Thema | Alles in Eigenarbeit | Dinge selbst in die Hand zu nehmen macht nicht nur Spaß, sondern schont auch die Umwelt und den Geldbeutel |6Interview mit Dr. Marianne Koch | 10 Analphabetismus: Als Erwachsener lesen und schreiben lernen | 14 Wenn nicht jetzt, wann dann? Interview mit Münchens Oberbürgermeister Dieter Reiter | 18 Offene Werkstätten: Viel Raum für eigene Projekte | 5 Wie ich wohne | 24 BISS-Verkäufer*innen erzählen, was sie bewegt | Rubriken | 3 Editorial | 26 Patenuhren | 27 Freunde und Gönner | 30 Mein Projekt, Impressum | 31 Adressen
Oberbürgermeister Dieter Reiter im Gespräch mit MARGIT ROTH und RAINER STADLER
BISS: Bei unserem letzten Gespräch vor zwei Jahren waren Sie sehr optimistisch, der Stadt ging es finanziell blendend. „Wir kaufen uns die Stadt zurück“, sagten Sie und wollten bis 2030 einen Bestand von 100.000 Wohnungen erreichen. Das war vor Corona. Ist das Ziel noch realistisch?
DIETER REITER: Zwischendurch sah die Finanzlage aufgrund der Pandemie sehr schlecht aus, wir hatten eine halbe Milliarde Minus zu erwarten. Inzwischen sind die Aussichten wieder besser. Die Stadt besitzt bereits rund 70.000 Wohnungen, auch weil wir nie Wohnungen verkauft haben. Dazu kommen die bestehenden Genossenschaftswohnungen und die aus jenen Genossenschaften, die hoffentlich noch gegründet werden, denn sie bauen beispielsweise auf städtischen Grundstücken langfristig bezahlbare Wohnungen. Insofern zähle ich diese Wohnungen dazu. Darüber hinaus müssen wir die Werkswohnungen der Post- und Eisenbahngenossenschaften retten. Dazu bin ich gerade mit Berlin im Gespräch.
Worum geht es dabei?
In den vergangenen Jahren war es so, dass der Bund Wohnungen, die aus der Bindung gelaufen sind, verkauft hat. Viele der Menschen, die bisher in diesen Wohnungen gelebt haben, waren gezwungen, die Stadt zu verlassen. Wir können in Erhaltungssatzungsgebieten versuchen, Wohnungen über das Vorkaufsrecht zu kaufen. Das haben wir in München in den vergangenen Jahren auch oft getan. Diese Möglichkeit wurde uns jetzt genommen.
Sie sprechen das Urteil des Bundesverwaltungsgerichts in Leipzig an, das die Rechte der Kommunen stark eingeschränkt hat. Was bedeutet das für München?
2020 haben wir 285 Wohnungen gekauft und dafür 143 Millionen Euro ausgegeben. Das sind rund 500.000 Euro pro Wohnung, um die Menschen vor Luxussanierungen und unbezahlbaren Mieten zu retten. Nicht jede dieser Wohnungen war das Geld noch wert. Geschäft ist das für uns keines, aber wir machen es trotzdem.
Wer wohnt wie? In der Kolumne geben BISS-Verkäuferinnenund -Verkäufer Einblicke in ihren Wohnalltag. Sie erzählen, wie sie früher gelebt haben, wie sie momentan wohnen und was sie sich für die Zukunft erhoffen.
Der Gitarrenspieler
Protokoll ANNELIESE WELTHER
Foto: Martin Fengel
Mein 1-Zimmer-Appartement liegt im siebten Stock. Bei klaren Sichtverhältnissen kann ich das Alpenpanorama bewundern durch das einzige Fenster in meiner Wohnung, das aber dafür so groß ist wie eine ganze Wand. Davor ist ein schmaler Balkon, auf dem ich abends gern sitze und rauche. Im Sommer ist unter mir alles grün, im Winter aber, wenn das Laub weg ist, kann ich auf die Straße sehen. Sie ist sehr befahren und man hört immer etwas Lärm. Aber sie bringt Bewegung in mein Leben. Ich empfinde die Gegend, in der ich wohne, dennoch als ruhig. Meine Nachbarn sind mir gegenüber reserviert, vielleicht, weil ich BISS-Verkäufer bin. Ich beobachte aber auch, dass die meisten mit gestressten oder bekümmerten Gesichtern herumlaufen. Aber ich habe in der Nachbarschaft auch eine deutsche Freundin gefunden und es gibt ein Café und eine Bäckerei hier, wo ich vor der Arbeit oft einen Kaffee trinke. Mein Lieblingsplatz in der Wohnung ist mein Bett. Es könnte etwas größer sein, aber schließlich bin ich auch nicht so groß, das geht schon. Ich arbeite sehr viel, oft bis 23 Uhr. Dann komme ich müde nach Hause und lege mich schlafen. Anderthalb Jahre habe ich auf einer Parkbank auf dem Orleansplatz übernachtet. Der liegt direkt am Ostbahnhof, wo ich tagsüber mit Gitarrenmusik etwas Geld verdiente. Gitarre spielen habe ich mit sieben Jahren angefangen in einem rumänischen Kinderheim, wo ich nach der Trennung meiner Eltern hingekommen war. Das Gitarrespielen war nicht das Einzige, was ich im Heim gelernt habe und auf der Straße nutzen konnte. Im Prinzip waren das Leben im Kinderheim und das Leben als Obdachloser grundverschieden. Im Heim gab es Erziehung, Prügel, Essen und ein strenges Regiment. Jedoch brachte es mir bei, mich als Einzelner im Leben durchzuschlagen. Als Erwachsener habe ich eine Ausbildung zum Matrosen gemacht und war auf Frachtern auf der Donau unterwegs. Dort war ich immer in einer eigenen, recht komfortablen Kabine untergebracht, nur das Bad musste ich mit anderen teilen. Doch es kam zu Entlassungen und ich wurde arbeitslos, bekam andere Jobs, die schlecht bezahlt waren und nichts mehr mit meiner Ausbildung zu tun hatten. Ich tat mich sehr schwer und beschloss 2015, Rumänien zu verlassen. Mein Geld reichte für einen Bus nach Wien. Dort am Bahnhof angekommen, sah ich viele Obdachlose und Drogenabhängige, was mich abschreckte, sodass ich in den nächsten Zug stieg. Der ging zufällig nach München, wovon ich schon als Kind gehört hatte und wusste, dass es eine schöne, große Stadt ist. Ohne Fahrkarte, aber mit meiner Gitarre fuhr ich los. Ich hatte Glück, dass mich der Schaffner nicht rauswarf. So kam es, dass ich am Ostbahnhof Gitarre spielte, bis ich BISS entdeckte. Mittlerweile bin ich einer der besten Verkäufer. Ein Leben lang hat mich das Gefühl begleitet, weg von zu Hause zu sein. Lange Zeit war ich auf der Suche. Doch nun bin ich endlich angekommen. Es macht mich stolz, zu wissen, dass ich Teil dieser Stadt bin.
Was für Mark Twain einst der Mississippi war, ist für mich das Donaudelta. Ich bin in dem Ort Sulina geboren, der liegt an der Stelle, wo die Donau ins Schwarze Meer fließt. Letzten Sommer war ich nach über 20 Jahren wieder dort. Ich habe Verwandte besucht und mir das Haus angesehen, in dem ich bis zu meinem zwölften Lebensjahr gewohnt habe. Wir lebten damals auf einer Insel. Man hat dort sowohl das Meer mit dem Strand als auch den Fluss und selbstverständlich das Delta. Spielen konnte man nur am Wasser. Zur gleichen Zeit, als ich laufen gelernt habe, lernte ich auch schwimmen. Schwimmen war überlebenswichtig. Mittlerweile hat sich viel verändert. Man hört in den Straßen Chinesisch, Italienisch, Spanisch, Französisch oder Dänisch, alles ist voller Touristen. Früher war es hier viel ursprünglicher und naturnaher. Zur Zeit des Kommunismus war es schon schwer, ein Eis zu bekommen. Heute gibt es viele neue Gebäude, Hotels und Pensionen. Man darf allerdings nicht allzu hoch bauen, das hält der Sandboden nicht aus. Die Wirtschaftszweige sind der Tourismus und die Fischerei. Wobei die Fischerei aber nicht mehr so ein großes Geschäft ist. Früher wurde mehr gefischt, was die Fischmenge reduzierte. Jetzt gibt es viele Regeln und das Fischen wird hauptsächlich im kleinen Stil betrieben. Es leben im Meer, im Fluss und im Delta übrigens jeweils unterschiedliche Fischarten. In Sulina gibt es nur sechs parallele Straßen, die auch Namen haben, aber wir nennen sie immer nur erste oder vierte oder fünfte Straße. Fragt man einen Einheimischen nach dem Weg und sagt man den richtigen Namen, wird er einen wahrscheinlich ganz verdutzt anschauen und gar nicht wissen, was gemeint ist. Als ich ein Kind war, gab es auch nur zwei Autos, eines gehörte der Feuerwehr, das andere dem Brotlieferanten. Tatsächlich schafften es diese beiden eines Tages, einen Unfall zu bauen! Meine Freunde und ich liebten es, die Abenteuer von Tom Sawyer zu lesen. Inspiriert von den Büchern, begaben wir uns auch regelmäßig auf Schatzsuche. Etwas wirklich Wertvolles haben wir dabei nie gefunden. Zwei Wochen bevor ich im Sommer in meine alte Heimat gereist bin, habe ich einen Freund in Stuttgart besucht und dabei bei Ulm die Donau gesehen. Da habe ich mich gefragt, ob das Wasser, das jetzt an mir vorbeifließt, wohl dasselbe sein wird, das ich 14 Tage später im Donaudelta sehen werde. Auf jeden Fall möchte ich noch einmal in den Ort meiner Kindheit fahren, allerdings will ich das nächste Mal meine Reise etwas länger im Voraus planen, damit ich nicht mehr bei meinen Verwandten auf dem Boden schlafen muss, weil alle Unterkünfte ausgebucht sind. Den Schatz, den ich als Kind gesucht habe, habe ich jetzt gefunden: Es ist mein Geburtsort.
„Ist jetzt alles aus?“, hat mich einer unserer Verkäufer angesprochen und ich habe in dem Moment seine tiefe Angst vor dem Krieg in der Ukraine spüren können. Es sind elende Zeiten für die Menschen, die in Kiew, Charkiw und anderen ukrainischen Städten unter erbärmlichen Bedingungen ausharren. Viele Ukrainer sind auf der Flucht zu sicheren Orten. Der russische Tyrann Putin und seine Militärmacht töten und zerstören die Infrastruktur des Landes und bomben den Menschen buchstäblich das Dach über dem Kopf weg. Seit es BISS gibt, kamen Menschen auch aus Kriegsgebieten wie dem Balkan, Afghanistan oder dem Irak nach Deutschland und wurden Verkäufer bei uns. Sie und viele andere haben ihre alte Heimat verloren und neu anfangen müssen. Bei uns BISSlern herrschte schon deshalb große Betroffenheit, als wir uns im März nach langer Pause wieder zur sogenannten Verkäufersitzung getroffen haben. Wie gut, dass es auch erfreuliche Nachrichten gibt, so von der Bundestagung der BAG Wohnungslosenhilfe in Berlin, die nach der pandemiebedingten Pause endlich wieder stattfinden konnte: „(Un)Bedingt systemrelevant – Gemeinsam gegen Existenznot und Wohnungslosigkeit“ lautete das diesjährige Motto. Es trafen sich dort Expertinnen und Experten aus Politik, Verwaltung und Wissenschaft, aber auch die Wohnungswirtschaft war vor Ort sowie diejenigen, die hilfesuchende Menschen in den Beratungsstellen und Einrichtungen direkt unterstützen. Ich fand es ausgesprochen positiv, dass die neue Bundesministerin Klara Geywitz des ebenfalls neuen Bundesministeriums für Wohnen, Stadtentwicklung und Bauwesen sehr präsent war und sich klar für die Förderung von bezahlbarem Wohnraum ausgesprochen hat. Ich hoffe, dass sich in dem angekündigten Programm der Ministerin die vielversprechenden Vorschläge der Tagung wiederfinden, etwa die Stärkung der gemeinnützigen und genossenschaftlichen Wohnungswirtschaft oder die steuerliche Förderung von privaten „Fair“mietern, die langfristig Wohnraum mit einer sozial gebundenen Miete bereitstellen. „Wir müssen mutiger sein im Denken und im Einfordern von Veränderungen“ – für diesen Diskussionsbeitrag gab es viel Applaus. Im Zug von Berlin zurück nach München waren geflüchtete Menschen aus der Ukraine. Manche kommen bei ihrer Familie oder bei Freunden unter, andere brauchen dringend eine Unterkunft. Bitte, liebe BISS-Leserinnen und -Leser, wenn Sie Wohnraum anbieten können, auch nur vorübergehend, tun Sie das bei den zuständigen Stellen. Sie können so Menschen in Not helfen und Mut zeigen im Denken und Handeln.