Wer wohnt wie? In der Kolumne geben BISS-Verkäuferinnen und -Verkäufer Einblicke in ihren Wohnalltag. Sie erzählen, wie sie früher gelebt haben, wie sie momentan wohnen und was sie sich für die Zukunft erhoffen.
Der Kulturbeflissene
Protokoll FELICITAS WILKE
Foto MARTIN FENGEL

„Viele Menschen halten sich zu Hause am liebsten im Wohnzimmer auf, wo sich das Leben vor dem Fernseher abspielt. Mich hingegen reizt das gar nicht, im Fernsehen hat man bis vor Kurzem eh immer nur den Trump gesehen oder irgendwas mit Corona. Ich sitze lieber in meiner Wohnküche. Sie ist für mich der Mittelpunkt meiner Wohnung: Hier koche ich nicht nur in meiner kleinen Küchenzeile, hier esse ich auch an meinem schönen, alten Esstisch, lese Zeitung oder schreibe an meinen Geschichten für die BISS-Schreibwerkstatt. Ich lebe seit März 2012 in einer 45 Quadratmeter großen Einzimmerwohnung in Thalkirchen. Sie besteht aus meiner Wohnküche, einem Schlafzimmer und einem Bad. Dafür zahle ich 460 Euro Miete. Hier zu leben ist für mich das Paradies: Ich laufe zehn Minuten zum Tierpark, fünf Minuten zur Isar und habe direkt im Hinterhof einen wunderbaren Garten. Er wird von der Hausgemeinschaft gehegt und gepflegt. Hier blühen Rosen, es zwitschern Vögel, man kann sich auf eine der Bänke setzen und lesen. Manchmal kommt ein Eichkatzerl vorbei. Und alle Nachbarn grüßen einander und helfen sich gegenseitig. Das alles ist für mich nicht selbstverständlich. Bevor ich hierhergezogen bin, habe ich zweieinhalb Jahre auf der Straße gelebt. Im Sommer übernachtete ich im Englischen Garten, im Winter in der S-Bahn. Um mir etwas zu essen kaufen zu können, habe ich Flaschen gesammelt. Ich habe mich geniert und war auf mich alleine gestellt. Viele andere Obdachlose haben getrunken oder Drogen genommen, aber das wollte ich nie. Gegenseitige Solidarität habe ich damals nicht erfahren. Dabei hatte ich ein tolles Elternhaus und eine super Kindheit. Ursprünglich komme ich aus der Nähe von Salzburg. Nach der Schule wollte ich ins Gastgewerbe und habe eine vierjährige Ausbildung im „Österreichischen Hof “ in Salzburg gemacht. Es war damals nach dem „Hotel Sacher“ das zweitbeste Hotel im ganzen Land, dort stiegen während der Festspiele die Sänger und Komponisten ab. So lernte ich die Welt der klassischen Musik und die wunderbaren Melodien kennen. Doch nicht nur die Musik reizte mich, ich wollte auch andere Länder kennenlernen. Ich ergatterte eine Anstellung als Steward auf einem Kreuzfahrtschiff und bediente die Gäste auf dem Mittelmeer. Ich wohnte an Bord zwar in einer bescheidenen Koje, doch ich bereiste Tunis, Agadir, mein geliebtes Verona und bekam reichlich Trinkgeld. Doch als sich die All-inclusive-Mentalität durchsetzte, wurden die Arbeitsbedingungen immer schlechter. Ich verließ das Schiff und landete in München, wo ich erst auf dem Oktoberfest und dann in der Gastronomie kellnerte. Irgendwann waren auch hier keine gelernten Kräfte mehr gesucht. Ich verlor meine Arbeit und landete auf der Straße. Über einen Zufall kam ich dann vor rund zehn Jahren zur BISS und schließlich auch zu meiner jetzigen Wohnung. Die Zeitschrift verkaufe ich am Gasteig und bin damit wieder ganz nah dran an den Künstlern, Bühnentechnikern und Besuchern – und an meiner geliebten Musik!“