BISS-Ausgabe Oktober 2021 | Sich entfalten

Cover des BISS-Magazins Oktober 2021

Thema | Bühne frei, Vorhang auf | Sich entfalten zu können ist ein Grundbedürfnis eines jeden Menschen – sei es durch die eigene Stimme oder durch kreatives Werken | 6 Wenn Kunst die Seele heilt: Im TheaterAtelier finden Menschen mit psychosozialen Schwierigkeiten den Raum für Selbstverwirklichung Lage | 10 Sozial entrümpeln: Ausräumen, recyceln und dadurch soziale Arbeitsplätze sichern | 14 Die eigene Stimme finden: Logopädie ist ein Schritt auf diesem | 18 Tierische Begleiter In der Pandemie sind viele auf den Hund oder die Katze gekommen | 26 Mut der Generationen: Projekt zum lesbischen Selbstverständnis | 5 Wie ich wohne | 22 BISS-Verkäufer erzählen, was sie bewegt | Rubriken | 3 Editorial | 26 Patenuhren | 27 Freunde und Gönner | 30 Mein Projekt, Impressum | 31 Adressen

Wie ich wohne

Wer wohnt wie? In der Kolumne geben BISS-Verkäuferinnen und -Verkäufer Einblicke in ihren Wohnalltag. Sie erzählen, wie sie früher gelebt haben, wie sie momentan wohnen und was sie sich für die Zukunft erhoffen.

Protokoll: ANNELIESE WELTHER
Foto: Martin Fengel

Unsere Wohnung befindet sich in einem Mehrfamilienhaus. Es ist eines von vielen älteren Gebäuden, nebeneinander bilden sie eine hübsche Fassade, wie man sie an vielen Stellen in München findet. Gleich im Erdgeschoss wohnen wir, man ist schnell drin, aber auch schnell wieder draußen. Das ist gut, denn meine Frau und ich gehen gern in der Umgebung spazieren. Es ist eine ziemlich ruhige Gegend. In der Nähe gibt es einen Park und von unseren Fenstern aus
kann man Schrebergärten sehen. Dabei wohnen wir mitten in der Stadt, ein paar Straßen weiter ist schon mehr los. Früher in Rumänien war es ganz anders. Ich bin auf dem Land groß geworden, habe mit meiner Familie in einem Haus gelebt. Meine Frau kenne ich schon seit Kindesbeinen an, wir stammen aus dem gleichen Dorf. Nachdem wir geheiratet hatten, war es nicht so einfach für mich, denn wir wohnten bei meinen Schwiegereltern, die mir das Leben schwer machten. Als unsere beiden Kinder klein waren, benötigten wir mehr Platz als jetzt, und den hatten wir auch, in unserem Haus waren drei Zimmer. Dann kam die Revolution in Rumänien, der langjährige kommunistische Anführer Ceauceșcu wurde gestürzt und ein demokratisches, sich am Westen Europas orientierendes System wurde errichtet. Zunächst freute mich das. Ich arbeitete damals in einer großen Metallfabrik. Bald schon verlor ich jedoch diese Beschäftigung und fand ein Jahr lang keine mehr. Wir sahen uns gezwungen, das Land zu verlassen, verkauften das Haus und zogen nach Italien. Dort teilten wir eine Wohnung mit drei Familien, meine Frau und ich besaßen ein Zimmer für uns, Bad und Küche hatten wir gemeinsam mit den anderen. Unsere Kinder waren schon groß, lebten nicht mehr bei uns. Bevor ich unsere jetzige Wohnung bezogen habe, war ich bei Freunden untergekommen. Es war eine große Freude, als ich mit meiner Frau hier einziehen konnte. Natürlich ist es kleiner als im Haus: Wir haben ein Bad, eine kleine Küche, und ein Raum mit zwei Betten und einem großen Fernseher dient uns als Wohn- wie auch als Schlafzimmer. Aber mehr brauchen wir nicht. Das Leben in der Stadt gefällt mir besser als das auf dem Land. Nur manchmal gibt es Probleme mit dem Warmwasser, dann müssen wir die Handwerker bestellen, die sich darum kümmern. Auch wohne ich ein bisschen weit weg von meinem Verkaufsplatz, aber mit der U-Bahn komme ich gut dorthin. Auf dem Heimweg ist meine Tasche, in der ich die Zeitschriften habe, leerer als vorher und ich kann gleich ein paar Besorgungen erledigen, bringe Lebensmittel und Getränke nach Hause. Hin und wieder besuchen uns auch unsere Tochter und die Enkelkinder. Häufiger gehe ich zu ihnen, allein, denn ihr Zuhause ist ein ganz schönes Stück entfernt von uns, man muss mit dem Bus fahren und eine Strecke laufen. Meine Frau schafft das leider nicht mehr. Auf ihre Initiative hin hängen in unserem Zimmer Bilder von Rosen, und es gibt auch mehrere Vasen mit bunten Kunststoffblumen. Eine Frau, die Blumen liebt, liebt auch ihren Mann und ihre Familie. Wir führen ein bescheidenes Leben, doch haben wir alles, was wir brauchen, und sind damit zufrieden. Mehr wünschen wir uns gar nicht.

Mit tierischer Hilfe durch die Pandemie

Seit das Corona-Virus sich in Deutschland ausbreitet, ist die Anzahl der Haustiere stark gestiegen. Hund, Katze oder Hase sorgen für Gesellschaft im Lockdown und fördern überdies die Gesundheit. Doch sollte man sich gerade jetzt gut überlegen, ob man so ein Tier auch nach der Pandemie noch artgerecht halten kann.


Von MAURITIUS MUCH
Fotos  TOBY BINDER

Polly ist immer dabei, wenn BISS-Verkäufer Martin Berrabah unterwegs ist

Die Lockdown-Phasen in der Corona-Pandemie hat auch Martin Berrabah deutlich gespürt. Der Mann mit der Schiebermütze verkauft BISS-Ausgaben morgens von kurz vor sieben bis neun Uhr am Ostbahnhof, dann im Perlacher Einkaufszentrum (PEP). „Dadurch, dass so viele Geschäfte nicht auf waren und viele Homeoffice gemacht haben, kamen viel weniger Menschen vorbei und kauften dementsprechend weniger Zeitungen. Das war manchmal schon frustrierend.“ Gerade dann war Berrabah besonders froh, dass er Polly hat. Der Yorkshire-Terrier-Mischling ist seit vier Jahren überall mit dabei – natürlich auch beim Verkaufen der BISS-Ausgaben. „Wenn ich während der Corona-Zeit die Geduld verlor oder mich ärgerte, dass niemand die Zeitung kaufen wollte, bin ich einfach aus dem PEP raus und eine halbe Stunde Gassi gegangen.“ Direkt hinter dem Einkaufszentrum ist ein großer Park. Dort ließ Berrabah den Hund frei laufen und drehte mit ihm eine Runde. „Dabei konnte und kann ich sehr gut abschalten“, sagt er und streichelt seiner Hundedame übers beige Fell. Er hat in der Mittagshitze unter einem Baum in dem Park hinterm PEP Platz genommen. Nun flitzt Polly durchs Gras. Jeder andere Hund wird durch freudiges Bellen begrüßt. „Polly, ist gut“, ruft Berrabah und pfeift. Sofort kommt der Mischling angelaufen. „Sie weicht mir nicht von der Seite.“
Wie Berrabah sind viele Menschen gerade in Pandemie-Zeiten froh, einen Hund oder ein anderes Haustier zu haben. Corona hat sogar dazu geführt, dass sich viele, die vorher keinen tierischen Mitbewohner hatten, ein Kaninchen, eine Katze oder einen Terrier angeschafft haben. So verkündeten der Industrieverband Heimtierbedarf (IVH) und der Zentralverband Zoologischer Fachbetriebe Deutschlands (ZZF) bereits im März, dass die Anzahl der Haustiere in den vergangenen zwölf Monaten um fast eine Million auf knapp 35 Millionen Tiere gestiegen sei. „Das ist schon ein gewaltiger Anstieg“, sagt Frank Nestmann, Professor am Institut für Sozialpädagogik, Sozialarbeit und Wohlfahrtswissenschaften der TU Dresden. Dort gehört Nestmann zu einer Forschungsgruppe, die die Beziehung zwischen Tier und Mensch untersucht. Mittlerweile sind in knapp der Hälfte aller deutschen Haushalte ein Kanarienvogel, eine Perserkatze oder ein Schäferhund zu Hause. Beliebteste Tiere sind Katzen (15,7 Millionen Exemplare) und Hunde (10,7 Millionen). Die Heimtierbranche verzeichnete insgesamt seit Corona-Beginn einen enormen Wachstumsschub. Der Umsatz stieg um 5 Prozent auf 5,5 Milliarden Euro. 3,3 Milliarden Euro gaben die Deutschen allein für Katzen- bzw. Hundefutter aus. Auch im Bekanntenkreis von Martin Berrabah haben sich in der Pandemie mehrere Leute Haustiere angeschafft. „Das empfehle ich jedem“, sagt das Herrchen von Polly. „Zwei, drei Kunden von mir haben nun einen Hund oder eine Katze. Sie sind sehr glücklich mit ihnen.“ So geht es auch Berrabah. Vor Polly hatte er bereits einen Hund namens Maja. Doch sie starb 2016. Ein Jahr später fragte eine Kundin ihn, ob er nicht wieder einen Hund wolle. Sie hätte da einen Mischling, der ein Zuhause sucht. Beim ersten Treffen ist Polly gleich auf Martin Berrabah zugelaufen, warf sich ihm zu Füßen und ließ sich zehn Minuten auch am Bauch streicheln. „Dadurch hat sie mir signalisiert: Du bist mein Herrchen.“ Zunächst hatten die beiden noch zwei weitere Mitbewohner, die Katzen Oskar und Felix. Da sie schon mit Hündin Maja zusammengelebt hatten, akzeptierten sie auch Polly schnell. Doch die Kater starben vor einiger Zeit im hohen Alter von 15 und 16 Jahren. Da half es Berrabah sehr, dass er mit Polly eine weitere tierische Begleitung hatte.

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Zu leben ist schwer, aber nicht unmöglich

EIN TEXT AUS DER SCHREIBWERKSTATT

Von Husnain Akbar

In Libyen hatte ich eine Schmuckwerkstatt, die gut lief. Aber mit dem Bürgerkrieg änderte sich alles. Weil mein Leben dort immer gefährlicher wurde, kontaktierte ich den Mann, der auch schon einen Freund von mir nach Italien gebracht hatte. Weil er mit mir noch meinen Rollstuhl befördern musste, verlangte er von mir anstelle von 500 Euro für die Überfahrt 2.800 Euro. Ich musste mir das Geld von Freunden leihen. Als ich dann sah, womit wir das Meer von Libyen nach Italien überqueren würden, wollte ich nicht mit. In dem motorisieren Holzboot sollten über 300 Menschen Platz nehmen. Das erschien mir viel zu eng. Der Mann sagte, wenn ich nicht mehr mitkommen wolle, müsse ich sterben. Eine syrische Familie weigerte sich zu fahren, da hat der Mann sie vor unser aller Augen erschossen. Die Leichen blieben an Ort und Stelle liegen. Alle unsere Sachen, also auch meinen Rollstuhl, das Geld, unsere Papiere, hat der Mann uns abgenommen und versprochen, wir würden es später kriegen. Wir sahen die Sachen nie wieder. Weil das Wetter schlecht für eine Überfahrt war, mussten wir zwei Tage lang, ohne etwas zu essen oder zu trinken, unter freiem Himmel, bei gleißender Hitze, sehr beengt und ohne Toilette ausharren. Dann ging es am Abend los. 17 Stunden waren wir auf See. Viele weinten oder beteten. Wir alle glaubten, dass wir dieses Boot nicht lebend verlassen würden. In der Nacht war alles schwarz, man konnte nichts erkennen, denn es gab kein noch so kleines Licht. Geräte zum Navigieren benutzte er nicht, und zweimal verirrte er sich. Schließlich rief er per Funk nach Hilfe. Vier Stunden lang suchten sie uns. Als sie uns gefunden hatten, holten sie uns mit einem kleinen Boot nacheinander an Bord eines größeren Schiffes. Zunächst verstanden wir nicht, was vor sich ging, und wollten nicht mit. Unser Bootsführer sagte aber, wenn wir nicht mitgehen würden, würde er uns töten. Auch mahnte er uns, ihn auf keinen Fall als Drahtzieher zu verraten. So kam ich nach Italien. Einen Tag lang lag ich nur im Bett, denn ich konnte mich ohne Rollstuhl nicht fortbewegen. Ich habe ein Foto, das ich an diesem Tag von mir gemacht habe. Dort blicke ich teilnahmslos mit glasigen Augen vor mich hin. Trotz allem bin ich ein positiver Mensch. Zu leben ist schwer, aber nicht unmöglich, sage ich immer. Und so bekam ich am nächsten Tag einen Rollstuhl. Und jetzt, einige Jahre später, arbeite ich sogar neben dem Job als BISS-Verkäufer wieder in meinem erlernten Beruf als Goldschmied in einem kleinen Laden in Pasing.

Was macht eine Stadt aus? Die Menschen!

Karin Lohr, Foto: Volker Derlath

Vielleicht haben Sie dieses Mal, als Sie die BISS gekauft haben, ein bisschen gestutzt beim Blick auf das Titelbild. Zu sehen ist eine besondere Collage, zusammengesetzt aus Fotos von vier Verkäufern und zwei Verkäuferinnen, die am 29. Juni auf dem Königsplatz bei einem Theater-Großereignis über einen 60 Meter langen Laufsteg gegangen sind: Sanda Boca, Marioara Lacatus, Tibor Adamec, Zuheir Takiyan, Ion Plesa und unser Stadtführer Wolfgang Räuschl (von links nach rechts). „What Is the City but the People?“ fragten die Münchner Kammerspiele und als Antwort darauf zeigten sich an dem Abend auf der Bühne 150 ganz unterschiedliche Menschen der Stadt: Ex-Operndiven, Tierpräparatoren, Managerinnen, Arbeitssuchende, Braumeister, Dragqueens, Eisbachsurfer, Obststandbetreiber, Großfamilien, Architekten und natürlich wir BISSler. Eigentlich hätte die Veranstaltung schon zu Beginn der neuen Theaterspielzeit im Herbst 2020 stattfinden sollen, musste aber wegen der Corona-Pandemie verschoben werden.
Der zweite Versuch, im Juni, stand zunächst ebenfalls unter keinem guten Stern, denn als wir uns zur verabredeten Zeit am Königsplatz trafen, mussten Herr Adamec und ich uns vor einem Unwetter mit sintflutartigem Regen in der U-Bahn-Station in Sicherheit bringen. Einige BISS-Verkäufer stellten sich zusammen mit vielen anderen in der Säulenhalle der Staatlichen Antikensammlung unter. Danach aber kam es, wie von den Veranstaltern vorhergesagt: Der Regen stoppte und der Himmel klarte auf. Team BISS hatte natürlich auch ein wenig Lampenfieber, aber vor allem fanden es die Beteiligten spannend und waren enorm stolz, die Straßenzeitung repräsentieren zu können. Ich war wieder einmal beeindruckt, wie zuverlässig und pünktlich sich unsere Leute an Absprachen gehalten haben und wie unkompliziert sie mit anderen Leuten ins Gespräch gekommen sind. Wir alle haben bei dieser Veranstaltung gespürt, was in den Monaten der Pandemie so kaum mehr stattgefunden hat: entspannter Umgang mit fremden Menschen, die eben nicht in erster Linie eine Infektionsquelle mit Ansteckungsgefahr sind, sondern die, wie man selbst, gute Gründe und alle Rechte haben, sich im öffentlichen Raum aufzuhalten. Und dass man trotz mehr oder weniger augenscheinlicher Unterschiede freundlich und wohlwollend miteinander umgehen muss, gerade wenn es, wie in einer Großstadt wie München, oft eng zugeht. Wenn das Anderssein als Bereicherung und nicht als Bedrohung erlebt wird, ist der größte Schritt zu einem sozialen Miteinander schon getan.

Herzlichst


Karin Lohr, Geschäftsführerin