Wie ich wohne

Wer wohnt wie? In der Kolumne geben BISS-Verkäuferinnen und -Verkäufer Einblicke in ihren Wohnalltag. Sie erzählen, wie sie früher gelebt haben, wie sie momentan wohnen und was sie sich für die Zukunft erhoffen.

Protokoll FELICITAS WILKE

Der Löwe

Foto: Martin Fengel

„Ich liebe die Sechzger nicht, ich lebe sie. Das erahnt man schon, wenn man bei mir zur Tür hereinkommt, an der ein großes Schild mit der Aufschrift ‚Giasing‘ prangt. Meine 32-Quadratmeter-Wohnung ist durch und durch blau: Eine Wand ist hellblau gestrichen, die Vorhänge sind blau-weiß. An der Wand über meinem Bett präsentiere ich meine Wimpel von 1860 München genau wie die Schals, meine Kutte und die Trikots, die ich zum 50. und zum 60. Geburtstag geschenkt bekommen habe. Wo andere ein Hirschgeweih an ihrer Wand angebracht haben, ist’s bei mir der Kopf eines Plüschlöwen. Meine Mutter kam aus Untergiesing, doch ich bin in der falschen Stadt geboren und aufgewachsen: in Augsburg. Als Sechsjähriger lernte ich dort nach einem Spiel im Rosenaustadion den Torwart Radi Radenković kennen. Da war es um mich geschehen: Von diesem Moment an war ich ein Blauer. Noch im gleichen Jahr, nämlich 1966, wurden die Löwen sogar Deutscher Meister. Für mich ging es erst einige Jahre später in die Stadt, in die ich gehöre. Dort lebte ich weiterhin für den Sport. Ich war nicht nur Fußballfan, sondern spielte auch Eishockey in der zweiten Bundesliga bei Geretsried und wurde in den 1970er-Jahren bayerischer Vize-Amateurmeister im Boxen. Für die Sechzger natürlich. Zum Boxen kam ich, weil ich als Kind klein und schwach war und öfter eine aufs Maul bekommen hatte. „Immer aufmerksam und brav“, so steht es in meinem Zeugnis der ersten Klasse, das an meiner blauen Wand zu Hause hängt. Haha, damals vielleicht! Nachdem ich mit dem Boxen begonnen hatte, war ich kein so leichtes Opfer mehr.
Zu meinem Leben gehörten Tiefschläge dazu, nicht nur beim Boxen. Ich war zwischenzeitlich verheiratet, doch meine Ehe scheiterte, nachdem unsere Tochter gestorben war. Ein Foto, ebenfalls an meiner blauen Wand, erinnert mich an sie. Meinen Beruf als Metzger auf dem Schlachthof musste ich wegen meiner Bandscheiben aufgeben. Danach wollte man mir einen 1-Euro-Job andrehen – und das nach Jahrzehnten im Berufsleben! So landete ich schließlich bei der BISS, die ich seit viereinhalb Jahren verkaufe. In meiner Wohnung in Giesing, in dem Stadtteil also, wo auch die Löwen daheim sind, wohne ich mittlerweile seit zwölf Jahren. Die Miete für ein Zimmer mit Küchenzeile, Bad und Balkon beträgt 509 Euro kalt plus 50 Euro Nebenkosten. Dafür erhalte ich staatliche Unterstützung. Ich habe hier alles, was ich brauche. Das Stadion ist nicht weit, eine Station mit dem Bus, dann geht’s mit der Tram 25 direkt an die Grünwalder Straße. Und wir haben hier eine gute Gemeinschaft: Meinen Balkon habe nicht etwa ich mit Blumen, Tomaten und Paprika bepflanzt, sondern meine Nachbarin. Ich könnte so was nicht, ich bin eher der Mann fürs Grobe. Wenn sie mal jemanden braucht, um einen alten Schrank zu zerlegen, dann bin ich der Richtige! Auch sonst ist meine Nachbarschaft schwer in Ordnung. Mit einem Roten, der im Haus wohnt, schaue ich manchmal sogar Fußball. Die Zeit der Derbys ist zwar vorbei, aber vielleicht werden wir einander ja mal im DFB-Pokal zugelost.“