Inhalt | Körperlichkeiten | Die Diagnose, unheilbar krank zu sein, ist schockierend. Es gibt jedoch Möglichkeiten, die Lebensqualität zu verbessern. Bestes Beispiel dafür: Pingpong gegen Parkinson | 6 ADHS/ADS bei Erwachsenen: Wenn der Fokus fehlt | 12 Pingpong gegen Parkinson: Mit Sport gegen das Zittern | 18 Zu viel! Wenn die Sammelwut zum Problem wird | 22 Schulangst: Wenn Kinder sich weigern, in die Schule zu gehen | 5 Wie ich wohne | 26 BISS-Verkäufer*innen erzählen, was sie bewegt | Rubriken | 3 Editorial | 29 Patenuhren | 28 Freunde und Gönner | 30 Mein Projekt, Impressum | 31 Adressen
Wer wohnt wie? In der Kolumne geben Menschen aus dem BISS-Netzwerk Einblicke in ihren Wohnalltag. Sie erzählen, wie sie früher gelebt haben, wie sie momentan wohnen und was sie sich für die Zukunft erhoffen.
Der Läufer
Protokoll FELICITAS WILKE
Foto MARTIN FENGEL
„Wenn man mein Wohnhaus betritt, könnte man meinen, man steht in einer Hotellobby aus den Siebzigerjahren. Die Decken sind holzvertäfelt und überall stehen Sofas und Pflanzen. Das DEBA-Hochhaus in Solln war ursprünglich als Hotel für die Olympischen Spiele 1972 gebaut worden. Heute befinden sich Wohnungen darin – darunter auch mein Zuhause, in dem ich seit 1995 lebe. Mein Apartment liegt im 14. Stock. Zur Wohnung gehören ein kleiner Eingangsbereich, ein Bad, ein immer, eine Küche und ein Ostbalkon. Von hier aus im Sommer den Sonnenaufgang zu beobachten, das ist ein Riesenschauspiel! Bei schönem Wetter kann ich bis in die Alpen blicken. Obwohl die Wohnung mit ihren knapp 40 Quadratmetern nicht riesig ist, lebe ich hier nicht allein, sondern mit einem Kumpel. Er schläft in dem Bett, das an der Wand im Wohnzimmer steht, ich auf der breiten Couch. Unser Zusammenleben klappt gut: Obwohl ich fast 86 Jahre alt bin, verkaufe ich weiterhin jeden Tag außer sonntags die BISS und bin tagsüber unterwegs. Er schmeißt den Haushalt, wäscht und kauft ein. Das entlastet mich sehr. Die Wohnung habe ich möbliert übernommen: Der bunt bemalte Bauernschrank im Wohnzimmer gehört genauso wenig mir wie der antike Tisch, auf dem der Fernseher steht. Das ändert aber nichts daran, dass ich mich hier sehr wohl fühle. Mein Vermieter ist ein bekannter Münchner Wirt. Ich bin für ihn ein angenehmer Mieter, weil ich mich selbst kümmere, wenn mal was kaputtgeht. Er ist für mich umgekehrt auch ein sehr angenehmer Vermieter: In bald 30 Jahren hat er mir kein einziges Mal die Miete erhöht. Früher betrug sie 1.200 D-Mark, heute sind es 600 Euro, die ich mir mit meinem Kumpel teile. Gestiegen sind in all den Jahren nur die Nebenkosten, die inzwischen bei ungefähr 300 Euro liegen. Ein paar persönliche Erinnerungsstücke habe ich dann doch: Die Porzellanfigur und die mit Blumen verzierte Vase auf dem kleinen Tisch im Wohnzimmer gehörten meiner Mutter. Das eingerahmte Foto davor zeigt sie als junge Frau. Meine Mutter lebte bis zu ihrem Tod in der Slowakei. Dort bin auch ich geboren. Ich wuchs als Einzelkind bei meinen Eltern und Großeltern in Bratislava auf. Dort besaßen meine Großeltern ein Zweifamilienhaus mit Garten. Später verließ ich die Heimat auf gefährliche Weise: Ich desertierte, weil mich die ständigen Saufgelage beim Militär und der Druck, in der Partei mitzumachen, anwiderten. Über die DDR floh ich in den Westen. Im Gefängnis Berlin-Plötzensee, wo einst mehrere NS-Widerstandskämpfer hingerichtet wurden, saß ich 14 Tage wegen illegalem Grenzübertritt ein. Später kam ich nach München. Meinen gelernten Beruf als Radiotechniker durfte ich mit meiner Duldung nicht ausüben, also arbeitete ich in Küchen, auf Baustellen und als Gärtner. Und ab 1993 als BISS-Verkäufer. Krank bin ich nie, im Urlaub auch nicht. Davon halte ich nichts, denn mich hält die Arbeit fit. Inzwischen muss ich zwar ein paar Tabletten nehmen, gegen den hohen Blutdruck und gegen Rückenschmerzen. Aber für 86 geht es mir gut. Ich bin weiterhin ein militanter Gegner des Alkohols und lief jahrzehntelang Marathon. Ich laufe den Krankheiten einfach davon.“
Nach Schätzungen von Selbsthilfegruppen leben rund 1,8 Millionen Messies in Deutschland. Ihr Problem ist die obsessive Sammelwut, die ihre Wohnungen zunehmend verstopft. Wie sich das anfühlt und was man dagegen tun kann? Eine Betroffene und ein Experte – beide aus München – gaben BISS-Autorin Kerstin Güntzel spannende Antworten.
Von KERSTIN GÜNTZEL Illustration SOPHIA MARTINECK
Sylvias* Nachbar ist zu Besuch in ihrer kleinen Zweizimmerwohnung in Neuhausen. Sie stehen auf dem einzigen freien Fleckchen Boden ihrer Mini-Küche und unterhalten sich. Auch auf dem Küchentisch der selbstständigen Grafikdesignerin, der ihr gleichzeitig als Schreibtisch und Büro dient, türmen sich Laptop, Stifte, Stapel von Büchern und Papieren. Ihre Küchenschränke und Regale quellen über vor Geschirr. Es herrscht ein Durcheinander: überfüllt, aber gemütlich. Unerwartet macht ihr Nachbar nun einen Schritt rückwärts und stolpert dabei über einen Zeitschriftenstapel, der sich hinter ihm auftürmt. Er stürzt zu Boden. Gott sei Dank hat er nur einen Schreck bekommen – und keinen Knieschaden! In diesem Moment wird der 45-jährigen Sylvia klar: So kann es nicht weitergehen mit ihrer Sammelwut. Sie kann regelrecht lebensgefährlich werden! Und sie einsam machen, denn auch ihre 16-jährige Tochter wohnt mittlerweile die meiste Zeit bei ihrem Ex, bei dem es ordentlich und übersichtlich zugeht. Sylvia weiß, dass sie ein Problem hat. Sie ist ein Messie. Zwar kein Hardcore-Fall, dennoch belastet ihre Sammelleidenschaft zunehmend ihr Leben.
Vor einem Monat habe ich eine Predigt gehört, die von einem alten Mann handelte, der gemeinsam mit einer jungen Mutter und ihrem tauben Kind in einem Zugabteil saß. Der alte Mann predigte die ganze Fahrt über von Gott. Mit der Zeit war die Frau genervt von der Litanei des Alten. Sie rief ihm zu, er solle damit aufhören, sie sei schon ganz wirr im Kopf von seinem Geschwafel. Doch der Mann ließ sich nicht beirren und machte weiter, als sei nichts geschehen. Da gab die genervte Mutter dem alten Mann eine Ohrfeige. Plötzlich fragte das taube Kind, das nie zuvor auch nur ein Wort gesprochen hatte, seine Mutter: „Warum tust du das?“ Als sie das hörte, fiel die Mutter in Ohnmacht. Nachdem sie später aufgewacht war, besann sie sich und wurde gläubig. Die Geschichte zeigt, Gott hat sich nicht verändert, er hat nicht aufgehört, Wunder zu vollbringen. Das habe ich auch am eigenen Leib erfahren. Ursprünglich komme ich aus Rumänien, habe aber lange Zeit in Frankfurt am Main gelebt und als Anstreicher gearbeitet. Damals habe ich gern mit meinen Kollegen zusammengesessen und getrunken. Doch mit dem Alkohol kam es zu immer mehr Streit mit meiner Frau und schließlich zur Scheidung. Ich trank noch mehr und landete auf der Straße. Meine fünf Kinder brachen den Kontakt zu mir ab. Zu dieser Zeit war mir alles egal, die Familie kümmerte mich nicht mehr, ich wollte nur noch saufen. Nach zwei Jahren als Obdachloser wurde ich krank, bekam Diabetes, einen hohen Blutdruck und musste am Ohr operiert werden. Allmählich begriff ich, dass es nicht gut war, wie ich mich verhielt. Über Freunde kam ich in Kontakt zu einer rumänischen Kirche, wo ich Leute aus München kennenlernte, und zog von Frankfurt an die Isar. Auch hier lebte ich zunächst ohne Dach überm Kopf, gelangte aber durch Unterstützung der rumänischen Pfingstgemeinde zu einer Wohnung und schaffte es, vom Alkohol loszukommen. Das ist für mich ein Wunder, genauso, dass meine Kinder nach und nach wieder Kontakt zu mir aufgenommen haben. Ganz besonders stolz bin ich darüber, dass meine Tochter zu mir nach München gezogen ist. Gott hat in meinem Herzen etwas bewirkt und in den Herzen meiner Kinder. Darum möchte ich mich zuallererst bei Gott bedanken und gleich anschließend bei BISS. Die Arbeit hat mir geholfen, mein Leben zu ändern. Trotz aller Probleme, die ich hatte, verhielt sich Gott mir gegenüber stets gleich. Und er vollbringt auch immer noch Wunder.