BISS-Ausgabe Oktober 2022 | Lernwerkstatt

Cover des BISS-Magazins Oktober 2022

Inhalt | Trifft es wieder die Armen? | Wie unsozial ist die Inflation? Prof. Marcel Fratzscher über Ursachen und Maßnahmen, die helfen könnten. | 6 Lernwerkstatt: Ein Weg zu mehr Bildungsgerechtigkeit | 10 Frauenwohnen: Gemeinsam wohnen ohne WG-Stress | 16 Prävention im Knast: Einer Radikalisierung vorbeugen | 20 Interview: DIW-Chef Prof. Marcel Fratzscher | 26 Rückblick und Ausblick | 5 Wie ich wohne | 23 BISS-Verkäufer*innen erzählen, was sie bewegt | Rubriken | 3 Editorial | 25 Patenuhren | 28 Freunde und Gönner | 30 Mein Projekt, Impressum | 31 Adressen

Wie ich wohne

Wer wohnt wie? In der Kolumne geben Menschen aus dem BISS-Netzwerk Einblicke in ihren Wohnalltag. Sie erzählen, wie sie früher gelebt haben, wie sie momentan wohnen und was sie sich für die Zukunft erhoffen.

Protokoll ANNELIESE WELTHER

Foto MARTIN FENGEL

Der Thermophile

Mit zwei anderen BISS-Verkäufern teile ich mir eine Dreizimmerwohnung in einem der zahlreichen Wohnblocks jenseits der Drygalski-Allee. Mein Lieblingsort hier ist der Balkon – aber nur im Sommer! Wenn ich sonntags nicht arbeite, beobachte ich von dort spielende Kinder und die vielen anderen Menschen, die es an schönen Tagen ins Freie zieht. In nur fünf Ländern in Europa war ich noch nicht beruflich unterwegs, alle liegen sie in Skandinavien. Dahin zieht es mich auch nicht. Das warme Klima liegt mir mehr. Zwölf Jahre habe ich in der Stadt Ventimiglia an der italienischen Riviera in einem Einzimmerappartement gelebt – nur zehn Minuten vom Meer entfernt. Jeden Sonntag ging ich zum Baden. Im Winter war es sehr mild, so etwa wie in München im September. Für mein Appartement zahlte ich übrigens 200 Euro, das ist weniger als die Hälfte von dem, was ich jetzt an Miete für mein WG-Zimmer aufbringen muss. Wahrscheinlich wäre ich immer noch dort, wäre mein Chef nicht an den Folgen eines Arbeitsunfalls mit nur 54 Jahren gestorben. Unser Verhältnis war wie das eines Vaters und eines Sohns gewesen. Er hatte mir mit all dem Behördenkram geholfen und die Wohnung besorgt. In meinem Heimatland Rumänien habe ich als Kind mit meinen Eltern in einem Haus mit drei Zimmern gelebt, meine Großmutter wohnte gleich nebenan. Wir ernährten uns hauptsächlich von dem, was in unserem Garten wuchs, also sehr gesund, meine Oma jedenfalls ist 98 Jahre alt geworden. Mit 14 zog ich in die Hauptstadt Bukarest, um die weiterführende Schule zu besuchen. Das erste Jahr wohnte ich zur Untermiete, danach wechselte ich in ein Internat, das gefiel mir besser, weil ich die ganze Zeit mit Kindern zusammen war, auch wenn ich mir nun das Zimmer mit einem Jungen teilen musste. Später erlernte ich den Beruf des Schreiners und arbeitete ein Jahr in der maschinellen Möbelproduktion. Nach der Wende wurde ich entlassen, wie viele andere auch. Weil die Arbeitsmarktlage in Rumänien damals hoffnungslos war, ging ich 1995 nach Italien. Die ersten zwei Wochen lebte ich in Rom auf der Straße, lernte dann zwei Rumänen kennen, in deren Küche ich auf dem Sofa schlafen durfte. Ich zog weiter in den wirtschaftsstarken Norden des Landes, wo ich bei meinem Chef in Ventimiglia landete. Wir machten Innenausbau, brachten Spiegel an, legten Parkett, und das nicht nur in Italien, beinahe täglich fuhren wir rüber an die Côte d’Azur, übernahmen Aufträge in Cannes, Nizza, Monaco. Eine tolle Zeit war das. Nach dem Tod meines Chefs bin ich nach Deutschland gegangen, weil ich gehört hatte, es gebe hier Arbeit. Zunächst war ich in Frankfurt am Main, fand keinen Job, gelangte dann nach München, wo ich auf einige BISS-Verkäufer aufmerksam wurde. Ich kam mit ihnen ins Gespräch und wurde selbst einer von ihnen. Bis dahin hatte ich etliche Monate auf der Straße gelebt. Nun bin ich froh über mein Zimmer. Mit meinen WG-Kollegen komme ich gut aus, wir respektieren uns gegenseitig. Und wenn ich etwas brauche, habe ich alle Läden in der Nachbarschaft.

Lernwerkstatt – Ein Beitrag für mehr Bildungsgerechtigkeit

Von
CLAUDIA STEINER
Fotos
DIRK BRUNIECKI

In der Lernwerkstatt des BildungsLokals im Münchner Stadtteil Giesing werden Kinder und Jugendliche unterstützt, die sonst durch das Raster fallen. Hier werden sie fit gemacht für Schulaufgaben und Abschlussprüfungen. Aufgrund der Lernunterstützung und der Motivationsarbeit der Mitarbeiterinnen
schaffen einige Schülerinnen und Schüler, an die oft niemand glaubt, Bestnoten.

Amin und Louka „Nilufer hat mehr an uns geglaubt als wir selbst.“
Nilufer „Ich verstehe, dass
viele Lehrer überfordert sind.“

Die 21 Jahre alte Nilufer hat selbst jahrelang in der Schule gekämpft. Sie ist zweimal durchgefallen. „Ich war richtig schlecht. Meist haben mir meine Lehrer gesagt, was ich alles nicht schaffen werde. Irgendwann habe ich mich angestrengt und war richtig fleißig.“ Sie ging entgegen der Empfehlung ihrer Lehrer aufs Gymnasium, machte Abitur. Nun will die junge Frau Lehramt studieren. Im vergangenen Jahr arbeitete sie als Ehrenamtliche im BildungsLokal Giesing und ermutigte in der Lernwerkstatt Jugendliche, an die ebenfalls niemand glaubte.
Die fünf Teenager im Alter zwischen 16 und 18 Jahren gehen alle in eine Klasse. Anders als Nilufer, die hier geboren wurde, sind sie erst seit wenigen Jahren in Deutschland. Sie waren teilweise auf der Flucht und konnten lange nicht zur Schule gehen. Sie kämpfen mit der neuen Sprache, teils mit der neuen Kultur – aber sie wollen es schaffen. Bis zu dreimal die Woche gingen sie im vergangenen Schuljahr nach dem Unterricht in die Lernwerkstatt, um für Schulaufgaben und die Abschlussprüfung im M-Zweig der Mittelschule zu lernen. Alle haben bestanden, mit Abschlussnoten zwischen 1,5 und 3,0. Der 18 Jahre alte Mohammed aus Syrien wurde sogar ausgezeichnet – als bester männlicher Absolvent aus ganz München.

Hülya Hayirli (links) und
Hiam Tarzi-Schams


„Solche Erfolgsgeschichten ermutigen uns natürlich“, sagt Bildungsmanagerin Hiam Tarzi-Schams und schaut zufrieden auf die Lerngruppe. Sie und ihre Kollegin Hülya Hayirli arbeiten eng mit Schulen, Schulsozialarbeitern und den Familien in Giesing zusammen. Sie versuchen, sozial benachteiligte Familien zu erreichen.
Niedrigschwellige Bildungsangebote gibt es hier nicht nur für Kinder und Jugendliche, sondern auch für ihre Eltern und andere Interessierte im Viertel: Im Programm stehen unter anderem Sprach-und PC-Kurse oder auch Bewerbungscoaching.

Das Referat für Bildung und Sport betreibt in München acht BildungsLokale über das Stadtgebiet verteilt. Die Bildungsangebote für Kinder, Jugendliche und Erwachsene sind kostenlos. Weitere Informationen bekommen Sie unter www.muenchen.de, Stichwort:
Bildungslokale oder im BildungsLokal in Ihrer Nähe.
Neuaubing-Westkreuz, Radolfzeller Straße 11a, 81243 München, Tel.: 089 233-29255
Neuperlach, Peschelanger 8, 81735 München, Tel.: 089 62837531, Tel.: 089 62837751
Schwanthalerhöhe, Ligsalzstraße 2, 80339 München, Tel.: 089 50028130, Tel.: 089 50028749
Riem, Willy-Brandt-Allee 18, 81829 München, Tel.: 089 203279602
Giesing, Schlierseestraße 73, 81539 München, Tel.: 089-620093582
Berg am Laim, Schlüsselbergstraße 4, 81673 München, Tel.: 089 954466480, Tel.: 089 954466481
Ramersdorf, Balanstraße 79, 81539 München, Tel.: 089 606657171, Tel.: 089 606657172
Hasenbergl, Linkstraße 56, 80933 München, Tel.: 089 31202118

Lebenswille

EIN TEXT AUS DER SCHREIBWERKSTATT

von Dirk Schuchardt

Mit Anfang 20 brachen bei mir beinahe gleichzeitig verschiedene Bluterkrankungen aus, die ich von meinen Eltern geerbt hatte. Zuerst kam die Fettstoffwechselstörung und kurz darauf Diabetes. Bis zu diesem Zeitpunkt war ich sportlich noch recht aktiv und wog bei einer Größe von 184 Zentimetern etwa 82 Kilogramm. Einhergehend mit der Fettstoffwechselstörung bekam ich zunehmend Probleme mit meinen Blutgefäßen. Es bildeten sich allmählich Ablagerungen, die im Laufe der Jahre zu Verengungen führten. 2009 hatte ich dann meine erste Operation an der Halsschlagader. Es folgten mehrere Operationen, bis dann 2017 alles zu spät schien. Die Carotis interna links war zu 100 Prozent zu! Die beiden Schlagadern auf der rechten Seite (Carotis in/externa) waren zu 90 Prozent zu. Ich wurde sofort in die Klinik eingewiesen, in der ich schon mehrmals operiert worden war. Die Ärzte dort trauten sich aber nicht mehr, und so wurde ich noch in derselben Nacht mit einem Rettungsdienst nach Harlaching gefahren. Sofort wurde ich in den schon für mich vorbereiteten OP-Saal gebracht. Ich lag also auf dem OP-Tisch, über und neben mir unzählige Apparate und Monitore, und fragte mich, ob ich die Welt außerhalb dieses Raumes noch einmal wiedersehen würde. Einige Menschen werkelten an mir herum, legten Zugänge. Plötzlich trat ein Mann an meine Seite, den ich anhand seines Namensschildes als Professor Doktor identifizieren konnte. Dieser beugte sich zu mir runter und sagte zu mir: „Keine Angst, Herr Schuchardt, ich kriege Sie schon wieder hin. Sie sind mir noch zu jung, um jetzt schon zu gehen. Wir haben ja auch denselben Jahrgang.“ Ich lauschte seinen Worten, und da mir seine Sprechweise so bekannt vorkam, fragte ich ihn: „Herr Professor, wo kommen Sie her?“ Er antwortete mir, dass er aus der Nähe von Dortmund wäre, worauf ich erwiderte, dass ich aus Bergkamen bei Unna käme. Der Professor schaute über mich hinweg zu seinem Oberarzt und sagte erstaunt: „Jetzt muss ich mich aber doppelt anstrengen, der“ – er meinte mich – „kommt auch noch aus demselben Dorf wie ich.“ Von diesem Moment an waren wir Freunde. Auch wenn dieser Mensch mittlerweile seine ärztliche Kunst den Patienten in Norddeutschland zugutekommen lässt, verbindet uns diese Freundschaft. Ich kann ihn jederzeit telefonisch um medizinischen Rat fragen, und er würde sich sogar bereit erklären, mich in seinem jetzigen Wirkungskreis zu operieren. Mein lieber Freund, ich danke dir, dass du mein Leben gerettet hast.