BISS-Ausgabe April 2024 | Zugewandt

Cover des BISS-Magazins April 2024

Inhalt | Zugewandt | Sich jemandem zuwenden oder Zuwendung erhalten kann auf unterschiedlichste Weise geschehen | 6 Am Gleis 11: Die Bahnhofsmission in München | 12 Belegrechtsprogramm: Sozial vermieten | 16 Wenn es schnell gehen muss: Bereitschaftspflegemütter springen innerhalb von Stunden ein| 20 Auslandsstipendium: Auch mit wenig Geld lässt sich Auslandserfahrung sammeln | SCHREIBWERKSTATT | 5 Wie ich wohne | 26 BISS-Verkäufer*innen erzählen, was sie bewegt | Rubriken | 3 Editorial | 28 Patenuhren | 29 Freunde und Gönner | 30 Impressum, Mein Projekt | 31 Adressen

Wie ich wohne

Wer wohnt wie? In der Kolumne geben Menschen aus dem BISS-Netzwerk Einblicke in ihren Wohnalltag. Sie erzählen, wie sie früher gelebt haben, wie sie momentan wohnen und was sie sich für die Zukunft erhoffen.

Der Akribische

Protokoll FELICITAS WILKE

Foto MARTIN FENGEL

„Eine Führung durch meine Zweizimmerwohnung im Münchner Osten beginnt am besten auf dem Balkon. Hier verbringe ich gerne Zeit. Zum Rauchen, aber auch zum Gärtnern. Auf wenigen Quadratmetern findet man hier Topfpflanzen, aber auch Efeu oder Zyklamen. Selbst Mais und Bohnen habe ich hier schon angebaut und geerntet. Das ist für mich zu einem richtigen Hobby geworden. An den Balkon grenzt das Wohnzimmer, in dem ich nicht nur fernsehe oder Zeitung lese, sondern auch schlafe und arbeite. Ich habe nämlich einen Mitbewohner, einen Krankenpfleger aus Nepal, der im kleineren Zimmer wohnt. Ich helfe ihm mit dem ganzen bürokratischen Papierkram, weshalb in meinem Zimmer auch ein PC und viele Aktenordner stehen. Wir kommen gut miteinander aus und unterstützen uns gegenseitig. Er kocht zum Beispiel recht gern. Danach duftet die Küche immer nach Koriander, Curry und Kurkuma. Für meinen Geschmack sind das manchmal ein bisschen zu viele Gewürze, aber solange es nicht zu scharf ist, esse ich gern mit. Ansonsten begebe ich mich selbst an den Herd und koche Nudeln mit Olivenöl – ganz klassisch, wie in Italien. Aufgewachsen bin ich nämlich an der Weinstraße in Südtirol. Ich war Einzelkind und meine Mutter ist früh verstorben. So spielte sich meine Kindheit vor allem in der Natur ab. Ich erinnere mich noch gut an meinen Schulweg, der gesäumt war von Kastanienbäumen. Nach der Schule habe ich Kellner gelernt, und zwar im besten Hotel der Region. Noch bevor ich zum Militärdienst musste, führte mein Beruf mich sogar ins Ausland, ins edle Sofitel nach Lyon in Frankreich. Nach meiner Zeit beim Militär landete ich über einen Zwischenstopp in Innsbruck in München. Dort bin ich hängen geblieben und arbeitete weiterhin als Kellner in verschiedenen Lokalen und Cafés. In meinem Beruf war ich ein Profi, doch von brutto und netto wusste ich damals noch nicht so viel – und verdiente daher letztlich weniger, als ich eigentlich dachte. Außerdem geht die Gastronomie ganz schön auf die Knochen. Die Arbeitstage sind lang, man steht die ganze Zeit und trinkt mitunter zu viel Alkohol. Ich konnte meinen Beruf irgendwann nicht mehr ausüben und ging in Frührente. Toll ist meine Rente nicht, aber ich habe ja noch meine Arbeit bei BISS. Da ich gesundheitlich nicht ganz fit bin, gilt meine Wohnung als behindertengerecht und hat unter anderem ein barrierefreies Bad. Das funktioniert aber leider nicht ganz so, wie es sollte: Das Wasser fließt nicht richtig ab. Ansonsten lebe ich aber gern in meiner Wohnung. Die Städtische Wohnungsgesellschaft, zu der das Haus gehört, ist ein angenehmer Vermieter. Solange ich ihr keinen Stress mache, bereitet sie mir auch keinen. Insgesamt zahlen wir 810 Euro an Miete. Mit Mieterhöhungen hält sich die GWG glücklicherweise sehr zurück. Allerdings hatte ich zuletzt eine hohe Nebenkostennachzahlung: 1.000 Euro – die muss man erst mal reinarbeiten. Ich zahle sie jetzt in Raten zurück, was zum Glück möglich ist.“

Sozial vermieten

In München warten mehr als 20.000 Menschen auf eine Sozialwohnung. Mit Bauen allein kann die Stadt den steigenden Bedarf nicht decken. Seit 2018 haben Vermieterinnen die Möglichkeit, der Stadt ihre Wohnung über das Belegrechtsprogramm zur Verfügung zu stellen. Ein Angebot, das nicht nur für sozial engagierte Vermieterinnen interessant ist.

Der steigende Bedarf an Sozialwohnungen kann durch Bauen allein nicht gedeckt werden. Das Belegrechtsprogramm der Stadt
München bietet Vermietern und Mietern Vorteile.

Von
THERESA BRANDL
Illustration
ANNA MICHELONI

„Mei.“ Ein typisch bayerisches Wort. Es drückt aus, dass man an der Situation gerade nichts ändern kann. Die Bahn ist schon wieder verspätet? Mei. Es gibt keine Brezn mehr beim Bäcker? Mei. Die Maß kostet auf der Wiesn über 14 Euro? Ja mei. Auch Wolfgang Donhärl kommt dieses Wort im Gespräch oft über die Lippen. Es scheint, als könne er vieles so hinnehmen, wie es ist. In einem Zusammenhang fällt sein Lieblingswort allerdings nie, nämlich wenn es um die Münchner Mietpreise geht. Da verwandelt sich die bayerische Gemütlichkeit, die Wolfgang Donhärl ausstrahlt, ganz schnell in den nicht weniger typischen Grant. Einmal, so erzählt er, habe er die Daten einer der 14 Wohnungen in seinem 120 Jahre alten Haus – von der Mama geerbt – auf Immoscout gestellt. Einfach, um zu schauen, was passiert. Direkt ploppte eine Eilmeldung auf mit der Info, dass er für eine Wohnung in dieser Lage locker 21 Euro pro Quadratmeter verlangen könne. „Dann denkst du dir so: Sag amal, spinnt’s ihr, oder was?“ Donhärl lebt mittlerweile seit 25 Jahren in diesem Haus mitten in der Au, mit Unterbrechungen aber sogar seit 57 Jahren. Er wurde hier geboren. Vor sieben Jahren haben seine Schwester und er es dann geerbt, eines war dabei von Anfang an klar: Sie wollen das fortführen, was die Mama ihnen vorgelebt hat: soziales Vermieten. Es verwundert also nicht, dass Donhärl sofort aufmerksam wurde, als er vom Belegrechtsprogramm gelesen hat. Das Belegrechtsprogramm der Stadt München hat folgendes Ziel: Vermieterinnen stellen der Stadt ihre Wohnung als Sozialwohnung zur Verfügung. Im Gegenzug bekommen die Vermieterinnen eine einmalige Prämie ausbezahlt und erhalten Mietpreise bis zur Höhe des aktuell gültigen Mietspiegels. Warum es ein solches Programm dringend braucht, lässt sich mit zwei Zahlen beschreiben:

WOLFGANG DONHÄRL
Zusammen mit seiner Schwester hat er vor sieben Jahren von seiner Mutter ein Haus geerbt. Beide beschlossen, die Wohnungen im Sinne der Mutter weiter sozial zu vermieten. Das Belegrechtsprogramm bietet dafür interessante Möglichkeiten.
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Schicksalstag 16. April

EIN TEXT AUS DER SCHREIBWERKSTATT

von Pietro Dorigo

Bis letztes Jahr hatte der 16. April in meinem Leben eine traurige Bedeutung. An diesem Tag ist vor vielen, vielen Jahren mein Opa Amadeo mit 69 Jahren gestorben. Am 16. April 1990 ist leider auch mein Vater gestorben, ebenfalls mit 69 Jahren. Seit dem Tod meines Vaters habe ich mich immer wieder gefragt, manchmal im vollen Ernst, manchmal weniger ernsthaft: „Wann bin ich dran?“ Ich habe gleich kalkuliert, dass es am 16.4.2023 passieren müsste, wenn ich selbst 69 Jahre alt wäre. Bis Ende der 90er-Jahre hat mich dieses Datum immer mal beschäftigt, aber dann habe ich nicht mehr so oft daran gedacht. Ab 2020 kam mir der Gedanke wieder öfter. Seit März 2023 habe ich fast jeden Tag daran gedacht und mich gefragt: „Bin ich jetzt dran oder noch nicht?“ Am 15. April letzten Jahres war ich ganz normal zu Hause und es war mir vollends bewusst, dass morgen der besagte Tag sein würde. Der 15. war ein Samstag und Gott sei Dank musste ich am Tag danach keine BISS verkaufen. Ich bin die ganze Nacht wach geblieben, einzige Gesellschaft war meine Freundin Carmensita, eine italienische Kaffeemaschine. Sie hat mich die ganze Nacht wachgehalten. Gegen halb sechs am Sonntagmorgen wurden die Gedanken immer ernster, weil mein Opa gegen halb sieben gestorben war und mein Vater kurz nach sieben. Immerzu habe ich auf die Uhr geschaut und Kaffee getrunken. Als es halb acht wurde, habe ich unbeabsichtigt einen lauten Befreiungsschrei losgelassen, den, glaube ich, beide Nachbarn gehört haben. Ich weiß nicht, was sie dachten, aber ein paar Tage später habe ich einen von ihnen getroffen, der zu mir sagte: „Hast du laut geträumt?“ Ich antwortete ihm nur „Gott sei Dank!“, ohne ihm eine weitere Erklärung zu geben. Einige Zeit später habe ich mich an eine andere Begebenheit erinnert: Vor langer Zeit, ich war noch sehr jung, vielleicht 15 oder 16, hatte mir ein Magier aus meiner Gegend, der ebenfalls den Namen Pietro trug, ein langes Leben vorausgesagt. Über 90 Jahre alt sollte ich werden. Heute denke ich, vielleicht hat er recht gehabt.

Sprache ist erfinderisch

Karin Lohr, Foto: Volker Derlath

Einmal angenommen, Sie lesen folgende Meldung: „An der Festveranstaltung in Schloss Schleißheim nahmen auch Vertreter der bayerischen Staatsregierung teil. Der Ministerpräsident und drei Staatsminister erschienen in Tracht, einer von ihnen trug ein Dirndl mit geblümter Schürze.“ Das Bild, das im Kopf entsteht, irritiert. Zwar traut man dem einen oder anderen Regierungsmitglied durchaus so einen Auftritt zu, um maximale Aufmerksamkeit zu erreichen. Aber auf einer Festveranstaltung, noch dazu in Schloss Schleißheim? Mit dem generischen Maskulinum, also der grammatisch männlichen Form auch für gemischte Personengruppen, landet man hier in einer Sackgasse. Sollte man also besser „Staatsministerinnen“ schreiben? Nun ist nicht bekannt, ob es in der bayerischen Staatsregierung eine nicht binäre Person gibt, die sich als weder weiblich noch männlich versteht und für eine Vielfalt traditioneller Geschlechterrollen steht. Das Gendersternchen wäre also für genau diese Nachricht nicht optimal. Ganz anders bei einer Politparade der anderen Art, dem Christopher Street Day. Bei dieser Veranstaltung geht es um gleiche Rechte für Lesben, Schwule, Bisexuelle, trans, inter* und queere Menschen (LGBTIQ). Wie könnte man die Hunderttausenden von Aktivistinnen oder Zuschauer*innen treffender benennen als mit dem Sternchen? Hier leuchtet es besonders hell, und zwar über allen, die friedlich und gut gelaunt an dem Tag in Münchens Straßen unterwegs sind. Unsere Gesellschaft ist in Bewegung und damit auch die Sprache, mit der man sie und die Menschen beschreibt. Das erfordert Nachdenken und gelingt nicht immer auf Anhieb. Eine frühere Gleichstellungsbeauftragte der Stadt hat das schon vor vielen Jahren auf den Punkt gebracht: „Da ist doch nichts gegendert, wenn auch Frauen in der Sprache vorkommen.“ Es ist keine Wortfindung besonders progressiver Kreise, einen weiblichen Gast als „Gästin“ zu bezeichnen. So steht es schon im Deutschen Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm aus dem 19. Jahrhundert. Im besten Fall gelingen gut lesbare, unterhaltsame und genaue Texte, die Geschichten erzählen, aus denen diejenigen, die sie lesen, etwas über den Zustand der Welt erfahren. Dazu braucht es eine präzise und anpassungsfähige Sprache. Dirndl hin oder her.

Herzlichst

Karin Lohr, Geschäftsführerin