Von BENJAMIN EMONTS
Fotos TOBY BINDER
Standhaft bleiben. Die Deckung halten. Einstecken können, ohne gleich wütend zu werden. Das sind die ersten und wohl wichtigsten Lektionen, die der Sozialpädagoge Jürgen Zenkel seinen Schützlingen beim Boxen mit auf den Weg gibt. Im Ring, so seine Anweisung, neigen die Jugendlichen deshalb ihren Oberkörper leicht nach vorn, gehen mit den Beinen etwas in die Knie und halten ihre Fäuste zur Deckung vor das Gesicht. Das Ziel lautet stets: stabil stehen und stabil bleiben. Egal ob im Boxring – oder in der Welt da draußen. Denn genau damit haben die Jugendlichen die größten Probleme. Die Work and Box Company – so heißt das Projekt – ist inzwischen 21 Jahre alt. Sie nimmt sich junger Frauen und Männer im
Alter zwischen 15 und 21 Jahren an. Die meisten von ihnen sind gewaltbereit und bereits straffällig geworden. Sie kommen meist aus prekären familiären Verhältnissen und schleppen traumatische Erlebnisse mit sich herum, die zu Wut, Hass und Gewaltexzessen führen. Die Work and Box Company will diese Jugendlichen trotz aller Widrigkeiten zurück in ein geregeltes Leben führen: durch enge persönliche Betreuung, Arbeit, Unterricht – und eben auch Boxen.
Finanziert wird das Projekt über das Jugendamt, eine Stiftung und vereinzelte Spenden. Die zwölf Plätze sind fast immer belegt. Das Thema Jugendkriminalität ist in München zuletzt wieder stark in den öffentlichen Fokus gerückt, nachdem es immer wieder zu schweren Straftaten kam. Im August 2023 hat eine Gruppe von Jungen und Mädchen im Westend eine zwölfjährige Mitschülerin über Stunden gequält und misshandelt – ihre Tat hatten sie auch noch gefilmt. Ein ähnlicher Vorfall trug sich nur Tage später in Bogenhausen zu. Erst Anfang Mai wurde in München-Riem ein 16-Jähriger mit einem Messer lebensgefährlich verletzt, ein 15-Jähriger sitzt seither in U-Haft. Diese Häufung bereitet den Behörden Sorgen: Zwar ist die Jugendkriminalität seit vielen Jahren insgesamt rückläufig, doch werden die Angriffe immer skrupelloser und brutaler. Besonders häufen sich erpresserische Raubdelikte durch Kinder und Jugendliche auf offener Straße – in Jugendsprache spricht man vom „Abziehen“.
Kriminologische Untersuchungen zeigen, dass die jugendliche Neigung zu Straftaten – die sogenannte Jugenddelinquenz – im Alter von 21 Jahren ihren Höhepunkt erreicht, danach nimmt sie wieder ab. Stadt, Polizei und Justiz setzen in diesem Wissen verstärkt auf Prävention. Statt langer Arreste, die oft eine hohe Rückfallquote nach sich ziehen, können Jugendgerichte anordnen, dass die jungen Straftäter an Projekten wie der Box and Work Company teilnehmen. Bestehen sie die Anforderungen, können sie eine Bewährungs- oder Haftstrafe umgehen. Im Durchschnitt müssen die Jugendlichen das Projekt zehn bis zwölf Monate lang absolvieren. In dieser Zeit versucht die Work and Box Company, den Jugendlichen zu einem Schulabschluss und Berufseinstieg zu verhelfen.
Beides sind zentrale Bausteine, um junge Menschen zurück in ein straffreies Leben zu bringen. Die Zentrale des Projekts liegt unscheinbar zwischen Einfamilienhäusern in einem Hinterhof in Berg am Laim, früher saß hier ein Gewerbebetrieb. Es gibt hier Unterrichtsräume, eine Küche und eine Werkstatt, in der die Jugendlichen kreativ mit Metallen und Holz arbeiten können. Neben Zenkel sind in dem Projekt drei Vollzeit- und drei Teilzeitkräfte engagiert, darunter Sozialpädagogen, ein Schreiner, ein Psychologe und ein Schiffsbauingenieur. Sie unterrichten die Jugendlichen, schreiben mit ihnen Bewerbungen und sind für sie immer ansprechbar.
Eine zentrale Rolle spielt der Sport. Über eine Holztreppe geht es in den Boxkeller, in dessen Zentrum ein vier mal vier Meter großer Boxring steht. Die Regale sind voller Boxhandschuhe und Medizinbälle, von der Decke hängen Boxsäcke, an der Wand ein großes Banner mit der Aufschrift „Friedensschlag“. Dieser Begriff ist hier Programm, denn die Jugendlichen – das mag zunächst paradox klingen – sollen ausgerechnet durch den Kampfsport Boxen zu einem gewaltfreien Leben finden. An diesem Vormittag stehen Cosmin und Aron im Ring, beides Gewalttäter und 18 Jahre alt. Wie üblich nehmen sie auf Anweisung des Jugendamts oder eines Jugendgerichts an dem Projekt teil. Die beiden tänzeln leichtfüßig durch den Ring, Cosmin mit rotem Kapuzenpulli, Aron mit einem Fußballtrikot seiner marokkanischen Heimatstadt Tanger. Mit Links-rechts-links-Kombinationen treibt Aron Cosmin in die Defensive, doch der hält dagegen. „Halt deine Deckung, nicht so weit runter, du musst mehr ackern“, ruft ihm Sozialpädagoge Zenkel zu. Cosmin nickt und wird agiler. Tänzeln, ausweichen, Linkshaken, rechte Gerade. Nach drei Minuten beendet Zenkel die Runde und steigt selbst in den Ring.
„Beim Boxen geht es verdammt stark ums Vertrauen“, sagt der Sozialpädagoge. Das Ziel des Trainings sei nicht, dass die Jugendlichen aufeinander losgehen, sondern sie sollen lernen, auch in Stresssituationen die Selbstkontrolle zu bewahren. Mit verschiedenen Übungen wird daher auch ihre Frusttoleranz trainiert. Cosmin muss etwa die Bauchmuskeln anspannen und Aron darf ihm 30 Sekunden immer schneller auf den Bauch schlagen, während Cosmin ihm per Nicken oder Kopfschütteln signalisiert, wie weit er noch gehen darf. Sie sollen einander vertrauen, aber auch für sich einstehen. In gewisser Weise eine Form der Deeskalation. Ihre Geschichte erzählen Aron und Cosmin unter vier Augen im Unterrichtsraum. Sie wollen in diesem Bericht ihre Gesichter nicht zeigen und bloß ihren Vornamen nennen, weil sie ihre Taten bereuen und Angst haben, sonst keine Lehrstelle zu bekommen. Aron hat vor drei Jahren unerwartet seine Mutter verloren. Das Verhältnis zum Vater ist schwierig, „er ist streng und kritisiert mich immer“. Also „chillte“ Aron die meiste Zeit draußen mit älteren Freunden, er trank Alkohol, kiffte, vertickte Drogen in der Schule und zog Leute auf der Straße ab. Der Tiefpunkt war erreicht, als er mit einem Kumpel einen jungen Mann in der S-Bahn verprügelte und ihm eine Rolex abnahm: räuberische Erpressung. Er verbüßte einen Wochenendarrest und musste als Auflage vom Gericht zur Work and Box Company, um eine längere Haftstrafe abzuwenden. Auch Cosmin fing mit 14 Jahren an, draußen rumzuhängen und zu kiffen, seine Noten litten darunter, die Schule wurde immer mehr zu Last, bis er irgendwann nicht mehr hinging. Die Polizei und das Jugendamt schalteten sich ein. Ein Familiengericht kam zu dem Schluss, dass seine Eltern sich nicht richtig um ihn kümmerten. Auch Cosmin schlug immer wieder zu und verbrachte drei Wochenenden im Arrest. Es folgten Anti-Aggressionskurse, Drogenberatung und jetzt die Zeit bei der Work and Box Company. Zunächst wollte er nicht hingehen und suchte sich extra eine Ausbildungsstelle, um sich der Maßnahme zu entziehen. Doch schon kurz danach kam er wieder. „Er war anfangs ein Wegläufer“, sagt Zenkel. „Aber er hat sich super stabilisiert.“
Beide schildern, dass sie sich früher zu leicht provozieren ließen. Dass sie zuschlugen, um andere zu beeindrucken. Dahinter steckt ein Muster: Viele der jungen Straftäter fühlen sich in Wahrheit einsam und als Versager, weil sie keinen stabilen sozialen Hintergrund haben und ihre Unsicherheit mit einem angeblich selbstbewussten, aggressiven Auftreten zu kaschieren versuchen. Zenkel und seine Kollegen antizipieren diese Muster und konfrontieren die Jugendlichen mit diesem Verhalten. Sie suchen schonungslos nach dem wunden Punkt, der die Aggressionen auslöst. Bei Aron waren dies der Verlust seiner Mutter, der ihm den sozialen Rückhalt nahm, und der drohende Jugendarrest. „Wir haben ihm klargemacht, dass das hier seine letzte Chance ist. Man bekommt die Leute nicht durch Kuschelpädagogik – sondern durch ihre eigene Not und ihren Stress“, sagt Zenkel.
Der Sozialpädagoge geht mit den Jugendlichen konsequent, aber auch freundschaftlich um. Er nimmt sie nach dem Boxen auch mal in den Arm und redet ihnen gut zu. Die Work and Box Company betreibt aufsuchende Sozialarbeit, wie es in der Fachsprache heißt. Sie suchen die jungen Menschen auch dort auf, wo sie zu Hause sind oder sich oft aufhalten. Erscheint ein Jugendlicher morgens nicht, kommt er sie notfalls holen. „Die Jugendlichen bekommen hier den Stress ihres Lebens, aber sie können auch die Zukunft finden“, sagt Zenkel. Bei den Jugendlichen kommt dieser Stil an. Cosmin und Aron kommen mittlerweile wie selbstverständlich jeden Morgen hierher. „Ich werde hier nicht überfordert und bekomme immer alles ruhig und geduldig erklärt“, sagt Cosmin. „Man sitzt nicht zu Hause auf seinem Arsch und chillt unnötig, sondern man macht was.“ Auch seine Scheu vor Menschen, die er in der Schule noch hatte, sei schon deutlich kleiner geworden. „Ich wollte früher immer nur allein sein, aber hier habe ich gelernt, dass Kontakt gar nicht so schlimm ist. Ich bin sozialer geworden.“ Mithilfe der Work and Box Company hat Cosmin extern mittlerweile einen Mittelschulabschluss mit der Note 2,5 nachgeholt. Er schreibt derzeit Bewerbungen, macht seinen Führerschein und will Krankenpfleger werden. „Ich fühle mich dafür
bereit.“
„Die Jugendlichen
verwirklichen Projekte aus
eigener Kraft.“
Und dann wäre da noch der Wald. Wie an diesem Vormittag packt Zenkel die Jugendlichen regelmäßig in sein Auto und fährt in ein Waldstück in Forstenried, das den Bayerischen Staatsforsten gehört. Die Work and Box Company darf den Abschnitt bewirtschaften und das geschnittene Holz für eigene Zwecke nutzen, etwa als Brennholz oder für eigens gefertigte Möbel. „Die Jugendlichen bekommen so einen Bezug zur Natur. Sie verwirklichen Projekte aus eigener Kraft und erzielen damit schnelle und vor allem sichtbare Erfolge. Das gibt ihnen Selbstbewusstsein“, sagt Zenkel. Aron hat sich auf einer kleinen Lichtung eine stattliche Birke ausgeguckt, die windschief im Wald steht. Er findet mit Zenkels Hilfe die richtige Fallrichtung heraus und beginnt mit der Axt Keile aus dem Stamm herauszuschlagen. Zwischendurch nimmt er eine Säge, um den Stamm weiter zu durchdringen. Auf Motorsägen wird bewusst verzichtet. „Das ist schon anstrengend, aber warum nicht?“, sagt Aron, während die Hackschnitzel nur so auf den Waldboden prasseln. Schon bald hängt der Stamm bloß noch an einem dünnen Holzstrang, Aron schlägt noch viermal, fünfmal und dann ruft er: „Der fällt jetzt.“ In seinem Gesicht steht jetzt ein Grinsen. Er sieht kaputt aus, aber auch zufrieden. Der Baum wird entastet und der Stamm in kleine Stücke zerteilt. Arons Zeit in der Work and Box Company neigt sich dem Ende zu, nachdem er fast ein ganzes Jahr hier verbracht hat. Seine gerichtliche Auflage ist bereits erfüllt, er hat sich im Alltag bewiesen. „Ich lasse mich nicht mehr so leicht provozieren und kann besser mit Stress umgehen“, sagt er. Das Boxen hat ihm geholfen. „Man macht hier Dinge, obwohl man nicht immer Bock drauf hat. So lernt man, sich zu überwinden und über sich hinauszuwachsen.“ Nun hat auch er ein berufliches Ziel vor Augen. Er will in einer großen Supermarktkette im Einzelhandel arbeiten – für ein ganz normales, friedliches Leben.