Wer wohnt wie? In der Kolumne geben BISS-Verkäuferinnen und -Verkäufer und Menschen aus dem BISS-Netzwerk Einblicke in ihren Wohnalltag. Sie erzählen, wie sie früher gelebt haben, wie sie momentan wohnen und was sie sich für die Zukunft erhoffen.
Protokoll ANNELIESE WELTHER
Der Naturliebhaber

Ich liebe es, mich an den kleinen, feinen Dingen des Lebens zu erfreuen. Dazu gehört mein Balkon, wo ich stets nur kurz, aber oft sitze. Bei schönem Wetter habe ich den ganzen Tag Sonne. Auf den Boden habe ich mir ein paar Blumenkästen und -töpfe gestellt, denn ich finde: Pflanzen machen die Seele frei. Die Liebe zur Natur habe ich von meiner Oma, die in meinem Geburtsland Iran einen Obstgarten und viele Blumen besaß. Von der Arbeit habe ich es nicht weit nach Hause. Im Erdgeschoss ist der Fahrradladen, in dem ich angestellt bin, und darüber, im fünften Stock, befindet sich meine Zweizimmerwohnung. Das ganze Viertel ist fünf oder sechs Jahre alt. Es wohnen viele Familien hier. Zuvor habe ich am Ostbahnhof in einer kleinen Wohnung gewohnt und arbeitete auch dort in einem Fahrradladen. Durch einen tragischen Umstand kam ich vor etwa zwei Jahren zu meiner jetzigen Bleibe. Ein anderer Mitarbeiter verstarb, und es wurde jemand für diese Filiale gesucht. Ich sprang ein und übernahm auch sein Appartement. Für 40 Quadratmeter zahle ich nun inklusive Strom 600 Euro Miete. Die Küche mit den roten Schränken und den bunten Wandfliesen war schon eingebaut, als ich einzog. Meinen Kaffeeautomaten habe ich geschenkt bekommen. Morgens trinke ich eine Tasse Kaffee und nachmittags Tee. Bei meiner Oma im Iran lief der Samowar von morgens sechs Uhr durchgehend bis abends. Immer kam jemand und wollte Tee. Dort trank man für gewöhnlich schwarzen Tee, währenddessen ich mittlerweile grünen bevorzuge, der Gesundheit wegen, auch wenn ich mich an den Geschmack erst gewöhnen musste. Auf dem Fußboden liegen natürlich Teppiche. Ein Perser ohne Teppich ist kein Perser. Meine sehen so ähnlich aus wie diejenigen, die meine Großmutter gemacht hat. Kenner können übrigens anhand des Musters sagen, aus welcher Gegend ein Teppich kommt. Meine Oma hat im Norden des Irans gewohnt, wo es im Winter richtig kalt werden konnte, kälter als in Deutschland. Die Zeit, die man drinnen verbringen musste, nutzte man zum Teppichknüpfen. In dem Ort, wo ich als Kind mit meiner Familie gelebt habe, einer kleinen Industriestadt, gab es insgesamt zwei oder drei Fahrräder, und eines davon gehörte uns, das heißt, wir fünf Geschwister mussten uns eins teilen. Es war ein Luxusgegenstand. Wer hätte damals gedacht, dass ich später einmal den Beruf des Zweiradmechanikers erlernen würde. Ein Auto besitze ich schon lange nicht mehr. Bei extrem schlechtem Wetter nehme ich die U-Bahn oder den Bus, ansonsten bin ich immer mit dem Rad unterwegs. Nicht weit von mir liegt der Englische Garten, wohin ich oft fahre, um Ruhe zu finden und um Freunde zu treffen. Auf dem Weg komme ich an Ateliers vorbei. Früher war an der gleichen Stelle eine Kaserne, dann eine Diskothek und jetzt arbeiten Künstler dort. Diese Leute sind ein bisschen anders, aber sehr angenehm und fahren alle Rad. Viele von ihnen sind meine Kunden. Überhaupt boomt das Fahrradgeschäft seit Corona. Wäre ich jünger und hätte ich mehr Kapital, würde ich mich selbstständig machen.