Ein trauriges Jahr 

EIN TEXT AUS DER SCHREIBWERKSTATT

Von Wolfgang Räuschl

Dieses Jahr war kein leichtes und es wird in die Geschichte eingehen. Es wird uns wohl noch lange in Erinnerung bleiben. Zu Jahresbeginn waren wir erleichtert, als das Corona-Virus langsam nachließ, und es herrschte eine große Aufbruchsstimmung in unserem Land. Aber dann kam der Krieg und Europa hielt den Atem an. Kaum zu glauben, dass Russland in die Ukraine einmarschiert ist und Teile des Landes besetzt hat. Ich habe mich mit vielen Leuten unterhalten, und jeder hatte Angst, denn die meisten hatten das alles schon mal erlebt. Meine neuen Nachbarn sind zwei Frauen mit drei Kindern aus Kiew. Sie erzählen oft vom Krieg. Die Kinder gehen in die Schule und sind sehr brav und anständig. Anfang des Sommers kam die Nachricht, dass der Strom und das Gas teurer werden. Preisanstieg der Lebensmittel, Inflation und dann der Hitzesommer, sodass wir in manchen Gebieten Waldbrände hatten, das Wasser knapp wurde und manche Flüsse austrockneten. An einigen Tagen war es mir nicht möglich, zu arbeiten, da es mir schlichtweg zu heiß war. Wahrscheinlich ist der Klimawandel schuld an allem und wir sollten uns in den nächsten Jahren darauf einstellen, dass es so bleibt.
Jeden Tag erreichen uns neue Schocknachrichten und die Politiker vertrösten uns mit Sonderzahlungen und staatlichen Hilfen, aber das reicht nicht aus. Die Leute haben immer mehr Angst, wenn die Strom- und Gasrechnung kommt. Zur Freude für viele Münchner fand aber das Oktoberfest nach zwei Jahren Pause wieder statt. Doch für mich ist das kein Volksfest mehr, denn das Vergnügen kostet viel Geld auf der Wiesn. Das konnte und wollte ich nicht unterstützen und im Hintergrund lauerte auch noch Corona. An dieses Jahr werden wir uns alle noch erinnern als eines der schwierigsten der letzten Jahrzehnte. Mich hat auch der Tod der englischen Königin bestürzt, die ja lange Zeit auf dem Thron saß und für viele
Menschen auf der ganzen Welt eine große Monarchin war. In der Advents- und Weihnachtszeit möchte ich mich ein wenig zurückhalten und mich nicht dem Einkaufsstress und dem Konsum hingeben. Viel wichtiger ist es, an ein neues, friedliches und hoffentlich besseres Jahr zu denken – ohne Krieg und extreme Preisanstiege, an eines, in dem es für uns Menschen wieder bergauf geht. Ich wünsche allen BISS-Lesern und Stammkunden eine besinnliche und schöne Weihnachtszeit und vor allem viel Gesundheit!

Meine trockene Zeit

EIN TEXT AUS DER SCHREIBWERKSTATT

von Toni Menacher


Eigentlich verliefen die letzten sechs langen Monate überraschend gut. Ich hatte keinen Rückfall. Sehr geholfen hat mir dabei die regelmäßige Teilnahme an den Treffen der Anonymen Alkoholiker (AA). Als Erstes möchte ich erzählen, warum ich mich für diese Selbsthilfegruppe entschieden habe. AA wurde von zwei hoffnungslosen Säufern in den 30er-Jahren in den USA gegründet. Sie stellten fest, dass sie nicht trinken mussten, wenn sie miteinander redeten. Bei AA gibt es keine Anwesenheitsliste oder -pflicht und auch keine Mitgliedschaft. AA finanziert sich ganz allein aus Spenden bei den Meetings. AA folgt einem Prinzip: Man kann etwas von sich erzählen, muss aber nicht. Bei den Treffen gibt es keine Diskussion, sondern man kann von seinen Erlebnissen berichten oder aber der von uns gewählte Gruppensprecher schlägt ein Thema vor, zu dem man einen Beitrag leisten kann, z. B. zu „Suchtdruck“ oder zu „Rückfall“.
Dabei werden keine „klugen“ Ratschläge gegeben. Bei den AA ist es auch üblich, sich mit Vornamen anzusprechen und sich zu duzen. Aber auch private Gespräche vor und nach dem Meeting tun mir sehr gut. Ich habe zwei für mich optimale Gruppen gefunden, die sich jeweils einmal die Woche treffen. In dem Obdachlosenheim, in dem ich jetzt wohne, halte ich mich von Mitbewohnern, die Alkohol trinken, fern. Ich habe Glück, dass ich mir ein Doppelzimmer mit einem Mann teile, der auch nicht trinkt und voll berufstätig ist. Nur selten gehe ich in Gaststätten oder Ähnliches, um nicht in Versuchung zu kommen. Ich muss zugeben, dass ich einige Male einen starken Suchtdruck hatte. So verkaufte ich regelmäßig vor der Bürgersaalkirche in der Fußgängerzone. Mein Blick fiel dabei direkt auf einige Biertische vor einem Restaurant. Als ich einmal mehrere Gäste mit Weißbier sah, was früher mein Lieblingsgetränk war, hatte ich das starke Bedürfnis, selbst eins zu trinken. Ich entschloss mich, lieber woanders zum Verkaufen hinzugehen. Glücklicherweise war am gleichen Abend zufällig ein AA-Meeting. Mir tat es unwahrscheinlich gut, darüber zu reden. Ich möchte mich bei meiner Kundschaft entschuldigen, dass ich viel von meinen Einnahmen zur Befriedigung meiner Sucht verwendet habe! Ich kann jeden verstehen, der nicht mehr bei mir kauft. Ich kann nur eins versprechen: Ich werde alles dafür tun, dass ich trocken bleibe.

Lebenswille

EIN TEXT AUS DER SCHREIBWERKSTATT

von Dirk Schuchardt

Mit Anfang 20 brachen bei mir beinahe gleichzeitig verschiedene Bluterkrankungen aus, die ich von meinen Eltern geerbt hatte. Zuerst kam die Fettstoffwechselstörung und kurz darauf Diabetes. Bis zu diesem Zeitpunkt war ich sportlich noch recht aktiv und wog bei einer Größe von 184 Zentimetern etwa 82 Kilogramm. Einhergehend mit der Fettstoffwechselstörung bekam ich zunehmend Probleme mit meinen Blutgefäßen. Es bildeten sich allmählich Ablagerungen, die im Laufe der Jahre zu Verengungen führten. 2009 hatte ich dann meine erste Operation an der Halsschlagader. Es folgten mehrere Operationen, bis dann 2017 alles zu spät schien. Die Carotis interna links war zu 100 Prozent zu! Die beiden Schlagadern auf der rechten Seite (Carotis in/externa) waren zu 90 Prozent zu. Ich wurde sofort in die Klinik eingewiesen, in der ich schon mehrmals operiert worden war. Die Ärzte dort trauten sich aber nicht mehr, und so wurde ich noch in derselben Nacht mit einem Rettungsdienst nach Harlaching gefahren. Sofort wurde ich in den schon für mich vorbereiteten OP-Saal gebracht. Ich lag also auf dem OP-Tisch, über und neben mir unzählige Apparate und Monitore, und fragte mich, ob ich die Welt außerhalb dieses Raumes noch einmal wiedersehen würde. Einige Menschen werkelten an mir herum, legten Zugänge. Plötzlich trat ein Mann an meine Seite, den ich anhand seines Namensschildes als Professor Doktor identifizieren konnte. Dieser beugte sich zu mir runter und sagte zu mir: „Keine Angst, Herr Schuchardt, ich kriege Sie schon wieder hin. Sie sind mir noch zu jung, um jetzt schon zu gehen. Wir haben ja auch denselben Jahrgang.“ Ich lauschte seinen Worten, und da mir seine Sprechweise so bekannt vorkam, fragte ich ihn: „Herr Professor, wo kommen Sie her?“ Er antwortete mir, dass er aus der Nähe von Dortmund wäre, worauf ich erwiderte, dass ich aus Bergkamen bei Unna käme. Der Professor schaute über mich hinweg zu seinem Oberarzt und sagte erstaunt: „Jetzt muss ich mich aber doppelt anstrengen, der“ – er meinte mich – „kommt auch noch aus demselben Dorf wie ich.“ Von diesem Moment an waren wir Freunde. Auch wenn dieser Mensch mittlerweile seine ärztliche Kunst den Patienten in Norddeutschland zugutekommen lässt, verbindet uns diese Freundschaft. Ich kann ihn jederzeit telefonisch um medizinischen Rat fragen, und er würde sich sogar bereit erklären, mich in seinem jetzigen Wirkungskreis zu operieren. Mein lieber Freund, ich danke dir, dass du mein Leben gerettet hast.

Mammographie

EIN TEXT AUS DER SCHREIBWERKSTATT

von Dirk Schuchardt

Neulich musste ich – bekanntlich ein Mann – zur Mammographie. Über meiner linken Brustwarze hatte ich nämlich durch Zufall einen Knoten festgestellt. Ich machte mich also auf in eine Arztpraxis, die sich auf diese Art von Untersuchung spezialisiert hatte, allerdings in der Regel nur bei Frauen. Ich sollte einen Zettel mit mehreren Fragen beantworten, die mir bislang eher selten gestellt wurden, darunter: „Könnten Sie schwanger sein?“ Ich schaute an mir runter, sah meine Leibesfülle und dachte: „Könnte sein, mal fühlen …“, und streichelte über meinen Bauch. Da ich keine Bewegung spürte, kreuzte ich „Nein“ an. Dann
ging es zur eigentlichen Untersuchung. Man führte mich zu einer Apparatur, die wie eine Presse aussah. Die Arzthelferin sagte zu mir, ich solle meine linke Brust auf den unteren Teil der – ich nenne es mal – „Brustquetsche“ legen. Wenn man wie ich als Mann nur ein „BMW“ hat, also ein „Brett mit Warzen“, dann ist das gar nicht so einfach. Es kam dann eine weitere Helferin dazu, um der ersten beim Einquetschen meiner Brust zu helfen. Irgendwann war die ganze Prozedur endlich vorbei. Nun nahm sich der Arzt meiner an – und hatte zum Glück positive Nachrichten: Nach einer Ultraschalluntersuchung stellte er fest, dass der Knoten harmlos war und nicht operativ entfernt werden musste. Nun also weiß ich, als Mann, aus eigener Erfahrung, was es bedeutet, zur Mammographie zu müssen.

Warum ich BISS verkaufe

EIN TEXT AUS DER SCHREIBWERKSTATT

von Dirk Schuchardt

Als ich im August 2006 bei BISS anfing, wollte ich eigentlich nur einige Tage hier in München Station machen, um ein wenig Reisegeld zu verdienen. Ich war als Obdachloser auf der Wanderschaft und bestens ausgerüstet mit Ruck- und Schlafsack, Koch- und Essgeschirr und so weiter – alles war vorhanden. Allerdings brachte ich auch schon meinen Diabetes und andere nicht ansteckende Erkrankungen mit. Da der Verkauf für mich sehr gut anlief, reiste ich dann nicht wie geplant weiter, sondern beschloss, länger zu bleiben. Mittlerweile bin ich jetzt im 16. Jahr bei BISS angestellt. Es gibt immer wieder Menschen, die mich fragen, warum ich dieses Magazin verkaufe und nicht was „Richtiges“ arbeite. Laut deren Meinungen sei ich doch meiner körperlichen Beschaffenheit nach in der Lage, was ganz anderes zu machen. Nun ja, ich sehe zwar äußerlich aus wie eine deutsche Eiche, aber innerlich ist diese – symbolisch gesehen –mittlerweile ziemlich hohl. Die Folgeerkrankungen durch meinen Diabetes und meine Stoffwechselstörung sind so extrem, dass es mir mittlerweile unmöglich ist, einer anderen Tätigkeit nachzugehen. Außerdem geht es den Verkäufern, die sich an die Verkaufsregeln halten, wirklich gut. Einkommen stimmt, Betriebsklima passt auch, nette Kundschaft, also was will man mehr? Ich verkaufe die BISS, weil ich von dem Projekt absolut überzeugt bin und weil ich viel Freude dabei habe. Außerdem bin ich mit meiner Frau und den drei Kindern durch den Verkauf finanziell unabhängig von Sozialleistungen, wobei meine Frau ihren Teil mit einem Job als Hauswirtschafterin dazu beiträgt.