BISS- Ausgabe Februar 2021 | Hinschauen

Cover des BISS-Magazins Februar 2021

Thema | Hinschauen und aktiv werden | Vor unangenehmen Themen die Augen verschließen? Bequem, die Welt aber wird dadurch nicht besser | 6 München ist bunt: Toleranz und Offenheit sind keine Selbstverständlichkeit | 12 Gewalt gegen Frauen Eine Rechtsanwältin spricht über das große | 16 Simon Pearce: Der Puchheimer Kabarettist über Alltagsrassismus | 22 Plötzlich überschuldet: Der Andrang auf Schuldnerberatungen steigt | Schreibwerkstatt | 5 Wie ich wohne | 24 Aufgelesen: BISS-Verkäufer erzählen, was sie bewegt | Rubriken | 3 Editorial | 26 Patenuhren | 27 Freunde und Gönner | 30 Mein Projekt, Impressum | 31 Adressen

Wie ich wohne

Wer wohnt wie? In der Kolumne geben BISS-Verkäuferinnen und -Verkäufer Einblicke in ihren Wohnalltag. Sie erzählen, wie sie früher gelebt haben, wie sie momentan wohnen und was sie sich für die Zukunft erhoffen.

Protokoll FELICITAS WILKE; Foto: Martin Fengel

Der Minimalist

„Meine Wohnung ist vielleicht klein, aber ich habe mal gehört, in Tokio geht es noch viel kleiner! Ich wohne seit 2007 in Untermenzing. Die Wohnung, in der ich lebe, misst ungefähr 15 Quadratmeter. Ich habe hier ein Bett, einen Esstisch, zwei Stühle, einen Schrank, meinen Fernseher und eine Küchenzeile – und natürlich Contessa und Carmencita, zwei Kannen, mit denen ich Mokka wie in Italien zubereiten kann. Ursprünglich komme ich aus einem kleinen Ort, 40 Kilometer nördlich von Venedig. Dort bin ich bei meinen Eltern und mit meinen beiden Geschwistern in einem riesigen Haus aufgewachsen, in dem noch zwei andere Familien gelebt haben. In meiner Familie hatten viele den Drang, etwas von der Welt zu sehen. Ich habe Verwandte in Brasilien und Argentinien, mein Vater wiederum hat viele Jahre in Frankreich gearbeitet. Mich zog es als Einzigen von uns allen nach Deutschland. Also bin ich hingegangen, 1975 war das. Den Stempel für meine erste Aufenthaltsgenehmigung bekam ich in Nürtingen in Baden-Württemberg. Danach habe ich in vielen verschiedenen Städten und Wohnungen gelebt. In Detmold, in Hamburg, in Garmisch, zwischendurch auch schon mal in München, zur Zwischenmiete in der Klenzestraße. Meine schönste Wohnung hatte ich in Mainz, mit großen Zimmern. Dort habe ich insgesamt elf Jahre lang gelebt und als Eismacher gearbeitet. Ich habe nie einen Beruf gelernt und in meinem Leben schon viele Dinge gemacht. Als ich in den Neunzigern zurück nach München kam, habe ich als Tagelöhner gearbeitet. Mal habe ich Möbel gepackt, mal Obst sortiert, mal ein paar Wochen am Stück, mal nur für einen Tag. Mir hat das nicht viel ausgemacht, ich war immer flexibel. Aber einen Haken hatten die Gelegenheitsjobs: Man tut sich damit schwer, eine Wohnung zu bekommen. Und so habe ich einige Jahre lang in einer Unterkunft in der Gemeinde der Passionisten in Pasing gewohnt. Dort lebten noch ungefähr zehn andere Menschen, teilweise vom Leben gezeichnet. Manche blieben nur ein paar Tage, manche wie ich jahrelang. Das Zusammenleben dort war manchmal lustig, manchmal schwierig, und in jedem Fall immer wieder überraschend! Seit 2005 verkaufe ich inzwischen die BISS, zwei Jahre später zog ich dann in meine jetzige Wohnung. Es stört mich nicht, dass ich nur ein kleines Bad in der Wohnung habe und zum Duschen ins Erdgeschoss muss. Ich bin froh, die Wohnung überhaupt zu haben, weil ich aus eigener Erfahrung weiß, dass ein eigenes Zuhause nicht selbstverständlich ist. Wenn ich abends von der Arbeit nach Hause komme, dann weiß ich: Hier kann ich abschalten. Wenn ich zu Hause bin, schaue ich am liebsten fern. Tagsüber und während ich esse, hängt allerdings ein Tuch über meinem Fernseher, weil das sonst nicht schön aussieht. Ich bin eher Minimalist. Zu den wenigen Bildern, die an der Wand hängen, haben mich Freunde und Bekannte fast schon überreden müssen. Ich mag es so klein und schlicht wie möglich und würde meine Wohnung nicht gegen eine große eintauschen wollen.“

Das große Tabu

In Deutschland kommt jeden dritten Tag eine Frau durch partnerschaftliche Gewalt zu Tode. Wir haben mit der Rechtsanwältin Christina Clemm darüber gesprochen, welchen Gefahren von partnerschaftlicher Gewalt Frauen immer noch ausgesetzt sind, welche Ursachen es dafür gibt und warum in Deutschland immer noch viel zu wenig gegen diese Form der Gewalt unternommen wird.

Interview GABRIELA HERPELL Illustration CLEON PETERSON

CHRISTINA CLEMM ist Rechtsanwältin und Fachanwältin für Strafrecht und Familienrecht in Berlin. Sie vertritt zahlreiche Verletzte sexualisierter, aber auch rassistisch motivierter und rechtsextremer Gewalt. Sie spricht und schreibt vor allem über Frauenrecht und Partnerschaftsgewalt. 2020 ist ihr Buch „Akteneinsicht – Geschichten von Frauen und Gewalt“ bei Kunstmann erschienen.

Frau Clemm, wie kam es, dass Sie zur Expertin für die Gewalt in Familien geworden sind?

Ich habe schon als Studierende bei einer Anwältin gearbeitet, die sehr viele Nebenklagen in dem Bereich gemacht hat. Ich verteidige auch oft, aber in anderen Bereichen, in Jugendstrafverfahren, Demoverfahren, Terrorismus, aber ich verteidige nicht bei Vorwürfen der Gewalt gegen Frauen, sexualisierter Gewalt, bei rassistisch motivierter Gewalt, also die Umkehrung dessen, was ich auf Nebenklageseite mache.

Wie nahe gehen Ihnen die Fälle, in denen es um häusliche Gewalt oder Gewalt gegen Frauen geht?

Ich mache das seit über 20 Jahren. Ich bin häufig sehr beeindruckt davon, wie die Betroffenen damit umgehen. Wie sie es schaffen, aus so unendlich viel Leid und Gewalt herauszukommen. Und ich kann ihnen ein kleines Stück ihres Weges beistehen und oft etwas für sie erreichen, das ist auch eine unglaublich schöne Arbeit. Die Frauen sind meistens schon im Frauenhaus, haben den Partner oder Ex-Partner angezeigt und sind getrennt, wenn sie zu mir kommen. Das ist eine andere Situation, als sie Sozialarbeitende häufig vorfinden. Die einzigen Verfahren, in denen es meist anders ist, sind die Stalking-Verfahren, denn in diesen Verfahren sind die Straftaten oft noch nicht beendet.

Gehen die Frauen nicht sehr oft zurück?

Das passiert natürlich auch, vor allem, wenn sie erst kurz getrennt sind und keine Perspektive haben. Es gibt leider häufig gute Gründe dafür, zurückzugehen.

Versuchen Sie, die Frauen davon abzuhalten?

Nein, das steht mir nicht zu. Ich sage aber schon im Erstgespräch, dass ich, sofern das Mandat beendet werden soll, ein persönliches Gespräch führen möchte. Es reicht mir nicht, wenn der Ehemann anruft und sagt, seine Frau möchte nicht mehr von mir vertreten werden. Das muss ich schon von der Betroffenen selbst hören. In vielen Fällen kommen die Betroffenen irgendwann wieder, ein zweites, ein drittes Mal. Mir ist wichtig, dass es ihnen nicht unangenehm ist, mir ein halbes Jahr später zu sagen, dass es doch nicht geklappt hat.

Weiterlesen „Das große Tabu“

Wie nah müssen wir uns sein, um uns zu berühren?

EIN TEXT AUS DER SCHREIBWERKSTATT

von Sanda Boca

Die aktuelle Lage mahnt zu Kontaktbeschränkung, Abstandseinhaltung und zum Tragen eines Mund-Nasen-Schutzes. Händewaschen wurde zum nationalen Sport und tägliche Auseinandersetzungen über die Einhaltung des Mindestabstands in den öffentlichen Verkehrsmitteln und im Supermarkt zum neuen Kultur- und Kinoprogramm der Nation. Ich freue mich für jeden, der dies humorvoll und optimistisch betrachten kann, denn das bedeutet, dass er durch die Pandemie keinen Leidensdruck empfindet. Mein Mitgefühl gilt denen, die in dieser Krise bereits einen großen Verlust erleiden mussten, in welcher Hinsicht auch immer. Covid als Krise der Liebenden und der Existenz löst große Angst aus. Ich stehe täglich ungefähr sechs Stunden an der Theatinerstraße mit ihren teuren Geschäften und reichen Kunden und versuche euch vom Kauf einer Zeitschrift zu überzeugen. Ich weiß, meine Arbeit wirkt nach außen unattraktiv, und manche lesen lieber Zeitschriften mit Bildern von der Welt und Persönlichkeiten, die in aller Munde sind. Euer Interesse mag es sein, globale Informationen zu erfahren, und ich glaube auch, es ist wichtig, ein offenes Ohr für die Nöte und Ereignisse auf der ganzen Welt zu haben. Die Zeitschrift, die ich euch anbiete, behandelt diese Themen nicht. BISS handelt von Bürgern dieser Stadt. Mit BISS habe ich Arbeit und kann selbst für mein Leben sorgen und meine Familie unterstützen. Trotz Corona, der Folgen einer schweren Operation an der Schulter und der kälter werdenden Temperaturen bin ich glücklich hier und ich liebe meine Wohnung. Ich lebe hier zufrieden mit meinem Hund Kora. Ohne meinen vierbeinigen Begleiter wäre alles anders. Er macht vieles schön und seine Liebe gibt mir jeden Tag Kraft. Ich sehe die Bedenken vieler Bürger*innen und was seht ihr? Seht ihr mich auch an? Seht ihr den Menschen hinter der Hand, die euch eine Zeitschrift entgegenstreckt? Ich glaube, wir müssen uns nicht anfassen, um uns zu berühren, und wir müssen nicht dicht beieinanderstehen, um uns nah zu sein. Eine freundliche Geste, von wem sie auch ist und wie sie auch sei, ist für mich etwas Höheres. Ich halte alle Vorsichtsmaßnahmen, die der Bevölkerung anlässlich der Pandemie auferlegt wurden, ein und richte mich stets nach den behördlichen Auflagen. Ich bedauere, dass die Gastronomie schließen musste, denn einige hilfsbereite Kellner und Gastronomen unterstützen mich bei meiner Arbeit, und dafür bin ich von Herzen dankbar. Dies gilt auch für jegliche Hilfe, die ich in Anspruch nehmen konnte. Habt Interesse aneinander und entwickelt Neugierde für die Geschichten und Bürger dieser Stadt.

BISS- Ausgabe Januar 2021 | Perspektivwechsel

Cover des BISS-Magazins Januar 2021

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