Zu viel!

Nach Schätzungen von Selbsthilfegruppen leben rund 1,8 Millionen Messies in Deutschland. Ihr Problem ist die obsessive Sammelwut, die ihre Wohnungen zunehmend verstopft. Wie sich das anfühlt und was man dagegen tun kann? Eine Betroffene und ein Experte – beide aus München – gaben BISS-Autorin Kerstin Güntzel spannende Antworten.

Von KERSTIN GÜNTZEL
Illustration SOPHIA MARTINECK

Sylvias* Nachbar ist zu Besuch in ihrer kleinen Zweizimmerwohnung in Neuhausen. Sie stehen auf dem einzigen freien Fleckchen Boden ihrer Mini-Küche und unterhalten sich. Auch auf dem Küchentisch der selbstständigen Grafikdesignerin, der ihr gleichzeitig als Schreibtisch und Büro dient, türmen sich Laptop, Stifte, Stapel von Büchern und Papieren. Ihre Küchenschränke und Regale quellen über vor Geschirr. Es herrscht ein Durcheinander: überfüllt, aber gemütlich. Unerwartet macht ihr Nachbar nun einen Schritt rückwärts und stolpert dabei über einen Zeitschriftenstapel, der sich hinter ihm auftürmt. Er stürzt zu Boden. Gott sei Dank hat er nur einen Schreck bekommen – und keinen Knieschaden! In diesem Moment wird der 45-jährigen Sylvia klar: So kann es nicht weitergehen mit ihrer Sammelwut. Sie kann regelrecht lebensgefährlich werden! Und sie einsam machen, denn auch ihre 16-jährige Tochter wohnt mittlerweile die meiste Zeit bei ihrem Ex, bei dem es ordentlich und übersichtlich zugeht. Sylvia weiß, dass sie ein Problem hat. Sie ist ein Messie. Zwar kein Hardcore-Fall, dennoch belastet ihre Sammelleidenschaft zunehmend ihr Leben.

„Messie“ – das Wort kommt uns schnell mal über die Lippen. Doch was sich genau dahinter verbirgt, wissen wir oft nicht. Wedigo von Wedel ist Geschäftsführer des Münchner H-TEAMs, eines gemeinnützigen Vereins, und dort für die ambulante Hilfe für Bürger in Not zuständig. Er erklärt:
„Der Begriff kommt aus der Selbsthilfe von Betroffenen und wird abgeleitet vom englischen mess, was so viel wie Chaos bedeutet. Es geht dabei um das ständige Ankämpfen gegen Unordnung, Strukturlosigkeit, aber auch um schlechtes Zeitmanagement und fehlende Pünktlichkeit. Ich spreche jedoch eigentlich lieber vom desorganisierten Wohnen und von Desorganisationssyndromen. Männer und Frauen sind davon gleichermaßen betroffen, und die Sammelsucht zeigt sich spätestens ab der Pubertät. Unabhängig vom Geldbeutel wird gerne auf Flohmärkten oder Wertstoffhöfen gestöbert. Dabei schwindeln sie sich selbst vor, dass Secondhand ja ethisch hochwertig und das Shopping somit schon okay ist. Gut betuchte Messies dagegen entwickeln oft eine Kaufsucht.“
Sylvia ist der Flohmarkt-Typ. Wenn sie dort einen gedrechselten Kerzenhalter für zwei Euro findet, ist sie begeistert, weil sie denkt: „Ein richtiges Kunstwerk für so wenig Geld! Das muss ich doch mitnehmen.“ Obwohl sie ganz sicher keinen Kerzenhalter mehr braucht. Generell hat sie eh von allem zu viel: Sie sammelt Tee- und Kaffeekannen, besitzt Unmengen an Tassen, obwohl sie die nie benutzt. Einfach nur, weil sie sie wunderschön findet. Ihre Liebe zu ästhetischen Dingen verleitet sie immer wieder zum Kauf. Auch an „Zu verschenken“-Kisten kommt sie nicht vorbei, ohne gute Bücher mitzunehmen. Ihre Kollektion führt mittlerweile zu ernsthaftem Ärger mit der 16-jährigen Tochter, die letztens wütend zu ihr sagte: „Du hörst jetzt endlich mal auf zu shoppen, denn bald ist kein Platz mehr in der Wohnung für mich!“ – „Klar kann sie selbst ihre Dinge ausmisten und auf dem Flohmarkt verkaufen. Aber an meine Sachen darf sie auf keinen Fall ran“, sagt Sylvia fast trotzig dazu.
Wohl jeder von uns erkennt ab und zu auch an sich Messie-Muster. Und wenn es nur die vollgestopfte Schublade ist … Es ist schließlich nur allzu menschlich, sich selbst auszutricksen, um es bequem zu haben. Bei Messies gerät diese Balance, die normalerweise im Alltag noch halbwegs da ist, zu Hause völlig aus dem Ruder. Denn in unserem Heim dürfen wir uns unsere Welt so frei gestalten wie nirgends sonst. Die Wohnung ist ein geschützter Ort und immer ein Ausdruck ihrer Bewohner. Etwas wegzuwerfen geht für
Messies eigentlich gar nicht, weil sie sich so gleichzeitig auch von den Ideen, die mit den Dingen verbunden sind, verabschieden müssten. Zum Beispiel: Nur wenn ich alle meine Lieblingsdinge um mich schare, kann ich mich überhaupt wohlfühlen und glücklich sein. Werfe ich etwas weg, fehlt ein Teil von mir.
Ein weiteres typisches Messie-Muster: Sie fangen viel an, bringen aber nichts zu Ende. Davor machen sie lieber fünf neue Baustellen auf. Einige kennen diese Verhaltensmuster schon aus ihrem Elternhaus. So wie Sylvia: „Mein Vater war schon als Kind mit mir ständig auf Flohmärkten. Er hat heute noch eine Riesenvitrine mit seinen ganzen Schätzen zu Hause. Meine Eltern haben ein total überfülltes Haus. Sie sind auch Messies, aber ordentlicher als ich.“ So chaotisch es daheim manchmal zugeht, können sich Sammler interessanterweise im Job oder Ehrenamt sehr wohl strukturieren. Sie funktionieren dort gut. Deshalb sind die klassischen Messies auf der Straße nicht zu erkennen. Im Gegenteil, so Wedigo von Wedel: „Dieses Problem ist vor allem eines der höheren sozialen Schichten. Messies haben eine überdurchschnittliche Bildungsnähe und verfügen oft über eine gute wirtschaftliche Absicherung. Es sind sehr intelligente, kreative und hilfsbereite Menschen. Lehrer und Juristen, generell Akademiker, haben unserer Erfahrung nach ein höheres Risiko.“
Schuld daran sei immer ein in der Kindheit gebrochener oder nie entwickelter Selbstwert. „Messies tragen großes Leid mit sich herum: eine aus der frühen Kindheit stammende Traumatisierung“, so Wedigo von Wedel. Bei nahezu allen Betroffenen habe es schwere biografische Brüche gegeben, etwa den Verlust von Bezugspersonen im Alter von bis zu zehn Jahren. Durch die Bank hört er von klassischen Messies: „Ich habe mich als Kind nie geliebt gefühlt.“ Manche empfanden sich gar als unerwünscht. Dadurch ist eine schwere Bindungsstörung entstanden. Häufig seien diese abgelehnten Kinder auf Bestleistung getrimmt, aber ihre emotionalen Bedürfnisse nicht wahrgenommen worden. „Ich habe dich einfach lieb, weil du da bist, weil es dich gibt, weil du mir wichtig bist“ – diesen Satz haben sie als Kind nicht gehört. Ihr elementares Urvertrauen konnte sich so nie entwickeln. Deshalb wird die Störung meist von einer Depression, Angstzuständen oder anderen Süchten begleitet. Viele spüren auch Gefühle nicht so intensiv: Freude, Wut, Trauer – alles ist abgeflacht. Schließlich werden die Dinge wichtiger als sie selbst. „Nicht selten stapeln sich zig Bücher im Bett, sie selbst schlafen aber unbequem auf einem überfrachteten Sessel und haben chronische Rückenschmerzen“, weiß Wedigo von Wedel.
Auch Sylvia hat mittlerweile so viel Lektüre am Fußende ihres Bettes aufgetürmt, dass es sie stört. Und doch kann sie die Bücher nicht weggeben, weil sie ja noch alles lesen will und kein anderer Ort mehr frei ist. „Ich habe ein totales Bewusstsein dafür, wie schlimm es bei mir daheim aussieht. Wenn ich einmal wieder neu verliebt bin und der Mann zu mir heimkommt, schmeiße ich alles ins andere Zimmer und mache dort die Tür zu“, sagt sie. Weil sie sich schämt, lässt sie Fremde generell nicht gern in ihre Wohnung. Ihr Besitz soll Messies stabilisieren und glücklich machen, doch das passiert nie.
Genauso ergeht es Sylvia: Kommt sie aus der superordentlichen, strukturierten, leeren Wohnung ihrer Freundin in Berlin, die ihr guttut, weil sie sie beruhigt, zieht sie ihr Chaos zu Hause wieder regelrecht runter. Sie hat dann das Gefühl, in einem Wimmelbuch zu leben. „Das Traurigste ist, dass ich meine Sachen nicht mal gebrauche. Oder ich weiß noch nicht, wann. Vielleicht im nächsten Leben? Andererseits sind meine Dinge auch meine Freunde“, grübelt Sylvia.
Durch den Tod oder die Trennung von Angehörigen kann manchmal der mühsam aufrechterhaltene Status quo kippen. Teils entwickeln Messies auch nach einer Zwangsräumung eine starke Depression. Dann kann es zu Verwahrlosung oder dem Vermüllungssyndrom kommen, das per se rein gar nichts mit dem Messie-Syndrom zu tun hat, sondern eine andere Störung ist. Schlimmstenfalls kommt es dann zum sozialen, wirtschaftlichen und gesundheitlichen Abstieg. Damit das nicht passiert, hilft das H-TEAM. Ihr Ziel: maximale Befriedung der Wohnverhältnisse bei minimaler Intervention. „Wir helfen beim Entrümpeln, wollen aber auf keinen Fall ,Schöner Wohnen‘ schaffen oder den Leuten normgerechtes Wohnen beibringen. Aber es gibt eine nicht mehr tolerierbare Grenze, wenn die Rechte anderer Menschen – des Nachbarn oder Vermieters – verletzt werden. Auch die Gemeinschaftsflächen im Flur, Keller oder Trockenraum sind ein No-go für Messies. Hier gibt es von uns deshalb null Mitgefühl“, so Wedigo von Wedel.
Was das H-Team nicht bieten kann, ist ein psychotherapeutisches Angebot. Auch die Vermittlung gestaltet sich schwierig, weil es spezifisch für Messies so gut wie nichts gibt. „Viele Therapeuten haben von der Thematik wenig Ahnung und fühlen sich überfordert. Ich rate auch von einer reinen Verhaltenstherapie ab, weil es hier nur um Angst-Management geht. Und ich kenne keinen einzigen Messie, bei dem das etwas gebracht hätte. Ich kenne aber ganz viele, die es abgebrochen haben, weil es schlimmer wurde als zuvor. Daher empfehle ich, eine Trauma-Ambulanz aufzusuchen, weil dort in der Regel sehr vernünftige Anamnese betrieben wird“, rät Wedigo von Wedel. Anfangs gehe es um die reine Ressourcenstärkung. Messies müssten schließlich den Mut entwickeln, sich selbst in ihren Bedürfnissen wahrzunehmen. Dann sei Heilung auf jeden Fall möglich.

Rat und Tat

Beim Messie-Hilfe-Telefon des Münchner H-TEAM e.V. (Tel. 089 55064890) kann jeder anrufen:
Betroffene, Angehörige, Nachbarn, Vermieter …
Die Beratungszeiten sind dienstags von 9 bis 12 Uhr sowie
donnerstags von 15 bis 18 Uhr. Weitere Infos gibt es unter www.h-team-ev.de


Das Messie-Hilfe-Team in Gauting (messie-hilfeteam.de) macht Hoffnung:
„Unsere Teams sorgen mit starken Armen und einem großen Herzen dafür, dass Ihre Wohnung wieder
schön wird.“


Außerdem trifft sich jeden vierten Dienstag im Monat von 18 bis 20 Uhr
eine Messie-Angehörigengruppe im Selbsthilfezentrum München in der Westendstr. 68.
Unter Tel. 089 53295611 gibt es dazu weitere Infos.