BISS-Ausgabe Mai 2021 | Anpacken

Cover des BISS-Magazins Mai 2021

Thema | Gemeinsam anpacken | Ein Neuanfang oder schwierige Situationen lassen sich gemeinsam besser bewältigen | 6 Weitblick: Ein Projekt gibt Jugendlichen aus schwierigen Verhältnissen eine neue Chance | 10 Angehörige pflegen: Zwischen Glück und Erschöpfung | 14 Im Gespräch mit Christine Umpfenbach: Die Münchner Theaterregisseurin und Autorin scheut sich nicht vor politischen Themen | 18 Berufseinstieg: Die Pandemie macht es Schülern schwer, den Berufseinstieg zu schaffen | 22 Olaf Scholz im Interview | Schreibwerkstatt | 5 Wie ich wohne | 26 Aufgelesen: BISS-Verkäufer erzählen, was sie bewegt | Rubriken | 3 Editorial | 25 Patenuhren | 28 Freunde und Gönner | 30 Mein Projekt, Impressum | 31 Adressen

Wie ich wohne

Wer wohnt wie? In der Kolumne geben BISS-Verkäuferinnen und -Verkäufer Einblicke in ihren Wohnalltag. Sie erzählen, wie sie früher gelebt haben, wie sie momentan wohnen und was sie sich für die Zukunft erhoffen.

Protokoll: FELICITAS WILKE, Foto: Martin Fengel

Die Königin in ihrem Reich

Dieses Bild hat ein leeres Alt-Attribut. Der Dateiname ist karamfilova5.jpg

„Unsere neue Wohnung ist ein richtiger Traum. Vor etwa einem Jahr bin ich mit meinen Eltern hier eingezogen. Für uns war es das Beste, was uns seit Langem passiert ist. Die Wohnung ist etwa 55 Quadratmeter groß. Sie gehört der Stiftung BISS und kostet circa 680 Euro im Monat. Wir haben zwei Zimmer, eine Küche, einen Kühlschrank, ein Bad und sogar eine Waschmaschine! Im Haus wohnen viele Ausländer, vor allem aus Serbien, Russland, Polen und Rumänien. Sie sind total nett und grüßen uns manchmal auf Bulgarisch, das finde ich sehr lustig. Wir kommen aus Bulgarien und haben früher in einem kleinen Häuschen gewohnt: meine Eltern, meine drei Schwestern und ich. Meine große Schwester war die Erste aus unserer Kleinstadt, die es nach Deutschland geschafft hat. Das war 2007, als Bulgarien in die EU gekommen ist. Kurz darauf bin auch ich nachgezogen, allerdings erst mal nur für kurze Zeit. Ich war ein paar Monate hier in München und habe irgendetwas gejobbt, dann ein paar Monate in Bulgarien. Irgendwann bin ich endgültig nach Deutschland gezogen und habe mir mit meiner Schwester ein Zimmer geteilt. Nach einem Jahr habe ich eine Einzimmerwohnung gefunden und unsere Eltern aus Bulgarien zu mir geholt. Sie sind schon
älter, deswegen muss ich mich um sie kümmern. Zehn Jahre lang haben wir in einem Zimmer gewohnt, haben jeden Tag im selben Raum verbracht. Es war viel zu eng und deshalb haben wir uns oft gestritten. Vor vier Jahren habe ich angefangen, bei BISS zu arbeiten. Mir war damals nicht klar, wie sich mein Leben dadurch verändern würde. Ohne diesen Job würde ich wahrscheinlich immer noch mit meinen Eltern in der Einzimmerwohnung sitzen und wir würden uns auf die Nerven gehen. Als Herr Denninger mir irgendwann diese Wohnung angeboten hat, dachte ich erst, er macht einen Witz. Ich konnte es nicht glauben.
Jetzt haben wir alle endlich unsere Privatsphäre: Meine Eltern haben ein Zimmer mit einem großen Bett, einem Esstisch, drei Stühlen und einem Fernseher, auf dem wir sogar Filme aus dem Internet schauen können. Ich habe mein eigenes Zimmer mit einem Bett und einer Kommode, auf der ein Ventilator steht. Die Möbel durften wir uns selbst aussuchen und haben von der BISS finanzielle Unterstützung für die Einrichtung bekommen. Fast jeden Tag verkaufe ich am Marienplatz Zeitschriften. Wenn ich von der Arbeit nach Hause komme, lege ich mich am liebsten ins Bett und schaue deutsches Fernsehen, um die Sprache zu lernen. Ich mache die Tür zu und habe meine Ruhe, das ist so wunderbar.
Jetzt fühle ich mich viel freier als in den vergangenen Jahren. Mit meinen Eltern streite ich nicht mehr so viel. Auch das Viertel ist sehr entspannt und wir haben alles in der Nähe, was wir brauchen. Alles, was hier steht, haben wir uns in Deutschland gekauft. Die einzige Erinnerung an Bulgarien ist in meiner Kommode. Es ist ein Album mit Fotos von früher, auf denen wir Hochzeiten feiern. Da ist die ganze Familie drin: meine Schwestern, meine Neffen und Nichten. Ich habe tolle Kleider an und bin noch sehr jung. Dieses Album schaue ich mir sehr gern an.“

Vom Systemsprenger zum Schreiner

Ohne Halt in der Familie und ohne Unterstützung können Jugendliche in eine Abwärtsspirale geraten. Das Projekt „Weitblick“ zeigt, wie viel die richtige Förderung bewirken kann.

Schreinerei Graham, Weitblick für BISS

Von BENJAMIN EMONTS

Fotos DORO ZINN

Beim Stichwort „Gabelstapler“ entfaltet sich ein breites Grinsen auf Manulitos jungenhaftem Gesicht. Mit einem Satz schwingt er sich auf den Fahrersitz und dreht den Zündschlüssel um. Behutsam manövriert er das Gefährt rückwärts aus der Schreinerei. Ein bisschen lenken, ein bisschen Gas geben, und schon steht er auf der Straße. Nach einer kurzen Ehrenrunde kehrt Manulito mit einem vielsagenden Blick zurück. „Seht ihr, ich hab hier oben alles im Griff “, soll seine Mimik wohl sagen. Er ist sichtlich stolz auf seine Leistung.
Manulito, 18, hat viel gelernt, seit der Jugendhilfeverein Weitblick ihm eine Ausbildung ermöglicht hat: Er kann jetzt Gabelstapler fahren, Tischsägen bedienen und Dachstühle isolieren. Noch wichtiger jedoch ist: Er bekommt endlich Anerkennung und Vertrauen. Es sind Werte, die er vorher kaum kannte. Manulito wurde seit seiner Kindheit von einem Heim zum nächsten gereicht, überall eckte er an. Jugendliche wie er gelten in Fachkreisen als „Systemsprenger“ oder „Grenzgänger“. Die Behörden wissen mit ihnen oft nicht mehr weiter, weil sie durch alle herkömmlichen Raster fallen. Sie gehen nicht zur Schule, sind gewalttätig, nehmen Drogen und erscheinen beratungsresistent. Oft sind ihre Verhaltensmuster auf traumatische Kindheitserfahrungen zurückzuführen. Sie wuchsen in zerrütteten Familien auf, litten unter häuslicher Gewalt, wurden misshandelt oder vernachlässigt.
Ein Besuch in der Schreinerei. In einer Pause nimmt sich Manulito Zeit, um seine Geschichte zu erzählen. Er lässt die Blicke nur selten sich kreuzen, als hätte er Angst, dass seine Augen etwas über seine verletzte Seele verraten – doch andererseits ist er sehr mitteilsam. Manulito war sechs Jahre alt, als er das erste Mal in ein Heim kam. Seine Mutter war mit der Erziehung überfordert, sein drogensüchtiger Vater lebte in Berlin. Richtig prekär wurde die Situation, als der Vater an einer Überdosis Heroin starb, wie Manulito später erfuhr. „Ich war fix und fertig, ich konnte seinen Tod überhaupt nicht verkraften“, sagt er rückblickend. In jener Zeit begannen seine Aggressionen. Der damals Zwölfjährige schlug alle Hilfsangebote aus, er wollte nicht mehr zur Schule gehen und geriet ständig in Konflikte. Wenn andere Kinder Sprüche auf Kosten seines Vaters machten, schlug Manulito zu. Einmal brach er einem Jungen den Kiefer, ein anderes Mal trat er die Tür ein und bedrohte einen Betreuer. Seine Gewaltausbrüche führten zu Strafanzeigen. Zweimal verbüßte Manulito einen mehrwöchigen Jugendarrest in München-Stadelheim; fürs Blaumachen und Sachbeschädigungen leistete er unzählige Sozialstunden. Mehrmals, so erzählt er, brachte ihn die Polizei vor den Augen der Mitschüler in den Unterricht, eine Demütigung für den Jungen. In nur einem Jahr wechselte er siebenmal die Schule. Noch im Kindesalter war Manulito zu einer Bedrohung für sich und andere geworden. Sein Weg schien vorgezeichnet. Er würde geradewegs ins Gefängnis führen, sollte sich nicht grundlegend etwas ändern.
Der Dachauer Jugendhilfeverein Weitblick nahm sich seiner an: aus heutiger Sicht ein Glücksfall. Die Zahl der Minderjährigen, die in Heimen leben, ist laut Bundesamt für Statistik von 30.000 im Jahr 2005 auf rund 91.000 im Jahr 2018 gestiegen. Jugendämter nahmen 2019 fast 50.000 Kinder vorübergehend in Obhut. Die häufigsten Gründe sind Überforderung der Eltern, unbegleitete Einreise aus dem Ausland, Vernachlässigung, Beziehungsprobleme und Misshandlungen. Speziell für Systemsprenger, die wegen ihres aggressiven Verhaltens schwer zu integrieren sind, gibt es deutlich zu wenige Plätze in geeigneten Einrichtungen. Die Scheu vor ihnen ist groß, auch auf dem Arbeitsmarkt. Wer Straftaten, aber keinen Schulabschluss vorweisen kann, hat in der Gesellschaft kaum eine Chance.

Weiterlesen „Vom Systemsprenger zum Schreiner“

Meine Impfung

EIN TEXT AUS DER SCHREIBWERKSTATT

Von Tibor Adamec

Ich bin inzwischen 83 Jahre alt und war in meinem ganzen Leben noch nie ernsthaft krank. Damit das auch so bleibt, war es mir wichtig, mich gegen Corona impfen zu lassen. Denn gerade für ältere Menschen wie mich ist das Virus umso problematischer. Ich habe mich im Internet für die Impfung registriert und kurz darauf eine E-Mail bekommen, dass meine erste Impfung am 15. Februar stattfindet. Um die Spritze zu bekommen, musste ich nach Riem ins Impfzentrum. Obwohl viel los war, hat es keine halbe Stunde gedauert, bis ich dran war. Die Messehalle ist ja groß und es war viel Personal da, um mehrere Menschen gleichzeitig zu impfen. Die Impfung hat überhaupt nicht wehgetan. Manche Menschen haben sich danach noch vorsichtshalber eine halbe Stunde hingesetzt, weil sie Angst vor Kreislaufproblemen hatten, aber mir hat die Spritze gar nichts ausgemacht. Ich hatte auch keine Nachwirkungen, weder nach der ersten noch nach der zweiten Impfung drei Wochen später. Es wird ja diskutiert, ob es mehr Freiheiten für Geimpfte geben soll, beispielsweise einen digitalen Impfpass, mit dem man verreisen darf. Für mich wäre das schön, um mal wieder in meine Heimat, die Slowakei, zu fahren und meine Eltern und Großeltern am Grab zu besuchen. Ich würde auch gern mal wieder ins Café gehen und dort einen Kuchen essen. Es ist mir unbegreiflich, dass viele Leute so eine Angst vor der Impfung haben. Ich würde allen empfehlen, sich impfen zu lassen, denn ich finde, es gibt nichts, was dagegen spricht.