Das Frauenobdach Karla 51 bietet Frauen für eine befristete Zeit ein Dach über dem Kopf. Wir haben mit einer von ihnen über ihren Weg in die Obdachlosigkeit, ihr Leben im Karla 51 und ihre Hoffnungen für die Zukunft gesprochen.
Text und Fotos
LEON SCHEFFOLD
Frau Weber sitzt vor einem Stück Kuchen im dritten Stock des Frauenobdachs Karla 51. Die 62-Jährige trägt einen dicken Wollpulli, darunter ein Hemd. Ihre Brille sitzt auf der Nasenspitze, sie schielt über die Brillengläser auf das Gebäck und teilt es mit einem Messer in zwei Hälften, bevor sie eine davon auf ihren Teller hebt. Von den süßen Sachen kann sie nicht mehr viel essen, sagt sie, „wegen des Zuckers“. Frau Weber ist eine der 55 Frauen, die Unterkunft im Frauenobdach Karla 51 in der Münchner Karlstraße gefunden haben – „ein Riesenglück“, wie sie sagt. Karla 51 ist ein besonderes Haus. Seit 1996 ist es als Frauenobdach mit 55 Einzelzimmern eine Anlaufstelle „für alle Frauen, die Hilfe brauchen“, sagt Frau Speck, die als Sozialarbeiterin im Haus tätig ist. Hilfsbedürftige sind meist Frauen, die von akuter Obdachlosigkeit bedroht sind oder bereits auf der Straße leben. Häufig klopfen aber auch Frauen an die Tür, die Gewalt in ihrer Partnerschaft oder in der Familie erlebt haben. Wenn ein Zimmer frei ist, findet eine Frau, die nach Hilfe sucht, für acht Wochen Obdach im Karla 51. „Die Frauen können ein Einzelzimmer mit einem eigenen Schlüssel beziehen“, sagt Frau Speck, die seit einem Jahr hier arbeitet. „Jede Frau hat Zeit für sich, um einmal durchzuatmen.“ In diesen acht Wochen bekommen sie Unterstützung bei allem, was sie ohne Hilfe nicht schaffen: Arztbesuche, Rechnungen, der Weg zum Jobcenter. Zehn Sozialarbeiterinnen betreuen die Frauen im Haus. „Unsere Arbeit besteht darin, mit den Frauen im selben Tempo zu gehen“, sie also nicht zu überfordern, ihnen die Hilfe nicht aufzuzwingen, so Frau Speck. Die Mithilfe der Frauen ist dennoch eine Voraussetzung für die Zusammenarbeit.
Auch Frau Weber fand den Weg zu Karla 51 nach einer langen Zeit auf der Straße. Vor acht Jahren verlor sie ihren Job als Bäckereiverkäuferin. Damals, im Jahr 2015, erkrankte ihr Mann und wurde arbeitsunfähig. Herr und Frau Weber arbeiteten beide nicht mehr. Als das Geld knapp wurde, verkauften sie erst das Auto, doch später konnten sie ihre Miete nicht mehr stemmen. Während Herr Weber ein kleines Zimmer im Münchner Osten fand, das für das Ehepaar zu klein war, kam Frau Weber vorübergehend bei ihrem Ex-Mann unter. Ein halbes Jahr, dann zog sie auch dort aus. Ohne einen Plan zu haben, wo sie unterkommen könnte, fuhr sie zum Münchner Flughafen. Die kommenden sieben Jahre lebte Frau Weber im Terminal des Münchner Flughafens, schlief auf einer Sitzbank, putzte sich die Zähne in den Toilettenräumen des Terminals. „So weit war das eigentlich ganz okay. Man gewöhnt sich dran“, sagt sie. Alles, was sie besaß, hatte sie immer mit dabei: eine Tasche, einen kleinen Rucksack, der abends zu ihrem Kopfkissen wurde, einen Mantel, den sie als Decke nutzte. Frau Weber bekam selten Probleme. Sie wusste, wann der Sicherheitsdienst kommt: „Um vier Uhr morgens, um vier Uhr nachmittags und manchmal noch zur Mittagszeit.“ Wenn die Sicherheitsmänner wieder ihre Runden drehten, „hab ich mich halt kurz verdrückt“, erzählt Frau Weber, mit einem leisen Lächeln im Gesicht. Meist war das erfolgreich, ein paar Mal habe sie Hausverbot bekommen. „Das war mir dann aber irgendwann einfach egal.“ Sobald der Sicherheitsmann weg war, kehrte sie zurück auf die metallene Sitzbank, auf der sie mehr als 2.500 Nächte verbrachte. Ihr Mann wusste jahrelang nicht, wo sie wirklich lebte. Eine gemeinsame Freundin verriet ihm das Geheimnis. „Er war mehr oder weniger geschockt“, sagt Frau Weber. „Von mir würde er es heute noch nicht wissen.“
Fast die gesamte Zeit über, in der Frau Weber am Flughafen lebte, arbeitete sie. Bei einem Bäcker in einem Münchner Vorort, meistens nachts. Im Januar letzten Jahres schmiss sie ihren Job hin. Darauf folgten Monate am Flughafen ohne eine Aufgabe. Eine Wunde an Frau Webers Bein entzündete sich, sie suchte Hilfe bei einer Freundin, die sie aus der Bahnhofsmission kannte. Die Freundin riet ihr, zu Karla 51 zu gehen. Ein paar Tage später, Anfang Juni, klopfte Frau Weber an die Tür des Frauenobdachs in der Karlstraße, nicht weit vom Münchner Hauptbahnhof. Sie hatte Glück, das Haus hatte Kapazitäten, und so fand sie bei Karla 51 ein Zimmer nur für sich, ein warmes Bett und die Chance auf ein neues Leben
Frau Weber rückt ein Stück näher an den Tisch, vor dem sie sitzt. Beherzt nimmt sie sich die zweite Hälfte des Kuchens und denkt an ihre Freundin aus der Bahnhofsmission. „Ich bin ihr dankbar, dass sie mir in den Arsch getreten hat. Sonst würde ich wohl heute noch am Flughafen rumhängen.“
Karla 51 wird vom evangelischen Hilfswerk, der Diakonie, der Stadt München und durch Spenden finanziert. Wenn ein Zimmer frei ist, findet eine Frau Hilfe und Obdach in einem der Zimmer des fünfstöckigen Hauses. „Ein Einzelzimmer, mit einem eigenen Schlüssel“, sagt Frau Speck. Wenn acht Wochen nicht ausreichen, um eine neue Wohnung zu finden oder alle Formalia zu klären, kann die Zeit im Haus auch verlängert werden. Viele Frauen, die bei Karla 51 ankommen, haben keinen festen Wohnsitz. Während der Weg auf die Straße bei Männern oft direkt ist, spricht man bei Frauen häufiger von „verdeckter Wohnungslosigkeit“, so Frau Speck. Sie kommen bei Freunden oder Verwandten unter, übernachten von Nacht zu Nacht auf anderen Sofas und landen in letzter Instanz auf der Straße. Die Gründe, weshalb Frauen ihren Wohnsitz verlieren, sind häufig Trennungssituationen: „Eine Beziehung zerbricht, die Frau steht nicht im Mietvertrag und muss die Wohnung räumen.“ Plötzlich ist sie obdachlos. Auch junge Frauen finden immer häufiger den Weg zu Karla 51: „Wir haben inzwischen auch viele jüngere Frauen bei uns, bei denen die Jugendhilfe einfach nicht mehr weiter greift“, so Frau Speck.
Das Ziel von Karla 51 ist, den Bewohnerinnen eine eigene Wohnung zu vermitteln. Allerdings ist eine erfolgreiche Vermittlung in eigenen Wohnraum eher die Ausnahme, denn: Eine Sozialwohnung zu bekommen ist kein Spaziergang. In München funktioniert der Prozess über die Online-Plattform „SOWON“. Auf dieser Plattform registriert man sich, erstellt ein Konto und sendet damit einen Antrag an die Stadt, um sich für Sozialwohnungen bewerben zu dürfen. Wenn man die Kriterien erfüllt – also Bürgergeld bezieht oder Geringverdiener ist –, wird dem Antrag stattgegeben. Oft würde die Bearbeitung des Antrags allerdings mehrere Monate, teilweise sogar ein halbes Jahr dauern, so Frau Speck. Die Stadt gibt einen Bearbeitungszeitraum von rund vier Monaten an. Auch wenn es so weit ist und der Antrag gestattet wird, hat man noch lange keine Wohnung, sondern lediglich das Recht, sich auf eine Sozialwohnung bewerben zu können. Dann beginnt das eigentliche Problem: „Teilweise bewerben sich auf eine Sozialwohnung schon bis zu 500 Menschen“, so Frau Speck.
Laut der Stadt werden die verfügbaren Wohnungen dann nach Dringlichkeit vergeben, die anhand einer Punktetabelle erfasst wird: wohnungslos – 120 Punkte, Schwangerschaft – 30 Punkte, Nachbarschaftskonflikte – 10 Punkte. Doch auch wer viele Punkte vorweisen kann, hat keine hohe Chance, in absehbarer Zeit eine Sozialwohnung in München zu bekommen. „Für uns ist das immer ein Highlight, wenn jemand über die Plattform SOWON wirklich eine Wohnung findet“, sagt Frau Speck. Karla 51 versucht im Einzelfall alles möglich zu machen und eine geeignete Unterbringung für die Frauen zu organisieren. Viele von ihnen haben psychische Probleme, brauchen auch nach ihren acht Wochen bei Karla 51 noch Unterstützung. Für diese Frauen gibt es in der Stadt Einrichtungen, in denen eine langfristige Unterbringung möglich ist. Doch auch die sind schwer zu bekommen. „Es gibt einfach zu wenige Plätze.“
Im Härtefall können Frauen, besonders in akuten Situationen, auch Obdach in einem Notquartier finden. Das Problem: Dort gibt es meist nur Mehrbettzimmer, sie sind „kein Ort, wo man zur Ruhe kommen kann“, sagt Frau Speck. Was sie sich von der Politik wünschen würde? Mehr Sozialwohnungen, mehr Plätze in Frauenhäusern und mehr niedrigschwellige Beratungs- und Unterstützungsangebote, um die oftmals großen Hürden der Bürokratie zu überwinden. Niedrigschwellige Hilfsangebote, wie Karla 51 eines ist, gibt es in Deutschland zu wenige. Eine Studie des Frauenhaus-Koordinierung e.V. im Jahr 2022 fand heraus, dass in Deutschland rund 21.100 Plätze in Frauenhäusern benötigt werden. Davon existieren nur 6.800, mehr als 14.000 Plätze fehlen also. Gemeinschaftsunterkünfte sind für Frauen oft keine Option, besonders dann nicht, wenn sie von Gewalt betroffen waren. Die Ampelregierung hat sich im Koalitionsvertrag vorgenommen, mehr Geld für Frauenhäuser bereitzustellen und das Angebot flächendeckend zu erhöhen. Bis heute ist der Gesetzesentwurf dafür noch nicht in Sicht Frau Weber wird wohl ein knappes halbes Jahr bei Karla 51 verbringen. Mit der Hilfe von Frau Speck konnte sie Arbeitslosengeld beantragen, einen Sozialwohnungsantrag stellen, einen Krankenversicherungsschutz wiederherstellen und sich um ihre Diabetes-Erkrankung kümmern. Frau Weber verbringt viel Zeit in Passau, fährt jedes Jahr an Weihnachten zu Freunden, die sie dort hat. Sie träumt von einer Wohnung in der Stadt, einem Neuanfang, zusammen mit ihrem Mann. Karla 51 war ihre Rettung, wie sie selbst sagt. In wenigen Monaten wird sie ihre Rente beantragen und sich dann vielleicht den Traum von der eigenen Wohnung in Passau erfüllen können. „Am liebsten eine mit Blick auf die Donau“, sagt sie und schiebt das letzte Stück des Kuchens auf ihre Gabel.