Thema | Sommerferien | Die einen springen ins kalte Wasser der Münchner Badeseen, andere wissen, dass die Badezeit auch Gefahren birgt. Trotzdem freuen sich (fast) alle darauf. | 6 Nichtschwimmer: Immer weniger Kinder können heute schwimmen. Corona verschärft die Lage |10 Oma, Opa, Enkelkinder: Von einer ganz besonderen Liebesgeschichte | 16 EX-IN: Menschen, die psychisch erkrankt waren, helfen anderen psychisch Erkrankten im Umgang mit Ärzten und Behörden | 20 Interview: Der Soziologe Stephan Lessenich | 26 Mut der Generationen: Projekt zum lesbischen Selbstverständnis | 5 Wie ich wohne | 24 Aufgelesen: BISS-Verkäufer erzählen, was sie bewegt | Rubriken | 3 Editorial | 27 Patenuhren | 28 Freunde und Gönner | 30 Mein Projekt, Impressum | 31 Adressen
EX-IN will Menschen, die selbst psychisch krank waren, als Vermittler einsetzen zwischen psychisch Kranken und dem medizinischen Fachpersonal. Eine gute Idee, aber in der Praxis läuft es noch nicht überall nach Plan. Das Problem liegt, wie so oft, im System.
Text ELISA HOLZ
Illustration LUCIE LANGSTON
Uli Zemlin* weiß, wovon sie spricht. Trotzdem spricht sie nicht besonders gern über ihre Krankheitsgeschichte. Aber es hilft nichts. Auch sie muss vorn anfangen, um zu erklären, wo sie heute steht und was sie tut. Mit 26 Jahren erlebte Uli Zemlin, damals noch Studentin der Soziologie, ihre erste Psychose. Sie wurde in eine psychiatrische Klinik eingewiesen. „Die steckten mich in ein Hemdchen und reduzierten meine Welt auf ein Bett und ein Nachtkästchen“, erzählt sie. Sie hatte kaum Kontakte und keiner sprach mit ihr. „Dabei war ich trotz meiner schweren Psychose ein Mensch, der fühlen, empfinden und denken konnte“, sagt Zemlin. Diese erste Erfahrung dieser Art sollte nicht die letzte sein. Im Verlauf ihrer Krankheit hat Uli Zemlin so ziemlich alles durchgemacht, was für einen psychisch kranken Menschen vor gar nicht allzu langer Zeit noch schreckliche Realität war: Fixierung, Unterbringung in riesigen Bettsälen oder eben Isolation, sehr viele Medikamente, wenig alternative Therapieangebote – und eine von Uli Zemlin stark empfundene Sprach- und Verständnislosigkeit angesichts ihrer Situation.
Wer wohnt wie? In der Kolumne geben BISS-Verkäuferinnen und -Verkäufer Einblicke in ihren Wohnalltag. Sie erzählen, wie sie früher gelebt haben, wie sie momentan wohnen und was sie sich für die Zukunft erhoffen.
Die Erlöste
Protokoll ANNELIESE WELTHER
Foto: Martin Fengel
Lange Gänge führen zu mir nach Hause: zuerst von der rege befahrenen Straße bis zum Aufzug, dann vom Aufzug bis zu meiner Wohnung, auf jeder Seite viele Türen wie in einem Hotel, nur dunkler, düsterer. Mein Appartement besteht aus einem hellen Zimmer mit einer Fensterfront, so breit und hoch wie der Raum selbst, einem Bad, einer Küchenzeile mit Einbauküche und einem Balkon. Ich besitze zwei Betten, eines, das ich von BISS bekam, meinem Rücken zuliebe habe ich mir aber noch ein zweites geleistet. Zudem habe ich einen hohen Schrank und zwei Stühle. In dem an der Wand hängenden Fernseher läuft ein rumänischer Sender. Die Satellitenanlage habe ich mir in Rumänien besorgt. Wie ich deutsche Sender schauen kann, weiß ich gar nicht. Aber ich habe keinen Bock mehr auf das Programm, vor allem seit den ganzen Tag Angst vor Corona verbreitet wird. Viel zum Fernsehen komme ich eh nicht. Die meiste Zeit bin ich unterwegs, um zu arbeiten. Tatsächlich ist dies meine erste eigene Wohnung. Ich bin in einem Kinderheim in Rumänien aufgewachsen, wo ich in einem Saal zusammen mit 33 anderen Mädchen schlief. Tagsüber wurden wir alle, auch die Jungen, in einen großen Raum gebracht. Dort verbrachten wir den Tag, indem wir hin und her schaukelten. Das mache ich übrigens heute noch manchmal. Spielzeug gab es keins, dafür aber reichlich Prügel. So viele Löffel, Stühle und andere Gegenstände habe ich gegen den Kopf geschlagen gekriegt, dass ich mir nur noch wünschte zu sterben. Auch in der Schule bekam ich Schläge, rannte deswegen weg, wurde von der Polizei zurückgebracht. Nachdem ich das Heim verlassen hatte, war ich immer ohne ein Dach überm Kopf, zuerst in Rumänien, dann einige Jahre in Österreich und schließlich in Deutschland. Als Obdachlose ist man vom Wetter abhängig, vor allem im Herbst und Winter ist es sehr schlimm. Außerdem scheucht einen die Polizei ständig auf. Richtig schlafen kann man auf der Straße nicht, man döst nur immer so ein bisschen ein, ständig muss man auf der Hut sein, dass keiner einem eine Flasche über den Kopf haut oder man vergewaltigt wird. Immer wieder fragte ich Gott: Wie lange noch soll ich das aushalten, ständig auf dem Karton zu schlafen? Und dann bekam ich durch BISS diese Wohnung. Das Erste, was ich machte, war Duschen. Ich konnte es nicht fassen, eine eigene Bleibe zu haben. Vor lauter Freudentaumel verwechselte ich anfangs die Türen, wunderte mich, dass der Schlüssel nicht aufsperrte. Überhaupt der Schlüssel, ich sah ihn an und konnte es nicht glauben, dass er mir gehörte. Die ersten drei Tage lang machte ich kein Auge zu, sondern schaute mich die ganze Zeit in der Wohnung um. Wenn es draußen dunkel wurde, ging ich auf den Balkon und blickte hinaus, überglücklich, keinen Stress mehr damit zu haben, wo und wie ich die Nacht verbringen sollte. Endlich in Ruhe schlafen, kein „Aufstehen, Polizei“ mehr hören zu müssen. Einen ganzen Monat dauerte es, bis ich mein Glück begriff.
Mit der Frage, wann und wohin der Zug fahren würde, hatte ich mich gar nicht beschäftigt, als ich, ohne Geld und nicht warm genug angezogen, in den letzten Wagen einstieg. Lediglich aufwärmen wollte ich mich an diesem kalten, verregneten Tag im Spätherbst. Im Abteil schlief ich dann ein. Ich hatte so einiges hinter mir. Elf Monate lang hatte ich mich in der Nähe der rumänischen Stadt Sibiu bei einem Schäfer als Hirte verdingt. Nun hatte ich ihm gesagt, ich würde in vierzehn Tagen gehen und würde gerne mein mir zustehendes Gehalt ausgezahlt bekommen. Er schuldete mir ziemlich viel, denn nur die ersten vier Monate hatte er mir meinen Lohn gegeben. Danach erhielt ich immer nur etwas Taschengeld, das gerade mal für Zigaretten oder ein Päckchen neuer Batterien reichte. Den Rest von meinem Gehalt behielt er ein, damit ich mir was ansparen konnte – so wie auf einer Bank, nur ohne Zinsen. Während der Zweiwochenfrist, die ich ihm gesetzt hatte, war er immer unangenehmer geworden, und am Schluss wollte er das Geld nicht rausrücken. Ich ging zur Polizei, wurde aber gleich wieder abgewiesen. Erst im Nachhinein ging mir auf, dass die Polizisten ja am Wochenende gerne in Zivil beim Schäfer auftauchten und mit ihm Trinkgelage bis in die frühen Morgenstunden hinein veranstalteten. Nicht selten bekamen sie ein geschlachtetes Schaf mit auf den Heimweg. Nach der Abfuhr bei der Polizei war ich, ohne zu wissen, wohin, am Bahnhof gestrandet. In meinem Abteil schlief ich so fest, ich merkte nicht mal, wie der Zug sich in Bewegung setzte. Als ich aufwachte, war ich in Bukarest angelangt, wo ich noch nie zuvor gewesen war. Dort blieb ich acht Monate, fand nur einen schlecht bezahlten Job auf einer Baustelle, hatte keine Wohnung und keine Perspektive. Da sah ich gemeinsam mit zwei netten Kerlen, die ich auf dem Bau kennengelernt hatte, eine Anzeige auf Facebook, die mit Arbeit auf deutschen Abrissbaustellen warb, auch für Ungelernte. Der Transport war gratis. Wir entschlossen uns, das zu machen. Ich kam nach Frankfurt am Main, und anderthalb Jahre ging alles gut. Dann holte uns die Corona-Pandemie ein, und die Bezahlung wurde unregelmäßiger, mein Chef begann uns zu vertrösten. Auch als ich dieses Mal zur Polizei ging, hatte ich wieder Pech. Zwar steckten die Polizisten nicht mit meinem Chef unter einer Decke, dafür war dieser mit dem ganzen Geld in die Türkei durchgebrannt. Weil ich Angst hatte vor den Freunden meines Chefs, die mich und meine Kollegen nachts um zehn aus unserer Wohnung geworfen hatten, verließ ich Frankfurt. Ich kam nach München, wo ich anfangs bei der Caritas wohnen durfte und tagsüber Flaschen sammelte – bis ich auf einen Rumänen traf, der bei BISS arbeitete. Seit ich selbst die Zeitschrift verkaufe, bin sehr zufrieden und froh, dass so viele Menschen sie lesen, so dass ich jeden Monat mein Auskommen habe. Ich bin den Deutschen sehr dankbar für ihre Unterstützung.
What Is the City but the People? war ein Theater-Großereignis, ein Open-Air-Konzert, ein lebendiges Selbstportrait Münchens! Bei der Performance zeigten auf einem 60 Meter langen Laufsteg auf dem Königsplatz 150 Münchner*innen ihr Gesicht: Ex-Operndiven, Tierpräparatoren, Managerinnen, Arbeitssuchende, Braumeister, Dragqueens, Eisbachsurfer, BISS-Verkäufer*innen, Boazn-Wirtinnen, Obststandbetreiber, Großfamilien, und viele mehr!