konflikte friedlich beilegen. Demokratinnen und Demokraten müssen zusammenhalten, die Wütenden und die Sanften, die
Lauten und die Leisen, Große, Kleine, Dicke, Dünne, Bunte und überhaupt – alle.

Herzlichst

Karin Lohr, Geschäftsführerin

Deutschland-Ticket – für alle?

Karin Lohr, Foto: Volker Derlath

Seit dem ersten Mai gibt es das Deutschland-Ticket, mit dem man bundesweit im Nah- und Regionalverkehr für 49 Euro monatlich Bahn fahren kann. Natürlich sollten die BISS-Verkäuferinnen und -Verkäufer ebenfalls die Möglichkeiten dieses Tickets nutzen können. Bisher hatten wir Abos des MVV für IsarCards, die jeden Monat an die Verkäufer ausgegeben wurden. Das verhindert Schwarzfahren und macht mobil. Bei der Umstellung merkten wir schnell, dass der Teufel im Detail steckt, und zwar der böse Ungerechtigkeits-Teufel, der für sozial benachteiligte Menschen zusätzliche Hürden schafft. Ich meine nicht so sehr die vom Gesetzgeber erwünschte digitale Abwicklung, denn das Ticket kann man auch persönlich am Schalter bestellen, die Chipkarte wird einem dann zugeschickt. Das können Menschen mit Bildung und Geld aus der Mitte der Gesellschaft, egal welchen Alters. Wer jedoch kein Bankkonto hat oder wessen Konto gesperrt ist, der hat keinen Zugang. Unter armen und insbesondere obdachlosen Menschen sind das gar nicht so wenige. Eine weitere Hürde ist, dass das Deutschland-Ticket nur als Abonnement abgeschlossen werden kann. Wer aber knapp mit Geld ist, rechnet immer und überall mit jedem Euro, auch beim Kauf einer Fahrkarte für 49 Euro, die sicher an anderer Stelle eingespart werden müssen. Und überhaupt, wie soll sich jemand ohne Wohnung, abgekürzt „ofW“ – ohne festen Wohnsitz –, die Chipkarte zuschicken lassen? Wir BISSler konnten bisher alle Fragen klären und danken ausdrücklich den Münchner Verkehrsbetrieben, die uns sehr geholfen haben. Aber beim Deutschland-Ticket muss dringend und schnell nachgebessert werden, sodass es monatlich mit Bargeld am Automaten erworben werden kann. Seinen Namen könnte der Reisende handschriftlich eintragen, wie bisher schon beim Bayernticket. Man stelle sich vor, für die Nutzung eines Pkw-Parkplatzes in der Münchner Innenstadt existierte eine vergleichbare Vorgehensweise – alles nur digital und als Abonnement, das gäbe einen schönen Aufstand. Der Spruch „Ich bin Fußgänger, Rad- und Bahnfahrer und hätte auch gerne einmal einen Verkehrsminister“ gilt auch für sozial benachteiligte Menschen. Dass sie genauso zu Deutschland gehören wie alle anderen, muss man auch bei den Angeboten des Öffentlichen Verkehrs berücksichtigen.

Eine gute Reise,
wohin auch immer,
wünscht Ihnen


Karin Lohr, Geschäftsführerin

Kein Bier …

Karin Lohr, Foto: Volker Derlath

… vor vier, lautet der Spruch, der mir einfällt, wenn mir in der Stadt, egal zu welcher Uhrzeit, eine Frau oder ein Mann unbekümmert mit einer Bierflasche in der Hand begegnet. Zugegeben, ich habe eine sogenannte Déformation professionnelle und deshalb einen kritischen Blick. Denn Alkohol ist ein Rauschmittel und die Deutsche Hauptstelle für Suchtfragen (DHS) empfiehlt, möglichst keinen Alkohol zu konsumieren. Als risikoarmen Konsum bezeichnet die DHS bis zu 24 Gramm Reinalkohol pro Tag für Männer und bis zu 12 Gramm pro Tag für Frauen. Eine einzige bayerische Halbe liegt schon bei 20 Gramm Reinalkohol und ein kleines Glas Wein bei 16 Gramm. Erstaunlich viel, oder?
In unsere letzte Teambesprechung brachte eine Kollegin die Frage ein, ob Alkoholkonsum weniger schädlich sei, wenn man hochwertigen Alkohol konsumiere, etwa Champagner oder edlen Rotwein. Hört sich erst einmal absurd an, denn „risikoarmer Konsum“ bezieht sich ja auf die Menge des Reinalkohols und nicht auf die Qualität des Stoffes. Der Unterschied liegt woanders. Sozialforscher wissen, dass bei sozial benachteiligten Menschen viele weitere Faktoren eine Rolle spielen, die deren Gesundheit und Leben schädigen: enge Wohnverhältnisse, ungesunde Ernährung, weniger Bewegung, geringerer Zugang zu Kultur- und Sportmöglichkeiten und schlechtere Arbeitsbedingungen. Arme Menschen leben kürzer und schlechter und die Spuren des Alkohols werden schneller offensichtlich. Im alltäglichen Umgang mit unseren rund 100 Verkäuferinnen und Verkäufern spielt Alkohol keine große Rolle. Meiner Erfahrung nach trinken Verkäufer im Durchschnitt nicht mehr als der Rest der Bevölkerung. Das sieht man nicht nur an normalen Tagen, sondern auch bei unseren Betriebsausflügen oder der jährlichen Weihnachtsfeier. In Einzelfällen kämpft der eine oder die andere mit der Sucht, wobei unsere Sozialarbeit Unterstützung anbietet. Als niedrigschwelliges Hilfeangebot wollen wir unbedingt zugänglich sein für Leute, die akut obdachlos sind und das harte Leben auf der Straße nur mit Alkohol meinen ertragen zu können. Jeder, der neu zu BISS kommt, unterschreibt mit den Verkäuferregeln einen Verhaltenskodex mit Punkt 2 auf der Liste: „Der Verkäufer darf nicht unter Einfluss von Rauschmitteln verkaufen. Der Genuss von Alkohol und Drogen während der Verkaufszeit ist untersagt.“ Und für viele Hilfebedürftige haben sich, nüchtern betrachtet, über den BISS-Verkauf Chancen auf eine Festanstellung und eine Wohnung eröffnet. Da braucht es dann unter Umständen gar kein Bier – auch nicht nach vier.

Herzlichst

Karin Lohr, Geschäftsführerin

Wer bestimmt?

Karin Lohr, Foto: Volker Derlath

Vor einigen Monaten schrieb mir ein Leser zu dem Editorial „Hoffnung auf eine Wohnung“, er könne nicht nachvollziehen, warum darin nur die bayerische CSU im Zusammenhang mit einem Immobiliengeschäft „etwas abfällig“ erwähnt wird, und ob denn SPD und Grüne nichts damit zu tun hätten. Konkret ging es um den Verkauf eines Grundstücks in der Münchner Innenstadt an den Apple-Konzern, das vorher dem Freistaat Bayern gehörte. Über den Verkauf, statt über eine Vergabe im Erbbaurecht, hat die bayerische CSU-Landesregierung entschieden, dieses Mal, man glaubt es kaum, mit der Zustimmung der Landes-SPD. Nun ist es aber so, dass bei den Entscheidungen der Politik in Bayern Grüne und SPD sonst kaum beteiligt sind, denn die Mehrheit liegt nun mal seit Jahrzehnten bei der CSU, die, wie kleine Kinder es gern benennen, die „Bestimmer“ sind, egal ob und mit wem sie in Bayern koalieren. Das müsste doch die Frage des Herrn beantworten, der in seiner Mail bedauerlicherweise noch schrieb, dass er und sein Freundeskreis den Kauf der Zeitschrift aus Verärgerung für einige Zeit eingestellt hätten. Bezahlbarer Wohnraum vor allem in Großstädten ist Mangelware und deshalb kommen immer mehr Menschen in existenzielle Nöte. Das hat seine Ursachen nicht nur, aber eben auch in den Entscheidungen von Politikerinnen und Politikern auf Bundes- und Landesebene. Die kann man nicht nur, sondern muss sie kritisieren, sachliche Argumente dafür gibt es. In Bayern wird am 6. Oktober 2023 gewählt, das ist ein guter Grund, bei den Parteien und den Personen, die für den Landtag kandidieren, genau hinzuschauen und nachzufragen: Mit welchen Themen treten sie an? Haben sie eine Vorstellung davon, wie die Menschen in Bayern leben, auf dem Land und in den Großstädten? Zeigen sie Verständnis dafür, dass es vielfältige Lebensweisen gibt, die, wenn sie anderen nicht schaden, Platz brauchen? Haben sie gute und umsetzbare Ideen, altbekannte Probleme zu lösen? Wie sprechen Politiker über Kollegen aus anderen Parteien, persönlich abwertend oder nicht? Unsere Demokratie lebt doch von Gesprächen und kontroversen Diskussionen, auch wenn es einem manchmal zu viele sind. Manche sagen, es sei ein gutes Zeichen für eine Gesellschaft, wenn unterschiedliche Positionen öffentlich bestehen und diskutiert werden, denn das würde bedeuten, dass es eben keine(n) Bestimmer mehr gibt, die für alle festlegen können, was gilt. Ich würde mich freuen, wenn der Leser, der uns den Brief geschrieben hat, wie Herr K. handeln würde, ein langjähriger Förderer und treuer BISS-Leser. Herr K. geht, wenn er die BISS gekauft hat, mit dem Exemplar in der Hand zu vorbeigehenden Passanten und sagt: „Ich habe gerade die BISS gekauft, kaufen Sie doch auch eine!“


Herzlichst

Karin Lohr, Geschäftsführerin