Die erste Ausgabe von BISS

Wandel durch Kontakte

von Dr. Jürgen Micksch, 2021

BISS – The Big Issue / Hindernisse / Die erste Ausgabe

Vom 26.-28. April 1991 habe ich obdachlose Menschen zu einer Tagung in die Evangelische Akademie Tutzing eingeladen. Im Vorfeld gab es dazu viele Bedenken. So wurde mir gesagt, dass Obdachlose nicht wieder aus dem Schloss auszögen, wenn sie gesehen hätten, wie schön sie dort wohnen und schlafen können.

Am ersten Abend der Tagung kam es zu heftigen Auseinandersetzungen vor allem zwischen obdachlosen Männern und Frauen. Die Atmosphäre in der Rotunde der Akademie war wie unter einer Isarbrücke. Doch bald darauf ist dann fachkundig über die Situation von armen Menschen gesprochen und auch miteinander gefeiert worden. Zahlreiche Anregungen wurden ausgetauscht. Die Dringlichkeit der Themen Obdachlosigkeit und Armut wurden deutlich. Von einem Zeitungsprojekt hat jedoch niemand gesprochen.

The Big Issue

Im Herbst 1992 erschien im Evangelischen Pressedienst ein kurzer Bericht über die Londoner Straßenzeitung „The Big Issue“, die Journalisten produzieren und Obdachlose verkaufen. Die Anregung hat mich fasziniert. Als mich der Druckereibesitzer Hans Venus in der Adventszeit anrief und sagte, dass seine Mitarbeitenden auf ein Weihnachtsgeschenk verzichten und lieber für ein soziales Projekt spenden wollten, da machte ich ihm den Vorschlag, die erste Ausgabe einer Obdachlosenzeitung zu finanzieren. Das gefiel ihm nicht so gut, da er mich eher wegen einem Projektvorschlag aus der Flüchtlingsarbeit anrief. Aber er versprach mir, die erste Ausgabe einer Obdachlosenzeitung kostenlos zu drucken. Damit war die finanzielle Grundlage für die Straßenzeitung gelegt.

Seit der Tagung in der Akademie besuchten mich immer wieder Obdachlose. Besonders häufig kam Hermann Swoboda. Am 12. Januar 1993 unterhielten wir uns unter einem Baum im Schlosspark der Akademie und ich fragte ihn, ob er in München genügend Obdachlose finden könnte, die sich an einem Zeitungsprojekt beteiligen und ähnlich wie in London solch eine Zeitung auch verkaufen würden. Er bejahte diese Frage und fügte hinzu: „Und I wissat a scho an Nama: BISS – Bürger in sozialen Schwierigkeiten“. Von da an begannen die konkreten Planungen.

Anders als in London sollten die obdachlosen Menschen an der Erstellung der Zeitung beteiligt werden, die wir in Kooperation mit professionellen Zeitungsmachern herstellen wollten. Wir suchten nach Personen, die uns unterstützen konnten und gewannen Christian Schneider von der Süddeutschen Zeitung, Klaus Honigschnabel von der Akademie der Bayerischen Presse und Nicole Üblacker für die Grafik. Hans Venus besorgte den Druck und andere unterstützten uns beim Schreiben. Später kam noch Frater Barnabas von den Benediktinern dazu.

Nach einigen Vorgesprächen habe ich dann zur ersten Sitzung am 1. April 1993 in die Akademie der Bayerischen Presse nach München eingeladen. Wir besprachen das Konzept und vereinbarten, die Straßenzeitung BISS gemeinsam mit Obdachlosen zu erstellen. Weitere Sitzungen folgten am 15. und 28. April 1993, denn die erste Ausgabe sollte im Juni zum Deutschen Evangelischen Kirchentag in München fertig sein. Das haben wir leider nicht geschafft.

Hindernisse

Nachdem bekannt wurde, dass wir eine von Obdachlosen verkaufte Straßenzeitung erstellen wollten, wurde dem zuständigen Mitarbeiter der Inneren Mission jede Zusammenarbeit mit mir verboten – mit ihm hatte ich seit der Akademietagung bestens kooperiert. Der Katholische Männerfürsorgeverein München, der sich für Obdachlose zuständig fühlte, hat mich eindringlich darum gebeten, von diesem Projekt wieder Abstand zu nehmen. Das hat manches erschwert. Aber es wurden immer mehr, die geholfen haben. Da ich ab Mitte September 1993 zur Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau (EKHN) ging, bat ich Klaus Honigschnabel von der Akademie der Bayerischen Presse darum, die koordinierenden Aufgaben künftig zu übernehmen.

Die erste Ausgabe

Die erste Ausgabe von BISS stellten wir bei einem Pressegespräch am 17. Oktober 1993 vor – dem Internationalen Tag der Armut. Unvergessen ist mir die Frage eines Journalisten, ob er denn einen der anwesenden Obdachlosen fragen könne, was er bisher gemacht habe. Ich sagte ihm, dass alle zu solchen Auskünften bereit sind. Er wählte einen aus. Der Gefragte, Hans Gamber, erzählte dann, dass er früher Journalist war. Das wirkte auf die Medienleute wie ein Schock.

Die erste Auflage war schnell vergriffen. Hans Venus hatte genauso wie wir nicht geahnt, dass so viele Exemplare verkauft werden könnten. Er ließ mehrfach kostenlos nachdrucken. Das Papier wurde von der MD Papier GmbH gespendet. Für die kleine Druckerei war bald die Schmerzgrenze erreicht. Aber Hans Venus hielt Wort. Damit war die Grundlage für die Weiterarbeit gesichert.

BISS war die erste von Obdachlosen verkaufte Zeitung in Deutschland. Inzwischen gibt es bundesweit etwa 30. Seit dieser Zeit werden monatlich etwa 40.000 Exemplare von BISS verkauft.

Die Zeitung ist in München anerkannt und beschäftigt inzwischen etwa 100 Menschen, die überwiegend obdachlos sind oder waren. Inzwischen wurde besonders durch das Engagement von Hildegard Denninger eine Stiftung eingerichtet, es gibt eine Fahrradreparatur, Stadtführungen und vieles mehr. Die Geschäftsführerin Karin Lohr hat zahlreiche zusätzliche Aufgaben. Regelmäßig wird auch zu Themen wie Rassismus und Asyl berichtet und Stellung bezogen.

Das Bild von Obdachlosen hat sich durch BISS in München verändert. Entscheidend sind dafür die vielen Kontakte, die Verkäuferinnen und Verkäufer zur Bevölkerung haben. Auf der Magazin-Seite „Was uns verbindet“ wird regelmäßig über diese Begegnungen berichtet.

https://stiftung-gegen-rassismus.de