Wie ich wohne

Wer wohnt wie? In der Kolumne geben Menschen aus dem BISS-Netzwerk Einblicke in ihren Wohnalltag. Sie erzählen, wie sie früher gelebt haben, wie sie momentan wohnen und was sie sich für die Zukunft erhoffen.

Protokoll ANNELIESE WELTHER

Foto MARTIN FENGEL

Der Schicksalserprobte

Man sollte die Nummer meines Appartements wissen, wenn man bei mir vorbeischaut, sonst sucht man sich unter den Hunderten von Klingelknöpfen einen Wolf. Die Haustür ist aus massivem Stahl mit länglichen Öffnungen, die wie ein Gitter ausschauen. Betritt man das sechsstöckige Haus, reihen sich drinnen, an den knallbunt bemalten Wänden der breiten, langen Gänge, in regelmäßigen Abständen unzählige Türen aneinander. Meine Nachbarn machen oft Lärm und nicht selten schaut die Polizei vorbei. Aber ich mische mich nicht ein und habe somit auch keinen Ärger mit den anderen, von denen ich kaum einen kenne. Allerdings bin ich vor einem Monat erst eingezogen. Seitdem sind mein Waschbecken und die Dusche verstopft. Wenn ich mich wasche, fülle ich Wasser in ein Gefäß, benutze es und schütte es dann in die Toilette. Der Einbau von Ersatzteilen schafft hoffentlich bald Abhilfe. Als ich in das Appartement einziehen durfte, habe ich mich gefreut. Jahrelang lebte ich auf der Straße. Von anderen Plätzen durch die Polizei vertrieben, campierte ich oft am Waldrand. Auch im Auto meines Sohnes habe ich mal übernachtet und etliche Male in Obdachlosenunterkünften. Den Schlafsaal muss man sich dort mit vielen anderen teilen und aufpassen, dass einem nichts abhandenkommt. Selbst mein Diabetes-Medikament wurde mir mal geklaut. Jetzt aber bin ich zufrieden. Insgesamt zahle ich 590 Euro warm für mein Zimmer, ein winziges Bad und eine kleine Küchenzeile im Eingangsbereich. Der Rest ist etwas abgewohnt, aber das Zimmer selbst ist sauber gestrichen und der Boden besteht aus Laminat in ansprechendem Holzdesign. Bei IKEA habe ich mir passend dazu ein paar Möbel besorgt. Nun kann mich auch endlich meine Familie besuchen. Bereits jetzt schaut mein Bruder mit seiner Frau und meinem Neffen des Öfteren vorbei. Ich habe sechs Geschwister, eigentlich sieben, doch eine Schwester starb mit acht Jahren an einer durch einen Pferdetritt verursachten Kopfverletzung. Wir alle lebten mit meinen Eltern in einem Haus mit zwei Zimmern in einem kleinen Ort nahe der Stadt Pitesti, nicht weit von Bukarest. Verhungert sind wir nicht, aber wir waren schon sehr arm. Weil wir so wenig Geld hatten, musste ich nach der achten Klasse von der Schule abgehen. Dabei ging ich ganz gerne hin. Fortan zog ich mit dem Pferdewagen umher und erledigte Transporte für die Nachbarn. Viel kam dabei nicht rum. Erst als ich im Ausland Arbeit fand, verdiente ich mehr und konnte mit meiner Frau und den Kindern in ein eigenes Haus mit ebenfalls zwei Zimmern ziehen. Ich habe vier Kinder, mein jüngster Sohn ist zwölf, mein ältester ist bereits erwachsen und hat selbst eine Familie. Meine Tochter kann von Geburt an nicht richtig laufen. Acht Mal ist sie operiert worden und sie geht mithilfe eines Rollators. Mit meiner Familie habe ich schon immer viel Kummer durchlitten. Erst vor Kurzem ist meine Enkelin an plötzlichem Kindstod gestorben. Für den nächsten Sommer erhoffe ich mir nun, dass meine Frau aus Rumänien zu Besuch kommt und einen ganzen Monat lang bleibt.