BISS-Ausgabe Juni 2017 | Wahl

Cover des BISS-Magazins Juni 2017

Thema | Wir haben die Wahl: Wählen heißt Verantwortung übernehmen – für das eigene Leben, die Demokratie und die Zukunft aller | 6 Absturz auf Raten: Von der Schuldenspirale und der Entscheidung,  wieder herauszukommen | 10 Frustrierte Ehrenamtliche: Angesichts vermehrter Abschiebungen sind Flüchtlinge und Helferkreise verzweifelt und wütend | 14 Demokratie ist ein Gefühl Drei Menschen aus Afrika beschreiben, was freie Wahlen für sie bedeuten  | 20 Auf Kosten anderer: Soziologieprofessor Stephan Lessenich im Gespräch | 22 Essen ist Heimat: Fahimas „Mantus“ gegen das Heimweh | Schreibwerkstatt | 5 Käufer und Verkäufer | 26 Aufgelesen: BISS-Verkäufer erzählen, was sie bewegt | Rubriken | 3 Editorial | 28 Freunde und Gönner | 29 Patenuhren | 30 Impressum, Mein Projekt | 31 Adressen
 
 

Alles ist gut

EIN TEXT AUS DER SCHREIBWERKSTATT
von Zuheir Sobhy Matti Takiyan
Ich habe im Kuweit-Krieg meine rechte Hand verloren. Lange war ich deswegen unglücklich und gereizt. Weil mir eine Hand fehlte, konnte ich keine Arbeit finden, meine Familie musste aber essen und die Miete bezahlen – diese Zeit war sehr schwer. Damals fuhr ich eines Tages mit einem Bus von Bagdad nach Mossul. Ein Mann saß neben mir. Er sah, dass es mir nicht gut ging. Er fragte, was mit mir los sei und wo ich hinfahre. Ich antwortete ihm nicht, ich war zu gereizt. Er fragte mich ein zweites Mal, diesmal fragte er mich aber auch, warum ich so gereizt sei. Ich sagte ihm, dass ich meine Hand verloren habe, und der Mann erzählte mir daraufhin eine Geschichte: Ein König hatte einen Minister. Dieser Minister sagte immer, dass alles gut sei. Nach ein paar Monaten verlor der König bei einem Unfall einen Finger. Der Minister sagte zum König: „Alles ist gut.“ Der König wurde daraufhin sehr böse. Was erlaubte sich dieser Minister? Erbost ließ der König ihn ins Gefängnis stecken. Jeden Freitag aber ging der König auf Reisen. Und so kam er einmal in ein Dorf, auf dessen Platz die Menschen einen Götzen anbeteten. Als sie den König sahen, wollten sie ihn ihrem Gott opfern. Doch dann merkten sie, dass dem König ein Finger fehlte. Um ihrem Gott nichts Unperfektes zu schenken, ließen sie wieder von dem König ab. Als er wieder in seinem Palast war, erinnerte der König sich daran, was sein Minister gesagt hatte: Alles ist gut. Am Ende hatte der Minister recht gehabt, der fehlende Finger hatte sein Leben gerettet. Und so holte der König den Minister wieder aus dem Gefängnis. Er fragte den Mann, was er Gutes darin gesehen habe, dass er im Gefängnis war, und der Minister sagte: „Wäre ich nicht im Gefängnis gewesen, wäre ich mit Ihnen zusammen gereist, und dann wäre ich geopfert worden. Alles ist also gut.“
Nachdem er seine Geschichte beendet hatte, sagte der Mann im Bus zu mir: „Gott hat Ihnen zwei Hände gegeben. Sie können auch mit einer Hand Arbeit finden, denn wo man nicht zwei Hände braucht, braucht man den Kopf. Danken Sie Gott für seine Güte.“ Ich dankte Gott für den Verstand, den er mir gegeben hat. Für die beiden Augen und Ohren und für die zwei Füße und zwei Hände. Eine hatte ich verloren, aber die andere habe ich noch. Und dank Gott habe ich hier in Deutschland auch eine gute Arbeit gefunden. Wenn ich also darüber nachdenke, dass ich meine Hand verloren habe, dann denke ich, dass es Gottes Wille war. Wenn schlechtes Wetter ist, sage ich: Alles gut. Wenn gutes ist, sage ich: Alles gut. Wenn ich verkaufe, sage ich: Alles gut. Wenn ich nicht verkaufe, sage ich: Alles gut.

BISS TRAUERT UM FRANCESCO SILVESTRI

27.03.1944 –
18.02.2017
Francesco Silvestri hat viele Jahre am Sendlinger-Tor-Platz die BISS verkauft. Er kam im Januar 2000 zu BISS. Damals lebte er in einem Münchner Männerwohnheim, ohne Wohnung und ohne Job. Er hatte beides zugleich verloren, was für Menschen, die in der Gastronomie arbeiten, nicht unüblich ist. Bei BISS wurde er zum 1. August 2001 fest angestellt, und schon bald konnte er in eine kleine Wohnung einziehen. Seinen Arbeitsplatz und seine Wohnung hat er bis zu seinem Tod behalten. Herr Silvestri war stolz darauf, dass er von seiner Altersrente und seinem Einkommen als Verkäufer leben konnte und nicht auf Unterstützung durch das Sozialamt angewiesen war. Er betonte gern, dass er „Steuern bezahle“, was ihn seiner Meinung nach fast automatisch zu einem angesehenen Mitglied dieser Gesellschaft machte. Für sich selbst gab er wenig Geld aus. Soweit es ihm möglich war, unterstützte er jedoch seine Familie und das Studium seiner Tochter in Ecuador.
Francesco Silvestri war zurückhaltend und immer höflich. Trotzdem hatten alle Respekt vor ihm. Richtig vergnügt war er auf den Betriebsfeiern und gemeinsamen Ausflügen, wenn er nach Lust und Laune in einem schönen Restaurant von der Speisekarte bestellen konnte. Er war ein Feinschmecker, der gern gut gegessen und einen feinen Wein dazu getrunken hat. Francesco Silvestri ist Anfang des Jahres zu seiner Familie nach Ecuador gereist. Er wusste, dass er krank war, und wollte seine Angehörigen dort wohl noch einmal sehen. Als er von der Reise nicht zurückkam und wir länger als vereinbart nichts von ihm hörten, nahmen wir mit dem deutschen und dem italienischen Konsulat Kontakt auf. So erfuhren wir, dass er bereits im Februar in Ecuador gestorben ist. BISS dankt Herrn Silvestri für seine langjährige Treue und Verbundenheit. Seine vielen treuen Stammkunden und wir werden ihn nicht vergessen. Karin Lohr

 

BISS-Ausgabe Mai 2017 | Die Welt erkunden

Cover des BISS-Magazins Mai 2017

Thema | Hell und dunkel: Für die einen strahlt im der Mai alles, andere sehen den Frühling nur noch schemenhaft. Und die Kinder gestalten sich die Welt selbst bunt – wenn man sie lässt | 6 Ja, ich will: Hochzeitsplaner erzählen aus ihrem Arbeitsalltag mit unterschiedlichen Kulturen | 10 Kunst für Kinder: Wie vor allem sozial benachteiligte Kinder mit Kunst kreativ und selbstbewusst werden | 18 Langsam blind werden:  BISS-Verkäufer Hans Pütz beschreibt, wie er seinen Alltag mit immer weniger Augenlicht meistert | 22 Big Issue South Africa: Über die Bildungsmisere in Südafrika | 24 Bedingte Hilfe: Warum Spender und Bespendete oft nicht dasselbe wollen | Schreibwerkstatt | 5 Käufer und Verkäufer | 26 Aufgelesen: BISS-Verkäufer erzählen, was sie bewegt | Rubriken | 3 Editorial | 29 Patenuhren | 28 Freunde und Gönner | 30 Impressum, Mein Projekt | 31 Adressen
 
 
 

Willy, du warst mein Idol

EIN TEXT AUS DER SCHREIBWERKSTATT
von Toni Menacher
Schon in meiner Schulzeit war ich sehr politisch und geschichtlich interessiert. Meine erste größere politische Erfahrung war die Überreichung des Friedensnobelpreises an Willy Brandt 1971. Damals war ich zehn Jahre alt und verfolgte die Verleihung im Fernsehen. Ich informierte mich dann in Geschichtsbüchern meines Bruders über Brandts Lebenswerk und war beeindruckt. Viele Erwachsene in meiner Umgebung waren aus der Kriegsgeneration und sprachen entweder nicht über die Nazizeit und den Krieg, oder aber sie verharmlosten dieses Thema und sagten, sie hätten von der Judenverfolgung nie etwas gewusst. Willy Brandt hat aber sein Leben, seine Freiheit und seine Gesundheit riskiert und im Untergrund gegen die Nazis gekämpft. Ich hätte bestimmt nicht den Mut dazu gehabt. Für mich ist es darum vorbildlich, dass Brandt immer seinen Weg ging. Was mich bis heute stört, ist, dass er sich während der 68er-Bewegung nicht auf die Seite der Demonstranten stellte. Im Gegenteil: Er unterstützte die Notstandsgesetze der Großen Koalition unter Bundeskanzler Kiesinger. Wie kann ein Mann wie Willy Brandt es zulassen, dass Methoden wie in einem Polizeistaat herrschen? Ich selbst, Jahrgang 1961, erlebte dies während der Anti-Atomkraft-Demonstrationen ab Ende der 70er-Jahre. Ich wohnte damals etwa 10 bis 15 Kilometer entfernt von den Atomkraftwerken Ohu 1 und 2 und war mehrmals auf Anti-Atom-Demos. Als Demonstranten auf diesen Demos von der Polizei mit Wasserwerfern und Knüppeln traktiert wurden, hat Willy Brandt nichts dagegen gemacht. Das habe ich ihm übel genommen. Denn er war zwar ab 1974 nicht mehr Bundeskanzler, als SPD-Vorsitzender aber einer der einflussreichsten Politiker. Ich bin immer schon SPD-Sympathisant, aber deshalb fand oder finde ich bei Weitem nicht alles gut, was die Partei macht. Aber es macht mir heute noch Spaß, mit politisch andersdenkenden Menschen zu diskutieren. Aber nur Demokraten! Die Diskussion mit Ewiggestrigen finde ich unnötig. Und ich er- lebe es mit Schrecken, dass heute alte Parolen wie „Ausländer raus“ oder „Asylbewerber sind alles Schmarotzer und Verbrecher“ wieder Zuspruch erhalten. Haben wir nichts aus der Vergangenheit gelernt? Auch am Stammtisch unterlasse ich solche Gespräche, weil Bier und Politik, da kommt nichts Gutes raus!