Herbstfreuden

EIN TEXT AUS DER SCHREIBWERKSTATT

VON Angela-Rodica Crisan

In diesem Sommer habe ich keine Ferien gemacht und stattdessen gearbeitet. Trotzdem, auch wenn ich nicht weggefahren bin, hatte ich eine schöne Zeit. Einmal haben mich ein paar Kunden auf einen Kaffee eingeladen und wir haben uns unterhalten. Zuerst wollte ich mich gar nicht einladen lassen, aber dann bin ich mitgegangen, und es war sehr nett. Auch hat mich gefreut, dass ich fünf oder sechs neue Stammkunden habe. Als ich mich auch mit ihnen unterhalten habe, fragten mich einige, ob ich neu an meinem Verkaufsort wäre. Ich antwortete: „Nein, ich bin schon seit fünf Jahren jeden Samstag hier!“ Sie wunderten sich, dass sie mich noch nicht bemerkt hatten. Und als ich gefragt wurde, ob ich keine Ferien mache, sagte ich, dass ich mir im September ein paar Tage freinehme. An diesen drei Tagen werde ich meinen kleinen Sohn besuchen. Vielleicht gehen wir baden, falls das Wetter gut sein sollte, oder im Park spazieren, je nachdem, was auch die Pflegeeltern vorhaben. Mit ihnen komme ich gut aus, sie kümmern sich sehr gut um meinen Sohn. Leider hat das Hotel, in dem ich bislang immer übernachtet habe, zugemacht. Ich habe zwar ein anderes gebucht, das liegt aber einen Kilometer weiter entfernt. Meine Betreuerin von der Caritas, die ich nicht genug loben kann, hat mir geholfen, die Zugtickets zu besorgen, und auch das neue Hotel hat sie gefunden. Sie will mir nun auch helfen, eine Dunstabzugshaube zu bekommen. Bei der Caritas kennt sie auch jemanden, der die Haube einbauen kann. Mein großer Sohn arbeitet mittlerweile in den Niederlanden in einer Eierverpackungsfabrik. Er kann sehr gut Deutsch, wir sprechen immer deutsch miteinander, und jetzt hat er auch Niederländisch gelernt. Das braucht er allerdings nicht mit mir zu sprechen, da muss er schon bei Rumänisch oder Deutsch bleiben. Mit seinen Kollegen dort hat er sich angefreundet. Während er sehr beschäftigt ist und keine Zeit hat, mich zu besuchen, wird meine Tochter, die in Rumänien lebt, Ende Oktober zu mir kommen, um ihren Geburtstag am 29.10. mit mir zu verbringen. Sie war noch nie in Deutschland und ist schon gespannt, wie es ihr hier gefällt. Sie will eine Woche bleiben und hat mir schon gesagt, dass sie sich viel ansehen möchte. Darauf, ihr alles zu zeigen, freue ich mich sehr.

To be or not to be

EIN TEXT AUS DER SCHREIBWERKSTATT

VON Cristian Vasiliu

Vom Winde verweht fahre ich morgens los zur Arbeit mit der S-Bahn. Wenn ich im Zug drin bin, denke ich an Alexis Sorbas, wie er am Ende des Films sagt: „Boss, das Leben ist Ärger – nur der Tod nicht.“ Mein Ärger gilt der S-Bahn. Denn Achtung, Überraschung! Eine Sache, die zunächst ganz einfach erschien, von einem Ort zum anderen zu gelangen, entwickelt sich zu einer Mission Impossible. Aus dem Off erschallt eine Stimme, die uns verkündet, dass irgendwo in einer anderen Dimension ein Signal gestört ist und unsere Endstation erst einmal eine Sehnsucht bleibt. Das Problem ist, dass das Signal (oder vielleicht sind es auch immer unterschiedliche?) nicht nur heute nicht geht, sondern das auch schon gestern passiert ist, auch vor einer Woche, vor einem Monat und vor einem Jahr – täglich grüßt das Murmeltier. Ganz so, als ob es seine Bestimmung wäre, kaputtzugehen. Ich gerate nicht in Panik, aber es belastet auf Dauer meine Nerven. Ich sehe aus dem Fenster und schaue, ob nicht vielleicht einer übers Kuckucksnest fliegt. Weniger
aus Mangel an Beweisen, sondern mehr an Beschäftigung stelle ich mir schon vor, ich wäre einer, der mit dem Wolf tanzt. Oft bleibt der Zug mitten auf der Strecke liegen. Einmal war ich 50 Minuten eingeschlossen in einer überfüllten S-Bahn, nur 200 Meter von der Station entfernt. Es wäre sinnvoll,
wenn man wenigstens in einem Bahnhof halten könnte, damit, wer es in der S-Bahn nicht mehr aushält, aussteigen kann. So ist jeder frei, kann selbst entscheiden, was er als Nächstes macht. Wenn es eine Baustelle wäre, etwas Neues entstehen würde, würde ich das verstehen. Aber warum das Signal immer wieder kaputtgeht, ist mir schleierhaft, wenigstens sollte man einem die Wahl lassen, zu tun, was man möchte. „Irren ist menschlich, aber auf Irrtümern zu bestehen ist teuflisch“, um es mit den Worten des römischen Philosophen Seneca zu sagen. Oder vielleicht ist es mehr wie in diesem Gedicht von einem unbekannten Verfasser aus längst vergessenen Zeiten, welches ich aus meinem Geburtsland kenne. Darin geht es, kurz geschildert, darum, dass sich eine Gruppe Maurer versammelt, um ein Gotteshaus zu errichten. Aber auf dem Vorhaben liegt ein Fluch: Alles, was sie am Tag aufbauen, wird nachts zerstört.
Mir scheint es, auf der S-Bahn liegt ein ähnlicher Fluch: Fast jedes Wochenende ist die Stammstrecke zwischen Pasing und dem Ostbahnhof gesperrt, weil etwas repariert oder gebaut wird. Trotzdem fallen am
Montag Züge aus oder sind verspätet oder erreichen ihr Ziel nicht. Im Gedicht wird der Fluch durchbrochen und schließlich die Kirche errichtet. Ich frage mich, ob ich es noch erleben werde, dass das Wunder von München geschieht und der Fluch der S-Bahn gebrochen wird.

Die Brille

EIN TEXT AUS DER SCHREIBWERKSTATT

von Angela-Rodica Crisan

Ich habe jetzt zwei Brillen, eine trage ich den ganzen Tag, die andere nur zum Lesen. Das ist bereits mein zweites Set Brillen in diesem Jahr. Vorher habe ich nie eine Brille gebraucht. In den Weihnachtsferien aber war ich in Rumänien und gleich nach meiner Ankunft kurz vor den Feiertagen verspürte ich einen Druck über den Augen und sah alles verschwommen. Meine Tochter wollte mich schon gleich vor Ort zum Arzt bringen, aber ich wiegelte ab und sagte ihr, ich kläre das ab, wenn ich wieder in Deutschland bin. Nach meiner Rückkehr ging ich dann zum Augenarzt. Der untersuchte mich und verschrieb mir eine Brille. Daraufhin bin ich zu einem Optiker gegangen im Olympia-Einkaufszentrum, das bei mir in der Nähe ist. Dort habe ich erst einmal einen Sehtest gemacht. Ich sah alles nur vernebelt. Dann probierte ich verschiedene Gestelle und wählte welche aus. Eine Sache hatte ich aber nicht bedacht und bin da irgendwie hineingerutscht. Die Brillengestelle, die ich ausgesucht hatte, waren recht günstig, aber die Gläser kosteten einzeln ungefähr 250 Euro, und das war dann bei zwei Brillen doch mehr, als ich mir leisten konnte. Als man mir den Preis sagte, 2.000 Euro für beide Brillen, war ich geschockt. Ich hatte keine Ahnung, dass Brillen so teuer sind. Die Summe hatte ich nicht dabei und fragte nach einer Ratenzahlung, die auch kein Problem war. Also schloss ich einen Vertrag mit dem Optikladen ab über zwei Jahre, in denen ich die Brillen abzahlen wollte. Den ersten Monat zahlte ich die Rate. Bei BISS fragte ich dann mal an, ob man mich etwas unterstützen könne bei der Finanzierung. Das macht BISS normalerweise auch, aber die Mitarbeiter waren der Ansicht, dass man mir viel zu teure Modelle verkauft hatte. Die Sozialarbeit nahmen Kontakt zum Brillengeschäft auf und nach einigem Hin und Her war man zu einer Schlichtung bereit. Begleitet von einer BISS-Mitarbeiterin, ging ich wieder zum Optikladen, gab dort die teuren Brillen zurück und löste den Ratenvertrag wieder auf. Ich ließ mir zwei günstigere Brillen machen, die BISS gleich
bezahlt hat. Nach zwei Wochen hatte ich die neuen, mit etwa 375 Euro für beide, deutlich günstigeren Brillen, für die ich 65 Euro aus eigener Tasche bezahlt habe. Die trage ich nun, aber ich musste mich erst einmal daran gewöhnen. Die Dame im Brillenladen hatte mir gesagt, ich solle sie zwei, drei Tage aufsetzen, dann wieder ein paar Tage bis längstens eine Woche nicht mehr. Da ich noch nie eine Brille getragen habe, war das ein komisches Gefühl für mich, die ersten beiden Wochen hatte ich sogar schlimme Kopfschmerzen bekommen, nachdem ich sie ein paar Stunden aufgesetzt hatte. Mittlerweile geht es aber ganz gut, ich habe keine Probleme mehr und bin froh, dass ich aus der Nummer mit den teuren Brillen wieder rausgekommen bin. Für die Unterstützung bin ich BISS sehr dankbar.

Zum 20. Todestag von Rudolph Moshammer

EIN TEXT AUS DER SCHREIBWERKSTATT

von Pietro Dorigo

Es sind schon 20 Jahre vergangen seit dem tragischen Ende eines außergewöhnlichen Lebens. Für uns BISSler wird Rudolph Moshammer unvergesslich bleiben. Er hat an dem Projekt BISS von Anfang an mitgewirkt. Mit seinem Verein unterstützt er die Festanstellung von BISS-Verkäufern heute noch. Mir bleibt die Erinnerung an sein Geschäft in der Maximilianstraße. Es waren die Jahre 1996 bis 1998, als es mir finanziell nicht gut gegangen ist und ich immer wieder auf der Maximilianstraße entlang gegangen bin. Das hat meiner Seele gutgetan, für einen Augenblick konnte ich meine Not vergessen. Besonders beeindruckt war ich, dass vor dem Moshammer-Geschäft „Carnaval de Venise“ immer Menschen stehen geblieben sind. Ein paar Mal konnte ich ihn auch persönlich aus der Ferne sehen. Heute, wenn ich mit der Tram 21 vorbeifahre, blicke ich immer noch dorthin, wo sein Laden war, und stelle fest, dass nicht nur das Geschäft nicht mehr da ist, die Maximilianstraße ist auch nicht mehr das, was sie mal war. Sie ist zwar noch schön, aber steril, ohne Seele, an jeder Ladentür ist ein Aufpasser. Vielleicht muss das in dieser Zeit heute so sein, aber schön ist das nicht. Jetzt, Anfang Februar, habe ich im Fernsehen eine Spezialausgabe der BR-Reihe „Lebenslinien“ zu Moshammers Todestag gesehen. Beeindruckt hat mich in einem dort gezeigten Interview seine Antwort auf die Frage eines Journalisten, in der er erklärt, dass er sich nicht als homosexuell bezeichnen will, weil er sich nur in die Seele des Menschen verliebt, egal ob es ein Mann oder eine Frau ist. Ich glaube, es geht mir auch so. Ruhe in Frieden.

Eine unvergessliche Klassenfahrt

EIN TEXT AUS DER SCHREIBWERKSTATT

von Waldemar Niklaus

Eigentlich war ich mit der Schule fertig, hatte nach dem Ende der achten Klasse meinen Schulabschluss gemacht, wie es in Kirgisistan möglich ist. Anschließend bin ich jedoch mit meiner Familie als Spätaussiedler nach Deutschland ausgereist. Nach den ersten vier Tagen, die wir im Aufnahmelager Friedland waren, habe ich mit meinen Eltern und Geschwistern in der Stadt Norden in Ostfriesland gelebt. Obwohl ich die Schule schon beendet hatte, besuchte ich dort die letzte Klasse einer Hauptschule, um Deutsch zu lernen. Ich sprach zwar schon Deutsch, aber es war noch nicht so, wie die Leute hier im Land es taten. Vier andere Russlanddeutsche gab es noch in der Klasse, mit ihnen erhielt ich für ein paar Stunden in der Woche zusätzlichen Unterricht. Nach einem Jahr haben wir dann alle zusammen den Hauptschulabschluss gemacht. Kurz vor Ende des Schuljahres unternahm unsere Lehrerin mit uns allen eine Abschiedsfahrt auf dem Schiff.

Für mich war es ein ganz aufregendes und lustiges Erlebnis, da ich noch nie zuvor so was gemacht hatte. Wir sind durch Holland gefahren, haben an Bord gewohnt und selbst gekocht. Die Matrosen spielten Gitarre und unsere Lehrerin hat dazu gesungen. Jeden Abend hielten wir auf einer anderen Insel. Dann durften wir vom Schiff runter und alleine herumlaufen. Es war Sommer, schönes Wetter und die Tage waren lang. Wir sind auf den Inseln herumspaziert, haben alles angeschaut und sind essen gegangen. In unserer Klasse waren Russlanddeutsche und Deutsche zusammen und wir haben uns super verstanden. Zu zwei von meinen Schulkameraden habe ich noch Kontakt. Wenn ich zu meiner Mutter fahre, besuche ich die beiden auch. Eines Abends sind wir wie üblich auf einer Insel ausgestiegen und alle haben sich in verschiedene Richtungen verstreut. Meine Kumpels und ich haben uns die Sehenswürdigkeiten der Insel angeschaut und sind dann zu McDonald’s. Als wir wieder zurückkehren mussten, war das Schiff nicht da! Das war ein Schock! Wir haben alle ein bisschen Angst bekommen. Zum Glück verstanden die holländischen Spaziergänger das, was wir sie auf Deutsch gefragt hatten, und zeigten uns, wo noch eine weitere Anlegestelle war. Dort lag das Schiff dann auch. Alle waren auch noch nicht wieder zurückgekehrt. Nach und nach aber haben auch die anderen zurückgefunden. Schließlich war es eine Insel, da gab es nicht so viel, wo man sich verlaufen konnte.
Unsere Lehrerin hat über unser Erlebnis gelacht. Am letzten Nachmittag unserer Klassenfahrt hat das Schiff auf der Rückfahrt eine kleine unbewohnte Insel angesteuert. Dort machten wir ein Lagerfeuer und aßen gemeinsam. Danach sind wir nach Groningen gefahren und mit dem Bus zurück. Diese Fahrt war wirklich schön gewesen, einfach unvergesslich.