Inhalt | Nach der Flucht| Wie wirkt sich Flucht auf Kinder aus? Wer kümmert sich um Menschen, die einfach nur Hunger haben und medizinisch versorgt werden müssen?| 6 Queer und sichtbar: Strong! hilft bei queerfeindlichen Übergriffen | 10 Kinder der Flucht: Eine Studie zeigt, wie sich Flucht auf Kinder auswirkt | 16 Die reine Heuchelei Interview mit dem Migrationsforscher Ruud Koopmans | 20 St. Bonifaz: Alle werden satt | 24 Bundesfreiwilligendienst bei BISS: Shifo Karimova erzählt von ihren Erfahrungen | 5 Wie ich wohne | 26 BISS-Verkäufer*innen erzählen, was sie bewegt | Rubriken | 3 Editorial | 29 Patenuhren | 28 Freunde und Gönner | 30 Mein Projekt, Impressum | 31 Adressen
Wer wohnt wie? In der Kolumne geben Menschen aus dem BISS-Netzwerk Einblicke in ihren Wohnalltag. Sie erzählen, wie sie früher gelebt haben, wie sie momentan wohnen und was sie sich für die Zukunft erhoffen.
Die Schwebende
Protokoll ANNELIESE WELTHER
Foto MARTIN FENGEL
Die ersten Tage, nachdem ich in mein jetziges Zimmer gezogen war, schwebte ich wie auf Wolken. Da hatte ich noch gar kein Bett, sondern schlief erst mal auf einer Matratze direkt auf dem Boden, aber das war der reinste Luxus gegenüber dem, womit ich mich schon zufrieden geben musste. Ich bin in Rumänien in einer sehr armen Familie aufgewachsen. Wir lebten auf dem Dorf in einem Holzhaus, das nur aus einem 20 Quadratmeter großen Zimmer bestand. Dort schliefen wir meistens zu neunt. Betten hatten wir nicht, wir legten Decken, die man uns geschenkt hatte, auf den Boden und deckten uns mit Kleidungsstücken zu. Unseren Ofen heizten wir selten mit Holz – vielleicht, wenn jemand von uns für einen verrichteten Dienst bei den Nachbarn ein Netz mit Holzscheiten erhalten hatte. Ansonsten sammelten wir in der Umgebung Äste. Weil meine Familie so arm war, bin ich nur vier Jahre zur Schule gegangen. Statt zu lernen, kümmerte ich mich immer um die kleineren Geschwister. Ohne eine vernünftige Schulbildung ist es sehr schwer, eine Arbeit zu finden. Deshalb verließ ich meinen Mann und meine vierjährige Tochter, um in Spanien zu arbeiten, wo Frauen als Erntehelferinnen gesucht wurden. Dort waren wir direkt auf dem Feld in Kunststoffcontainern untergebracht, jeweils vier Frauen in einem Raum mit zwei Etagenbetten. Es gab je Wohnmodul zwei solcher Zimmer. Eine kleine Dusche und einen Herd teilten wir uns. Bei acht Frauen musste man oft ganz schön lange warten, wenn man duschen, sich Kartoffeln oder ein Spiegelei braten wollte. Mit den anderen Frauen kam ich gut zurecht, obwohl ich mich mit vielen nicht richtig verständigen konnte, da ja nicht alle aus Rumänien kamen. Die Arbeit auf dem Feld war sehr anstrengend. Hauptsächlich pflückte ich Erdbeeren, immer vornübergebeugt, unter einer Plastikplane, die mit Metallstangen befestigt war. Wenn es draußen heiß wurde, konnte sich die Luft darunter auf bis zu 50 Grad erhitzen. Das machte mir so zu schaffen, dass ich ungeheure Kopfschmerzen bekam. Als ich zum Arzt ging, eröffnete er mir, dass mir eine Ader im Gesicht nahe dem Auge geplatzt war. Er erklärte mir, dass ich noch Glück gehabt hätte, dass es an dieser Stelle passiert war. Wäre das Gleiche weiter oben am Kopf geschehen, wäre ich gestorben. Von nun an durfte ich diese Arbeit nicht mehr verrichten und auch keinen Stress mehr haben. Ich ging zurück nach Rumänien, fand aber wieder keinen vernünftigen Job. In dieser Zeit habe ich viel geweint. Meine Schwester lebte in München, also beschloss ich, zu ihr zu fahren. Doch tat ich mich auch hier anfangs sehr schwer, wohnte einen Monat auf der Straße, übernachtete in Parks oder in U-Bahn-Stationen, dann zog ich zu meiner Schwester in die Wohnung und blieb sieben Monate. Aber sie hat auch nur ein Zimmer und dazu noch einen Hund, deshalb waren wir beide froh, als ich hier in diese Zweier-WG mit einem anderen BISS-Kollegen einziehen konnte. Es ist ein tolles Gefühl, einen eigenen Schlüssel zu haben, mit dem man auf- und abschließen kann. Ich kann mein Glück einfach nicht fassen.
Shifo Karimova war acht Monate lang als Bundesfreiwillige bei BISS
Shifo Karimova
Von ANNELIESE WELTHER
Foto MAGDALENA JOOSS
Telefonanrufe entgegennehmen, Zeitschriften an Abonnenten schicken, Verkaufsplätze besichtigen, an Buchveröffentlichungen mitwirken, das waren einige der Aufgaben, die Shifo Karimova in ihrem Bundesfreiwilligendienst (BFD) im BISS-Büro zu erledigen hatte. Am liebsten aber organisierte sie die BISS-Begegnungen, bei denen interessierte Besucher die Gelegenheit bekamen, sich mit einem Verkäufer oder einer Verkäuferin zu unterhalten. Acht Monate lang dauerte Shifos Einsatz bei BISS, die meisten der sogenannten Bufdis sind ein Jahr lang an einer Stelle. „Der BFD ist auf maximal 18 Monate begrenzt“, erklärt die lebensfrohe, junge Frau, „und bevor ich zu BISS kam, war ich bereits zehn Monate lang in einer Krippe in Hochdorf gewesen.“ Dort konnte sie ihren BFD nicht fortsetzen, da die Kita schließen musste; in der schwäbischen 1.000-Seelen-Gemeinde gab es nicht genug Kinder. So sah sich die 24-Jährige gezwungen, sich nach einer neuen Stelle umzuschauen.
Mehr als fünf Jahre lang habe ich immer samstags vor einem Supermarkt in Bogenhausen die BISS verkauft. Doch an einem Samstag gegen zehn Uhr kam ein Mann, den ich schon oft gesehen hatte, als er herumfliegende Papiere einsammelte. An diesem Morgen schritt er auf mich zu und gab mir ziemlich ruppig zu verstehen, ich solle verschwinden. Nie zuvor hatte er mit mir gesprochen und nun ging er mich plötzlich so an. Oft hatte ich auch den Chef des Supermarkts vorbeigehen sehen, auch von ihm habe ich nie etwas vernommen, woraus ich hätte schließen können, dass ich nicht willkommen bin. Darum fragte ich den Mann, warum ich gehen solle. Er sagte, weil er das wolle. Ich sagte nein, das mache ich nicht. Daraufhin nahm er meinen Korb, in dem außer den BISS-Zeitungen auch mein Geldbeutel, mein Ausweis, mein Handy und eine Wasserflasche waren, und verschwand damit im Lager des Supermarkts mit den Worten, ich hätte hier nichts zu suchen. Ich hingegen blieb an meinem bisherigen Verkaufsort auf dem Parkplatz vor dem Supermarkt stehen. Ein junges Paar sah, dass ich weinte, und erkundigte sich, was passiert sei. Als die beiden erfuhren, was geschehen war, gingen sie mit mir zum Infostand des Supermarkts. Ich war ganz aufgelöst, zum Glück halfen mir die beiden jungen Leute und sprachen mit der Frau dort. Als ich den Mann beschrieb, der mich rauswerfen wollte, sagte man mir, dass es sich um den Hausmeister handeln müsse. Die Frau vom Infostand rief ihn an und redete mit ihm. Er sagte, er sei nicht mehr im Haus und komme erst um 19 Uhr wieder zurück, dann könne ich meinen Korb wiederhaben. Natürlich war ich nicht einverstanden, denn ich wollte nicht den ganzen Tag warten, ohne etwas zu verkaufen. Ich fragte am Infostand, was ich tun solle. Man riet mir, die Polizei zu rufen. Mir wäre es allerdings lieber gewesen, ich hätte sofort meinen Korb erhalten. Schließlich rief das junge Paar die Polizei an, denn ich hatte ja kein Telefon mehr. Nachdem die Polizisten eingetroffen waren und sich meine ganze Geschichte angehört hatten, telefonierten sie mit dem Hausmeister. Sie forderten ihn auf, den Korb herauszurücken: Er hätte kein Recht gehabt, mir meine Sachen einfach wegzunehmen. Daraufhin erklärte sich der Hausmeister bereit, jemanden mit einem Schlüssel vorbeizuschicken. Nach einer Stunde tauchte tatsächlich ein junger Mann auf, holte den Korb und übergab ihn mir. Mittlerweile war es schon halb sechs geworden. Ich nahm den Korb und fuhr nach Hause. Ich erzähle diese Geschichte, damit meine Kunden und Kundinnen erfahren, warum ich samstags nicht mehr dort bin, wo sie es gewohnt waren. Auch möchte ich mich sehr bei ihnen bedanken, dass sie so treu die Zeitschrift gekauft haben. Gern würde ich wieder vor diesem Supermarkt verkaufen und weiß bis heute nicht, warum ich das plötzlich nicht mehr darf. Schade.
… vor vier, lautet der Spruch, der mir einfällt, wenn mir in der Stadt, egal zu welcher Uhrzeit, eine Frau oder ein Mann unbekümmert mit einer Bierflasche in der Hand begegnet. Zugegeben, ich habe eine sogenannte Déformation professionnelle und deshalb einen kritischen Blick. Denn Alkohol ist ein Rauschmittel und die Deutsche Hauptstelle für Suchtfragen (DHS) empfiehlt, möglichst keinen Alkohol zu konsumieren. Als risikoarmen Konsum bezeichnet die DHS bis zu 24 Gramm Reinalkohol pro Tag für Männer und bis zu 12 Gramm pro Tag für Frauen. Eine einzige bayerische Halbe liegt schon bei 20 Gramm Reinalkohol und ein kleines Glas Wein bei 16 Gramm. Erstaunlich viel, oder? In unsere letzte Teambesprechung brachte eine Kollegin die Frage ein, ob Alkoholkonsum weniger schädlich sei, wenn man hochwertigen Alkohol konsumiere, etwa Champagner oder edlen Rotwein. Hört sich erst einmal absurd an, denn „risikoarmer Konsum“ bezieht sich ja auf die Menge des Reinalkohols und nicht auf die Qualität des Stoffes. Der Unterschied liegt woanders. Sozialforscher wissen, dass bei sozial benachteiligten Menschen viele weitere Faktoren eine Rolle spielen, die deren Gesundheit und Leben schädigen: enge Wohnverhältnisse, ungesunde Ernährung, weniger Bewegung, geringerer Zugang zu Kultur- und Sportmöglichkeiten und schlechtere Arbeitsbedingungen. Arme Menschen leben kürzer und schlechter und die Spuren des Alkohols werden schneller offensichtlich. Im alltäglichen Umgang mit unseren rund 100 Verkäuferinnen und Verkäufern spielt Alkohol keine große Rolle. Meiner Erfahrung nach trinken Verkäufer im Durchschnitt nicht mehr als der Rest der Bevölkerung. Das sieht man nicht nur an normalen Tagen, sondern auch bei unseren Betriebsausflügen oder der jährlichen Weihnachtsfeier. In Einzelfällen kämpft der eine oder die andere mit der Sucht, wobei unsere Sozialarbeit Unterstützung anbietet. Als niedrigschwelliges Hilfeangebot wollen wir unbedingt zugänglich sein für Leute, die akut obdachlos sind und das harte Leben auf der Straße nur mit Alkohol meinen ertragen zu können. Jeder, der neu zu BISS kommt, unterschreibt mit den Verkäuferregeln einen Verhaltenskodex mit Punkt 2 auf der Liste: „Der Verkäufer darf nicht unter Einfluss von Rauschmitteln verkaufen. Der Genuss von Alkohol und Drogen während der Verkaufszeit ist untersagt.“ Und für viele Hilfebedürftige haben sich, nüchtern betrachtet, über den BISS-Verkauf Chancen auf eine Festanstellung und eine Wohnung eröffnet. Da braucht es dann unter Umständen gar kein Bier – auch nicht nach vier.