BISS-Ausgabe November 2021 | Heimweh

Cover des BISS-Magazins November 2021

Thema | Am Ende des Tages | Der November ist der Monat der Trauer, der Schwermut und des Abschieds. Es gibt aber auch Lichtblicke. | 6 Heimweh: Sehnsucht nach dem Vertrauten | 12 Autismus: In St. Zeno können Autisten eine Ausbildung machen | 16 Am Ende des Tages: Rituale in der Trauerkultur | 20 Campus di Monaco: Kindern eine Chance geben | 5 Wie ich wohne | 26 BISS-Verkäufer erzählen, was sie bewegt | Rubriken | 3 Editorial | 28 Patenuhren | 29 Freunde und Gönner | 30 Mein Projekt, Impressum | 31 Adressen

Wie ich wohne

Wer wohnt wie? In der Kolumne geben BISS-Verkäuferinnen und -Verkäufer Einblicke in ihren Wohnalltag. Sie erzählen, wie sie früher gelebt haben, wie sie momentan wohnen und was sie sich für die Zukunft erhoffen.

Protokoll ANNELIESE WELTHER

Foto: Martin Fengel

Der Tüftler

Autolärm ist kaum zu hören, nur das Zwitschern der Vögel, manchmal auch spielende Kinder, dabei wohne ich mitten in der Stadt, U-Bahn und Supermarkt sind ganz in der Nähe. Hier aber ist alles grün. Das ist der Blick in den Innenhof vom schönsten Ort in meiner Wohnung aus: dem Balkon. Die ruhige Umgebung erinnert mich an meine Kindheit und Jugend auf dem Land. Ich wuchs bei meiner Oma, meiner Tante und meinem Onkel auf einem Bauernhof in Nordrhein-Westfalen auf. Platz war dort genug, ich hatte ein eigenes Zimmer, in dem mein Radio stand. Am liebsten hörte ich Radio Luxemburg. Das Gerät war ein Geschenk meines Bruders, der mit meinen übrigen drei Geschwistern und den Eltern in den Niederlanden lebte. In den Ferien besuchte ich sie immer. Damals dachte ich, ich würde später mal in einem Haus leben, heiraten und eine Familie gründen. Als ich fünfeinhalb Jahre alt war, schlug unser Pferd aus und traf mich in der Nähe des linken Auges. Später fragte ich mich immer, warum die anderen viel schneller lesen lernten als ich. Da wusste ich noch nicht, dass ich nur die Hälfte von dem sah, was sie sahen. Nach der Schule lernte ich Maschinenbauer, wechselte Spulen bei Elektromotoren aus. Auch sonst habe ich immer gern herumgebastelt. In meiner Wohnung liegt auch noch einiges an Kabeln, Zangen und elektronischem Kleinkram dafür bereit. Aufgrund meiner schlechten Sehleistung musste ich meinen Führerschein abgeben, zehn Jahre nachdem ich ihn gemacht hatte. Ich entschied mich, erst einmal eine Deutschlandreise mit dem Rad zu machen. Als ich nach drei Monaten zurückkehrte, war klar, dass ich nicht bleiben konnte. Zu abgelegen wohnte ich, das nächste Dorf lag fünf Kilometer entfernt, die nächste Stadt zehn. Ohne Auto lief hier nichts. Da ich die Idee für zwei Patente hatte, zog es mich nach München, um sie beim Patentamt anzumelden. Zunächst kam ich bei der Heilsarmee unter und teilte mir ein Zimmer mit dem Hausmeister und einem BISS-Verkäufer. Anfangs recherchierte ich für meine Patente, musste sie dann jedoch aus Kostengründen aufgeben. Um soziale Kontakte und zusätzliches Geld zu haben, begann ich die BISS zu verkaufen. So richtig ländlich war es auch auf dem sogenannten Gnadenacker, wo ich in einem der vier gespendeten Wohnwagen lebte. Meistens waren wir sechs bis sieben Personen, die dort wohnten. Strom hatten wir durch eine von mir installierte Windkraftanlage. In der kalten Jahreszeit heizten wir mit Holz und Briketts. Eine tolle Zeit war das, bis die Stadt den Platz räumen ließ, weil er Teil des damals entstehenden BUGA-Geländes werden sollte. Daraufhin kam ich in Männerunterkünften unter. Über eine Sozialarbeiterin gelangte ich vor elf Jahren zu meiner jetzigen Wohnung, die 50 Quadratmeter groß ist und für die ich momentan 380 Euro mit Nebenkosten pro Monat zahle. Etwas an ihr zu ändern oder zu verbessern macht für mich momentan nicht viel Sinn, da ich in etwa drei Jahren raus muss. Ein zusätzliches Stockwerk soll oben aufs Haus gesetzt werden. Ob ich dann noch hierher zurückkommen kann, weiß ich nicht. Bis dahin genieße ich die Aussicht von meinem Balkon.

Am Ende des Tages

Die Trauerkultur in München ist längst multikulturell

ILLUSTRATION: ELENIA BERETTA

Von CHRISTOPH LINDENMEYER

Als die Tage noch heller waren als jetzt im dunklen November, entstanden im sogenannten Volksmund merkwürdige Begriffe und Sätze: „Triell“, „Narrativ“, „gendern“ und das Stereotyp „Am Ende des Tages“, das sich nahtlos an die Leerformel „Genau!“ reiht. Kaum ein politisches Statement verzichtete auf die Formel „Am Ende des Tages“. Wer vom „Ende des Tages“ spricht, gibt vor, eine Sache vom Ende her zu bedenken, vom Ausgang der Diskussions- und Entscheidungsprozesse, vielleicht auch des Lebens. Oft aber werden die Fragen nach den letzten Dingen in unserer Gesellschaft verdrängt; der Tod wird ausgeklammert und Trauer- wie Abschiedszeremonien werden von immer weniger Menschen bewusst ertragen.

Drei Gespräche in München. Drei verschiedene Treffpunkte.
Ein Café in der Herzogstraße in Schwabing. Ein Beratungszimmer bei AETAS, dem Haus für Lebens- und Trauerkultur am Westfriedhof. Das Chefzimmer der Städtischen Bestattung im Palais Lerchenfeld in der Damenstiftstraße. Eine Filmemacherin, Autorin und freie Rednerin, die auch Trauer- und Hochzeitsrednerin ist. Eine frühere Arzthelferin, die heute als Trauerbegleiterin arbeitet. Ein früherer katholischer Theologe und Pfarrer. Drei Gesprächspartner*innen, stellvertretend für viele andere, die es in der Landeshauptstadt gibt. Es sind ernste Gespräche, keine traurigen.


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Einmal Berlin und zurück

EIN TEXT AUS DER SCHREIBWERKSTATT

Von Niculae-Ioan Nagy

Mein Leben geriet aus den Fugen, nachdem meine Frau mich verlassen hatte. Bis dahin war alles ganz normal gewesen, ich war behütet aufgewachsen, hatte später geheiratet und eine kleine Tochter bekommen. Mein Geld verdiente ich bei einer Sicherheitsfirma, wo ich nachts Container auf einem Lagerplatz bewachte. Dann aber hatte meine Frau einen anderen Mann, und plötzlich stand ich allein da. Den Anblick meiner ehemaligen Gattin in der Stadt konnte ich nicht ertragen, es machte mich traurig, aber auch wütend. Ich bekam Angst, dass ich ihr irgendwann einmal etwas antun könnte. So beschloss ich fortzugehen, nicht nur weg aus meiner Heimatstadt Klausenburg, am liebsten ganz raus aus Rumänien. In der Innenstadt gab es zahlreiche kleine Büros, Arbeitsvermittlungen, die einem Jobs im Ausland beschafften. In einer von ihnen ließ ich mich beraten. Man versprach mir eine Arbeit in Deutschland mit Vertrag, eine gute Unterkunft und ein ordentliches Gehalt. Alles wirkte seriös, also heuerte ich an. In einem kleinen Bus wurde ich mit anderen Arbeitswilligen nach Berlin gebracht. Dort kam die erste Enttäuschung: Mein Schlafplatz war eine Matratze auf dem Boden, mit neun anderen Männern im Zimmer. Dazu hatten wir noch ein Bad und eine kleine Küche. Ich wurde auf unterschiedlichen Baustellen eingesetzt. Meine Kollegen und ich waren mit dem Abriss von alten Baubeständen beschäftigt, eine harte Arbeit, bei der ich mich acht bis zehn Stunden am Tag abrackerte, an sechs Tagen die Woche. Nur am Sonntag hatte ich frei. Da war ich aber so fertig von der Woche, dass ich eine Dusche nahm und vielleicht ein, zwei Stunden spazieren ging. Die meiste Zeit des Tages ruhte ich mich jedoch einfach nur aus. Von irgendwelchen Freizeitaktivitäten konnte keine Rede sein. Dazu fehlte mir auch das Geld, denn ich erhielt nur 50 Euro pro Woche, von denen ich mir mein Essen kaufte. Erst nach etwa sechs Wochen bekam ich mein Gehalt ausgezahlt, 1000 Euro. Das war nur etwa die Hälfte von dem, was vereinbart war. Einen Vertrag hatte ich immer noch nicht, und das war wohl auch nicht mehr vorgesehen. Der Chef, der uns auf die verschiedenen Baustellen schickte, sagte nur, wem das so nicht passe, der könne ja gehen. Ich ging, wie die anderen, die in meiner Situation waren, übrigens auch, und kehrte zurück nach Rumänien. Dort stand ich nun schlechter da als vorher, denn meinen Job als Nachtwächter hatte mittlerweile ein anderer. Wäre ich doch bloß niemals weggegangen.