Thema | (Im)mobil | Wie wir Barrieren aus dem Weg räumen können | 6 (Im)mobil in München: In Bus, Tram und Bahn ist die Stadt noch lange nicht barrierefrei | 12 Heiße Stadt: Was ist nötig, um das Klima zu verbessern? | 16 Nähwerkstatt: Wenn Nähen die Pandemie erträglicher macht | 24 Armut? Abschaffen! Erfahrungen der BISSler mit dem Digitalen Aktionskongress | 5 Wie ich wohne | 22 Schreibwerkstatt: BISS-Verkäufer*innen erzählen, was sie bewegt | Rubriken | 3 Editorial | 27 Patenuhren | 28 Freunde und Gönner | 30 Mein Projekt, Impressum | 31 Adressen
Wer wohnt wie? In der Kolumne geben BISS-Verkäuferinnen und -Verkäufer Einblicke in ihren Wohnalltag. Sie erzählen, wie sie früher gelebt haben, wie sie momentan wohnen und was sie sich für die Zukunft erhoffen.
Der Kulturbeflissene
Protokoll FELICITAS WILKE
Foto MARTIN FENGEL
„Viele Menschen halten sich zu Hause am liebsten im Wohnzimmer auf, wo sich das Leben vor dem Fernseher abspielt. Mich hingegen reizt das gar nicht, im Fernsehen hat man bis vor Kurzem eh immer nur den Trump gesehen oder irgendwas mit Corona. Ich sitze lieber in meiner Wohnküche. Sie ist für mich der Mittelpunkt meiner Wohnung: Hier koche ich nicht nur in meiner kleinen Küchenzeile, hier esse ich auch an meinem schönen, alten Esstisch, lese Zeitung oder schreibe an meinen Geschichten für die BISS-Schreibwerkstatt. Ich lebe seit März 2012 in einer 45 Quadratmeter großen Einzimmerwohnung in Thalkirchen. Sie besteht aus meiner Wohnküche, einem Schlafzimmer und einem Bad. Dafür zahle ich 460 Euro Miete. Hier zu leben ist für mich das Paradies: Ich laufe zehn Minuten zum Tierpark, fünf Minuten zur Isar und habe direkt im Hinterhof einen wunderbaren Garten. Er wird von der Hausgemeinschaft gehegt und gepflegt. Hier blühen Rosen, es zwitschern Vögel, man kann sich auf eine der Bänke setzen und lesen. Manchmal kommt ein Eichkatzerl vorbei. Und alle Nachbarn grüßen einander und helfen sich gegenseitig. Das alles ist für mich nicht selbstverständlich. Bevor ich hierhergezogen bin, habe ich zweieinhalb Jahre auf der Straße gelebt. Im Sommer übernachtete ich im Englischen Garten, im Winter in der S-Bahn. Um mir etwas zu essen kaufen zu können, habe ich Flaschen gesammelt. Ich habe mich geniert und war auf mich alleine gestellt. Viele andere Obdachlose haben getrunken oder Drogen genommen, aber das wollte ich nie. Gegenseitige Solidarität habe ich damals nicht erfahren. Dabei hatte ich ein tolles Elternhaus und eine super Kindheit. Ursprünglich komme ich aus der Nähe von Salzburg. Nach der Schule wollte ich ins Gastgewerbe und habe eine vierjährige Ausbildung im „Österreichischen Hof “ in Salzburg gemacht. Es war damals nach dem „Hotel Sacher“ das zweitbeste Hotel im ganzen Land, dort stiegen während der Festspiele die Sänger und Komponisten ab. So lernte ich die Welt der klassischen Musik und die wunderbaren Melodien kennen. Doch nicht nur die Musik reizte mich, ich wollte auch andere Länder kennenlernen. Ich ergatterte eine Anstellung als Steward auf einem Kreuzfahrtschiff und bediente die Gäste auf dem Mittelmeer. Ich wohnte an Bord zwar in einer bescheidenen Koje, doch ich bereiste Tunis, Agadir, mein geliebtes Verona und bekam reichlich Trinkgeld. Doch als sich die All-inclusive-Mentalität durchsetzte, wurden die Arbeitsbedingungen immer schlechter. Ich verließ das Schiff und landete in München, wo ich erst auf dem Oktoberfest und dann in der Gastronomie kellnerte. Irgendwann waren auch hier keine gelernten Kräfte mehr gesucht. Ich verlor meine Arbeit und landete auf der Straße. Über einen Zufall kam ich dann vor rund zehn Jahren zur BISS und schließlich auch zu meiner jetzigen Wohnung. Die Zeitschrift verkaufe ich am Gasteig und bin damit wieder ganz nah dran an den Künstlern, Bühnentechnikern und Besuchern – und an meiner geliebten Musik!“
Die Corona-Pandemie hat auch soziale Einrichtungen und Dienstleister auf eine harte Probe gestellt. Viele mussten schließen oder ihr Angebot stark einschränken. Die Münchner Nähwerkstatt konnte weiterarbeiten. Warum das die Beschäftigten glücklich macht.
Von STEPHANIE STEIDL
Fotos HANNES ROHRER
Senay
Zwischen neun Uhr morgens und drei Uhr nachmittags vergisst Senay* ihre Probleme. In diesen sechs Stunden arbeitet sie in der Nähwerkstatt. Schneidet Stoffe zurecht für T-Shirts und Taschen, näht Reißverschlüsse an Stiftemäppchen, füllt Kuscheltiere. Auch jetzt, wo wegen Corona noch vieles geschlossen hat. Oder gerade jetzt. Denn zu Hause bleiben, die Kolleginnen nicht treffen und nicht nähen können: Senay schüttelt den Kopf – unvorstellbar. Die Nähwerkstatt ist einer der wenigen Sozialen Betriebe in München, die während der Corona-Pandemie offen blieben, abgesehen von ein paar Tagen zu Beginn der Krise. Doch zum Glück brauchten Sozialarbeiter*innen der Ambulanten Erziehungshilfe, das Frauenhaus und das Jugendamt dringend Mund-Nasen-Bedeckungen. Ausgestattet mit einer Sondergenehmigung, nahmen die Näherinnen ihre Arbeit für die systemrelevante Aufgabe wieder auf und stiegen in die Maskenproduktion ein. Ja, zum Glück, sagt Senay. Vor drei Jahren hatte ihr ein Kurs Lust aufs Nähen gemacht. Das Jobcenter vermittelte sie daraufhin in die Nähwerkstatt. Mehr als 20 Jahre lebte Senay da schon in Deutschland. Ohne Ausbildung, ohne Job. Als Familienfrau hatte sie zwei Kinder großgezogen, die mittlerweile erwachsen sind. „Als ich das erste Mal hierherkam, habe ich gezittert, die Hände waren ganz nass“, erzählt die 42-Jährige. Aber alle waren nett und hatten Zeit, um ihr zu helfen. „Kein Druck“, sagt Senay. Zu Hause gibt es viele Probleme. In der Nähwerkstatt gibt es viel Spaß. Und viel Abwechslung. Mal näht sie einen Elefanten, dann Babyhosen oder Puppenkleidung. „Ich habe meinen Beruf gefunden“, sagt Senay. Beruf, das klingt bei ihr wie Berufung. Zwischen Goetheplatz und Altem Südlichem Friedhof, in der Isarvorstadt, liegen die Räume der Nähwerkstatt. Altbauten aus der Gründerzeit, Lebensmittelgeschäfte, eine Apotheke, die Kuscheltiere und Kulturbeutel aus der Nähwerkstatt verkauft, an der Ecke eine Bäckerei. Draußen herrscht Aprilwetter, drinnen riecht es nach Kaffee und Schokokeksen. Auf dem Tisch am Eingang stehen Thermoskanne und Tassen, Biomilch und ein Becher „Double Toffee Dessert“. An den Wänden hängen Schubladen, die zu Ausstellungsvitrinen für Genähtes umfunktioniert wurden. Die Küchentür schmückt ein Rahmen mit Gesticktem: Hinfallen, Aufstehen, Krone richten, Weitergehen. Darunter eine Postkarte: Ruhe bewahren und weiternähen.
26 Frauen arbeiten in der Nähwerkstatt, verteilt auf fünf Räume. Im größten sitzen sechs Frauen an ihren Nähmaschinen, schneiden zu, stecken ab. Auf einem Tisch in der Mitte liegen Teile einer Stofftasche. Besonders beliebt bei den Kundinnen: die kleinen mintgrünen Elefanten und die pink geblümten Einhörner. Im nächsten Raum sind sie zu viert. Aus dem Radio dudelt Bayern 1, eine der Maschinen surrt. Die Frauen nähen Jacken und Westen für die BISS-Verkäuferinnen und einen Polsterbezug für eine Kindertagesstätte. Eine Frau ist gelernte Polsterin, zwei sind Änderungsschneiderinnen. Sie lachen: „Wir sind die alten Kartoffeln.“ Und sind sich einig: „Gott sei Dank ist es weitergelaufen mit der Arbeit. Nur zu Hause, das ist nix.“ In Corona-Zeiten sei die Nähwerkstatt der einzige Lichtblick. Ob sie beim Nähen Angst haben, sich mit dem Coronavirus anzustecken? Alle schütteln den Kopf. Zwischen den Arbeitsplätzen stehen durchsichtige Trennwände, in den Gängen und den Gemeinschaftsräumen halten sie Abstand. „Und wir lüften regelmäßig“, sagt Susann. „Susann ist berühmt“, ruft eine Frau durch den Raum. Zusammen mit zwei Stoffwalen ist sie das Werbegesicht der Nähwerkstatt, ihr Foto hängt in den Schaufenstern der Läden, die die Produkte anbieten.
Am 4. September 2021 werde ich 60 Jahre alt. Eigentlich ein Grund, zu feiern, aber ich sehe keinen Grund dafür. Denn ich habe in meinem Leben nichts Nachhaltiges erreicht. So habe ich viele verschiedene Jobs aus verschiedenen Gründen verloren. Vor ungefähr 30 Jahren beispielsweise war es mit meiner Arbeit als Stanzer in einer Fabrik vorbei. Ich hatte nach einer bösen Trennung von meiner langjährigen Lebensgefährtin eine Woche lang durchgetrunken. Wenn ich mich vergleiche mit meinen Schulkameraden, die fast alle einen guten Job, eine Familie und auch ein eigenes Haus haben, frage ich mich: Warum habe ich das nicht geschafft? Meine persönlich wohl beste Zeit waren die 13 wunderbaren Jahre an der Seite meiner Freundin Ingrid, obwohl sie als Dialysepatientin schwer krank war. Ich bin heute noch froh darüber, dass ich einen guten Job aufgab, um sie zu pflegen. Für mich war es damals selbstverständlich und ich würde so weit gehen, zu sagen: Wer dies nicht machen würde, wäre ein Schuft! Das ist natürlich nur meine Meinung. Als ich 2014 nach dem Tod meiner Freundin wieder damit begann, die BISS zu verkaufen, war ich stolz darüber, dass ich meine Miete in Höhe von 350 Euro und meinen Lebensunterhalt selbst verdiene, ohne staatliche Hilfe. Trotz eines schwierigen Verkaufs seit der Pandemie stimmt mich manches positiv: Anfang Mai habe ich innerhalb weniger Tage viele alte Stammkunden getroffen, mit denen ich mich über Fußball und Politik unterhalten habe. Ich hatte den Eindruck, dass sie sich darüber genauso gefreut haben wie ich mich.
Dies ist mein letzter Text für die Schreibwerkstatt. Mir hat es über die ganzen Jahre sehr viel Spaß gemacht, aber ich merke, dass ich zu viele Erlebnisse und Gedanken wiederhole. Deshalb finde ich, dass es an der Zeit ist, Platz für neue Kollegen zu machen, die schreiben wollen. Bleiben Sie bitte der BISS und der Schreibwerkstatt treu!