Wer wohnt wie? In der Kolumne geben Menschen aus dem BISS-Netzwerk Einblicke in ihren Wohnalltag. Sie erzählen, wie sie früher gelebt haben, wie sie momentan wohnen und was sie sich für die Zukunft erhoffen.
Protokoll ANNELIESE WELTHER
Foto MARTIN FENGEL
Der Fromme
In allen Ecken meines Einzimmer-Appartements liegen Münzen, nicht viele, einfach ein bisschen Kleingeld. Dann geht es einem gut, denn Geld gesellt sich zu Geld. An der Tür meines Kühlschranks habe ich ein Hufeisen. Es ist grün, das ist meine Glücksfarbe. In meinem großen Zimmer bewahre ich eine Ikone auf, die ich in einem Gebirgskloster in Rumänien erworben habe. Sie ist von den Ordensfrauen handgemacht, aufklappbar, reich verziert und vergoldet. Innen sind zwei Bilder, eines zeigt Maria mit dem Jesuskind und das andere den erwachsenen Christus. Jeden Tag, bevor ich in die Arbeit gehe, sowie vor dem Schlafengehen bete ich dort und zwar für die ganze Welt. Wenn jemand eine Zeitschrift bei mir kauft, bekreuzige ich mich und spreche ein kleines Gebet für den Käufer oder die Käuferin. Damit möchte ich ihnen Respekt erweisen, genau so, wie sie es taten, als sie bei mir die BISS kauften. Sonntags, am einzigen Tag, an dem ich nicht arbeite, besprühe ich meine Wohnung mit Weihwasser und zünde in einem großen Löffel Weihrauch an, dessen Duft sich überall verbreitet. Ich gehe damit auch auf den Balkon, wo mich meine Nachbarn schon amüsiert betrachtet haben. Eine Frau hat mir einmal anerkennend ihren erhobenen Daumen aus der Ferne gezeigt. Sonst nutze ich den Balkon, um eine zu rauchen und als Vorratskammer, wo ich Äpfel, Tomaten, eingemachte Speisen und so weiter lagere. Die U-Bahn-Station ist fünf Minuten entfernt. Von dort benötige ich eine Viertelstunde zu meiner Verkaufsstelle am Marienplatz. Mein Appartement liegt in der Nähe des Olympiageländes. Wenn dort eine Veranstaltung am Wochenende ist, sind sehr viele Leute unterwegs. Zu mir nach Hause dringt zwar kein Lärm, aber die U-Bahn ist sehr überfüllt. Aber das ist das einzige Manko, sonst verdient alles an meiner Wohnung die Note eins. Möbel habe ich nur wenige: ein Bett, einen Tisch mit zwei Stühlen, eine Kommode, einen Einbauschrank und einen Fernseher. Doch ich finde, dass ich nicht mehr brauche. Ich stamme aus einem kleinen rumänischen Ort, in dem die Leute anständig und gutherzig waren, aber es hing ihnen der Geruch von alten Kleidern an, mit anderen Worten: Sie führten ein armes, sorgenvolles Leben. Das Haus meiner Eltern hatte vier Zimmer und einen schönen Garten mit Kirschbäumen, in die ich als Kind oft geklettert bin. Von dort oben sprach ich damals schon gerne mit Gott. Doch das Haus lag unweit des Meeres und wurde leider mittlerweile bei einer Flut hinweggespült. Meine Mutter war Griechin. Sie und mein Vater haben sich in Griechenland bei einer Aufführung kennengelernt. Beide waren angesehene Künstler, sie Sängerin und er Geiger. Dadurch, dass meine Mutter Griechin war, hatten wir das Privileg, auch zu Zeiten des Eisernen Vorhangs aus Rumänien ausreisen zu dürfen. Später lebte ich mit meiner Frau in Griechenland, das ich verließ, als sie vor einigen Jahren starb. Warum ich nach Deutschland gekommen bin, weiß ich gar nicht mehr. Wahrscheinlich hat Gott mich hierhergeführt.