Wohin mit den Boomern?

Von
SONJA DAWSON UND
LEON SCHEFFOLD

Altbau ohne Aufzug, schmale Bäder, Stufen am Eingang – für eine alternde Stadtgesellschaft wird der Mangel an barrierefreien Wohnungen zum Problem.

Nicht nur in der Borstei können ein paar Treppen im Eingangsbereich zu einer unüberwindlichen Hürde für Menschen werden, die schlecht zu Fuß sind. (Foto: LEON SCHEFFOLD)

Gerda Müller ist 82 Jahre alt. Sie wohnt im zweiten Stock eines Wohnhauses der Borstei. In dieser traditionsreichen Wohnsiedlung im Münchner Westen leben in mehr als 700 Wohnungen Familien, Studenten und Rentner generationsübergreifend zusammen. Die Siedlung wurde in den 1920er Jahren erbaut und ist denkmalgeschützt. Und da man vor 100 Jahren noch selten Aufzüge einbaute, befinden sich auch in der Borstei keine – und das wird sich aller Voraussicht nach auch nicht ändern, denn der Denkmalschutz erlaubt keinerlei Umbauten im Treppenhaus. Der Gründer der Borstei, Bernhard Borst, verfolgte den Grundgedanken, die Hausfrau zu entlasten und die Gesundheit der Bewohner zu fördern. Er investierte in hochwertige Bauweisen und zentrale Dienstleistungen, die das soziale Miteinander in der Borstei stärkten. Da jetzt viele ihrer Bewohner*innen älter werden und nicht mehr mobil sind, wird für sie ein Leben in der Borstei zunehmend schwieriger. Frau Müller hatte vor drei Jahren einen unglücklichen Unfall, bei dem sie sich das Sprunggelenk brach. Plötzlich nahm sie wahr, welche Einschränkungen sich ergeben, wenn ein Wohnhaus nicht barrierefrei ist: Sie war wochenlang in ihrer Wohnung gefangen, die steilen Stufen des Treppenhauses stellten mit gebrochenem Bein ein unüberwindbares Hindernis dar. So wie es ihr nach ihrem Beinbruch erging, geht es in Deutschland unzähligen Menschen. Und durch den demografischen Wandel werden es wohl noch mehr.


Die Generation der Baby-Boomer ist die geburtenreichste Generation, die es in Deutschland jemals gab. Alle Menschen, die zwischen 1949 und 1964 geboren sind, gehören zu den „Boomern“, wie sie von jüngeren Generationen scherzhaft genannt werden. Das sind in Deutschland knapp 20 Millionen Menschen, die heute zwischen 59 und 74 Jahre alt sind. Die Boomer werden in den kommenden Jahren älter und benötigen deshalb auch in geraumer Zeit altersgerechten Wohnraum. Die Nachfrage nach diesem Wohnraum wird also voraussichtlich höher sein, als sie jemals zuvor war. Alles ganz logisch. Hätte
die ganze Sache nicht einen sehr großen Haken: Diesen Wohnraum gibt es nicht. Laut einer Studie des Pestel Instituts fehlen in Deutschland rund 2,2 Millionen altersgerechte Wohnungen. Auch in München gibt es große Mängel. Nur vier Prozent aller Wohnungen in der bayerischen Großstadt sind komplett barrierereduziert. Die häufigsten Hürden sind Stufen im Eingangsbereich, Schwellen im Flur oder zu hohe Keramik, um problemlos in die Dusche steigen zu können.

Frau Professor Merk ist Münchner Stadtbaurätin. Dass in München altersgerechter Wohnraum fehlt, sieht sie ganz deutlich. Für sie geht das Hand in Hand mit bezahlbarem Wohnraum, der in München Mangelware ist. Neben dem Problem der Einsamkeit im Alter würde nämlich zunehmend die Rente mager ausfallen. Das Grundproblem für teuren Wohnraum sieht Frau Merk in den zu teuren Bodenpreisen, die stark steigen und auf deren Entwicklung die öffentliche Hand wenig Einfluss hat. Die Stadt München arbeite zwar daran, dass Wohnraum geschaffen und sinnvoll genutzt wird, doch ihr gehören nur 69.000 von 828.000 Wohnungen im gesamten Stadtgebiet, so Merk. Zu lösen sei das Problem also nicht allein seitens der Stadt. Sie wünscht sich deshalb eine gute Zusammenarbeit mit privaten Wohnungsbaugesellschaften und Bauträgern. Ob das Interesse der Wohnungsbaugesellschaften an einer Zusammenarbeit auch so groß ist, bleibt strittig. Denn barrierefrei zu bauen oder umzubauen bedeutet in aller Regel auch höhere Kosten.
Für Verena Dietl, dritte Bürgermeisterin von München, stellt die Situation auf dem Münchner Wohnungsmarkt „zweifellos eine Herausforderung dar“. Die Stadt habe in den vergangenen Jahren bereits einige Initiativen ergriffen, um dem erhöhten Bedarf an altersgerechtem Wohnraum nachzukommen: Förderprogramme zur Schaffung altersgerechter Wohnungen, die Unterstützung von barrierefreien Umbauten und Modernisierungen sowie die Sensibilisierung von Investoren und Bauträgern für die Bedeutung von Barrierefreiheit. Zudem dürfen neu gebaute geförderte Wohnungen
seit 2008 nur noch barrierefrei gebaut werden. Der Schwerpunkt liegt jedoch auf dem Wort „gefördert“. Wohnungen, die von privaten Bauträgern errichtet werden, müssen also nicht barrierefrei sein. Eine unterschätzte Folge des Umbaus zur kompletten Barrierefreiheit ist auch, dass häufig ein Teil des Wohnraums wegfällt: vergrößerte Flure, ein breiterer Badeingang, ein Aufzug im Treppenhaus – all diese Umbauten benötigen mehr Platz.

Eine Möglichkeit der Stadt, mehr barrierefreien Wohnraum zu schaffen, sei die Ausweisung eines Sanierungsgebiets, so Dietl. Das Viertel Ramersdorf-Neuperlach wurde in den 60er Jahren erbaut; viele Menschen sind dort geblieben und alt geworden. Es ist eines der Viertel mit dem höchsten Altersdurchschnitt. Hier hat die Stadt ein Sanierungsgebiet ausgewiesen. Bevor die Gemeinde aber ein Gebiet als ein solches festlegen kann, müssen vorbereitende Untersuchungen per Stadtratsbeschluss eingeleitet und durchgeführt werden. Wenn die Sanierung dann als notwendig angesehen wird, bezieht sie sich in erster Linie darauf, Grünflächen und andere öffentliche Infrastruktur barrierefrei umzubauen, sie soll aber auch altersgerechten Wohnraum schaffen. Die Ausweisung des Sanierungsgebiets ermöglicht es, Städtebau-Fördermittel für altersgerechte Sanierung der städtischen Wohnbauten nutzen zu können. Und auch wenn ein privater Besitzer eines Wohnhauses sanieren möchte, hat er Zugriff auf diese Fördermittel.
Wer in einer nicht barrierefreien Wohnung lebt, muss kreativ werden. Frau Müller aus der Borstei erzählt, dass gelegentlich ältere Bewohner aus den höheren Stockwerken die Wohnung mit jemandem aus dem Erdgeschoss tauschen oder, wie in ihrem Fall, von den anderen Bewohnern unterstützt werden. Sie ist zudem Vorsitzende der Mietergemeinschaft, wo Bewohner der Häuser zusammenkommen, um aktuelle Themen rund um das Leben in der Siedlung zu organisieren. Wer Hilfe braucht, weiß genau, dass ein Anruf bei der Nachbarschaftshilfe genügt. Nach ihrem Unfall war die 82-Jährige plötzlich auch selbst auf Hilfe angewiesen und unendlich dankbar für die Unterstützung, die ihr widerfahren ist: „Ein Nachbar hat für mich gekocht, ein anderer kam zum Kaffeetrinken“, schwärmt die Dame. Eine gute Nachbarschaft scheint viele Barrieren aus dem Weg schaffen zu können. Auch mit kleinen Hilfsmitteln kann man für mehr Barrierefreiheit sorgen.
Für Frau Müller stellte unter anderem die Badewanne eine unüberwindbare Hürde dar. Die Rettung: ein Badebrett, das zum Einsteigen in die Wanne verwendet wird. Clevere Hilfen, wie das Badebrett für Frau Müller, gibt es mittlerweile unzählige. Die Ausstellung im Kompetenzzentrum Barrierefreies Wohnen des Vereins Stadtteil e. V. in München-Riem zeigt in einer Modellwohnung viele große und kleine Hilfsmittel, die Menschen mit besonderen Bedürfnissen das Leben erleichtern können. Für alle Budgets, Räume und Wohnsituationen gibt es Möglichkeiten, den Alltag einfacher zu gestalten, sagt Monika Wieberger, Mitarbeiterin des Kompetenzzentrums. Die Münchnerin führt täglich Menschen kostenfrei durch die Ausstellung, die sich über Lösungen informieren möchten. „Meistens kommen die Menschen erst dann, wenn es schon zu spät ist“, sagt sie, „wer möchte sich schon gern eingestehen, dass er Hilfe braucht?“
Das beobachtet auch Sina Grefe. Sie leitet die Münchner Geschäftsstelle des VdK, eines Verbands, der seine Mitglieder in sozialrechtlichen Angelegenheiten unterstützt und auch in Sachen Barrierefreiheit berät. Auch der VdK merkt, dass der Bedarf an barrierefreiem Wohnraum in München und anderen Städten steigt. Oft kommen die Anfragen jedoch erst dann, wenn bereits bauliche Hindernisse die Lebensqualität einschränken. Laut Frau Grefe haben viele ältere Menschen den Wunsch, in ihrer gewohnten Umgebung zu bleiben. Wenn die baulichen Gegebenheiten dem im Weg stehen, wird die Frage nach einer barrierefreien Wohnsituation besonders drängend. Doch Renovierungen sind teuer und obwohl München das Image hat, eine wohlhabende Stadt zu sein, sind viele ältere Menschen von Armut betroffen, was die Finanzierung von barrierefreien Umbauten zusätzlich erschwert.

Ab Pflegegrad 2 kann ein Zuschuss für wohnumfeldverbessernde Umbaumaßnahmen beantragt werden.

Eine engagierte Nachbarschaftshilfe kann gesundheitliche Krisen überbrücken helfen. Jedoch gibt es immer wieder Schwierigkeiten bei der Verwendung dieser Zuschüsse, vor allem, wenn bauliche Veränderungen durch den Denkmalschutz oder andere Faktoren, wie sich querstellende Vermieter, eingeschränkt werden. Und leider sind 4.000 Euro in aller Regel auch nicht genug, um größere Umbaumaßnahmen, wie eine Flurvergrößerung oder den Einbau einer schwellenlosen Dusche, zu finanzieren.
Frau Grefe plädiert dafür, dass in der Gesellschaft ein Umdenken stattfinden muss und barrierefreies Bauen zur Norm werden sollte. Neben einer Standardisierung von barrierefreiem Wohnraum in Neubauten, die langfristig zur Verbesserung der Situation beitragen könnte, seien auch Zusammenschlüsse wie Frau Müllers Mietergemeinschaft der Borstei immer hilfreich und wichtig. Vermieter sollten zudem Wohnungen, die bereits barrierefrei ausgestattet sind, auch an Menschen vermieten, die es benötigen, und einer Renovierung nicht im Weg stehen. Das vorrangige Ziel der Wohnungspolitik besteht laut Frau Dietl darin, eine ausreichende und bezahlbare Wohnraumversorgung für alle Münchnerinnen und Münchner zu gewährleisten, doch sind die Wohnkosten hier höher als in anderen Regionen Deutschlands. Die Situation auf dem Wohnungsmarkt wird wohl noch drängender, da die Bevölkerung immer älter wird und der Bedarf an altersgerechten Wohnungen steigt.
Es ist wichtig, sich frühzeitig mit der eigenen Wohnsituation auseinanderzusetzen, betont Frau Wieberger vom Kompetenzzentrum Barrierefreies Wohnen, denn für fast jede Lebenssituation gibt es Lösungen, um einen Umzug zu vermeiden. Dabei könnten Vereine und Initiativen innerhalb der Nachbarschaft eine bedeutende Rolle spielen, indem sie gemeinsam für diese Angelegenheit eintreten. Gefordert sind aber vor allem die Stadt und der Bund: In Zukunft werden mehr altersgerechte Wohnungen benötigt. Durch
innovative Ansätze und eine klare Förderung von barrierefreiem Wohnraum könnte die Situation in Zukunft weniger dramatisch ausfallen, als von vielen Experten befürchtet. Junge Bewohner Münchens sollten sich ebenfalls frühzeitig Gedanken über ihr Leben im Alter machen. Denn: Wir werden alle älter und könnten irgendwann Unterstützung benötigen. Wieso also nicht schon in jungen Jahren in Karma-Vorkasse gehen und sich in Nachbarschaftshilfen oder Mietergemeinschaften engagieren, um dann,
wenn man selbst mal Hilfe braucht, davon profitieren zu können?