Zu Besuch bei der Montrealer Straßenzeitung „L’Itinéraire“

Zwischen Montreal und München liegen über 6.000 Kilometer. In Montreal sind es jedoch die Gemeinsamkeiten, die zuerst ins Auge fallen. In beiden Städten wurden in den 1970er-Jahren Olympische Spiele ausgetragen, in beiden Städten wird es im Winter ziemlich kalt, und wie die BISS blickt auch die Montrealer Straßenzeitung „L’Itinéraire“ (dt. Obdachlose) auf eine fast 25-jährige Geschichte zurück. Ich bin mit der Chefredakteurin Josée Panet-Raymond verabredet, um von ihr mehr über die Situation der Obdachlosen in Montreal zu erfahren.

von Margit Roth

Wann wurde „L’Itinéraire“ gegründet?

Die ersten Anfänge gab es 1989, in einer Zeit, in der es dreimal so viele Obdachlose in Montreal gab wie heute. Ein Mitarbeiter einer Obdachloseneinrichtung ermunterte Obdachlose dazu, über ihre Erlebnisse und Erfahrungen zu schreiben. Dann kam es zu einer Art Schneeball­ Effekt. Begonnen hat es also 1989 mit vier fotokopierten Seiten, 1992 wurde daraus ein kleines Journal und 1994 die Straßenzeitung „L’Itinéraire“.

Wie viele Menschen arbeiten heute für „L’Itinéraire“?

Die Straßenzeitung erscheint zweimal im Monat mit einer Auflage von jeweils ca. 15.000 Stück. Momentan sind ungefähr 120 Verkäufer in Montreal und fünf kleineren Städten im Umland unterwegs. In der Redaktion und im Café arbeiten 14 Angestellte, vier davon im Rahmen eines Reintegrationsprogramms, und viele Ehrenamtliche. Einige der Angestellten waren früher selbst obdachlos.

Wie viele Menschen leben in Montreal auf der Straße?

Laut einer Erhebung im letzten Jahr gibt es in Montreal 3.016 rough sleeper, also Menschen, die draußen schlafen. Über die tatsächlichen Zahlen lässt sich jedoch schwer etwas sagen. Besonders obdachlose Frauen kommen mal hier, mal dort irgendwo unter. Sie leben nicht auf der Straße, haben aber auch keine eigene Wohnung. Die Winter in Montreal sind sehr kalt und lang.

Dürfen Obdachlose in Montreal in der Underground City, also der Stadt unter der Stadt, oder der U-Bahn schlafen?

In Montreal gibt es vier große Notschlafstellen und einige kleinere Einrichtungen. Es gibt aber immer wieder Menschen, die es ablehnen, in diese Notunterkünfte zu gehen. Diese Menschen leiden häufig unter schweren psychische Erkrankungen und wollen auf keinen Fall in eine Notschlafstelle. Wenn die Temperaturen unter minus 20 Grad fallen, erlauben die Verkehrsbetriebe, dass Menschen dort übernachten. In sehr kalten Nächten sind städtische Angestellte und Ehrenamtliche in der Stadt unterwegs und versuchen, Obdachlose davon zu überzeugen, dass es lebensgefährlich ist, draußen zu bleiben. In einem extra dafür bereitgestellten Bus können sich Obdachlose wenigstens aufwärmen. Während wirklich kalter Phasen werden darüber hinaus zusätzliche Notschlafstellen angeboten.

Der jetzige linksliberale Premierminister Justin Trudeau ist auch in Deutschland bekannt und beliebt. Hat sich durch seine Wahl die Situation für Obdachlose in Kanada geändert?

Trudeau ist sehr viel fortschrittlicher, als es sein Vorgänger Stephen Harper von der Konservativen Partei war. Trudeau hat die Mittel für das Housing First Program spürbar erhöht. Regionalgruppen und Obdachlosenorganisationen sehen darin einen Schritt in die richtige Richtung. Aber es ist immer noch viel zu tun. In der Provinz Québec hat die Provinzregierung zwar mehr Wohnungen für Wohnungslose und Arme bereitgestellt, das angestrebte Ziel aber noch nicht erreicht. Nach der Wahl Trumps gab es zahlreiche Berichte, dass Bürger aus den USA nach Kanada auswandern.

Um welche Art von Migranten handelt es sich?

Zurzeit kommen die meisten Asylsuchenden, die aus den USA weggehen, ursprünglich aus Haiti. Sie haben Angst davor, von Trump nach Haiti zurückgeschickt zu werden. Außerdem haben wir viele Menschen aus Syrien und Somalia aufgenommen. In den Sommermonaten sind Migranten aus den USA zu Tausenden über die grüne Grenze aus dem Staat New York in die Provinz Québec gekommen. In den USA gab es Gerüchte, dass Flüchtlinge in Kanada in jedem Fall akzeptiert werden würden. Fakt ist jedoch, dass jeder Einzelfall geprüft wird und es keineswegs sicher ist, dass ein Antrag positiv beschieden wird. Momentan bekommen Migranten bei uns in jedem Fall Sozialhilfe und eine Krankenkassenkarte. Wie ihre Zukunft aussehen wird, ist jedoch noch sehr unsicher. Kanada ist ein sehr offenes Land. Wir haben beispielsweise im letzten Jahr 25.000 Syrer aufgenommen. Es wird jedoch bei jedem Migranten sehr genau geprüft, ob er oder sie zu Kanada passt. Vorbestrafte und Terroristen werden sofort des Landes verwiesen.

Verkaufen mittlerweile auch Flüchtlinge die Straßenzeitung?

Nein, bislang nicht. Das könnte sich jedoch in den nächsten Jahren ändern.

Nach vielen spannenden Begegnungen, intensiven Gesprächen, einer herzlichen Verabschiedung und dem Versprechen, sich beim nächsten ISNP-Kongress wiederzusehen, fahre ich ein wenig traurig zum Flughafen.