Wer gehört wird

Im vergangenen Frühjahr wurden Schülersprecher in den Medien immer wieder zu ausfallenden Abiturprüfungen und Abibällen befragt – aber immer die von Gymnasien. Was ist mit den anderen Schularten? Wer setzt sich für deren Schüler ein?
Zu Besuch bei der Schülersprecherwahl in einer Mittelschule im Hasenbergl.

Von HELENA OTT

Fotos SEBASTIAN LOCK

Es ist ein triefend regengrauer Montag Anfang Februar. 27 Schüler sitzen in den Rängen und warten auf die Schülersprecherwahl, fünfte bis zehnte Klasse. Christine Thorwarth musste den dritten Schülersprecher seines Amtes entheben. „Er wurde seiner Vorbildrolle nicht gerecht“, habe Lehrer beleidigt und auf dem Pausenhof randaliert. Die Beliebtesten sind manchmal eben auch die Verhaltensauffälligsten. Deshalb hat Thorwarth an diesem Montag weiße Zettel als Wahlscheine vorbereitet. Demokratie auf kleinstem Raum. Die Schüler sitzen mit Abstand in dem Saal mit kleiner Bühne und den aufsteigenden Sitzreihen. Die junge Lehrerin in weißer Bluse, mit rotem Hoodie darüber, und mit lässigem halbem Dutt wurde von den Mittelschülern zur Vertrauenslehrerin gewählt. „Ich will den Schülern eine Stimme geben und ihnen zeigen, dass sie mitgestalten können“, sagt Christine Thorwarth. Zuvor betreute sie schon die Arbeit der Schülermitverwaltung, kurz SMV.

Besar, 9. Klasse

Während auf den aufsteigenden Sitzrängen noch durcheinandergeredet wird, steht Besar auf, nimmt den kürzesten Weg auf die Bühne und spricht ins Mikrofon: „Ich bin Besar, aus der 9M, und ich möchte Schülersprecher werden, weil ich gut Geheimnisse hüten kann und hilfsbereit bin.“ Ende. Dabei schickt der große, hagere Junge, wie er mit fester Stimme spricht, auch die Botschaft in die Sitzreihen: „Ihr könnt mir vertrauen, ich kann das.“ Er gibt das Mikrofon zurück an Christine Thorwarth. Die junge Lehrerin koordiniert die Schülersprecherwahl auf der Bühne mit mächtigem schwarzem Vorhang dahinter. Mit Edding notiert sie die Namen auf einem Flipchart-Papier. Nach Besar, dem Jungen, der als Erstes aufgestanden war, trauen sich noch acht andere Kinder auf die Bühne, um sich aufstellen zu lassen. Darunter auch ein Mädchen mit schwarzem Kopftuch aus der fünften Klasse und zwei kleine Jungs. Konzentriert lässig schlendert ein Mädchen auf die Bühne zu, weiße Turnschuhe, graue Jogginghose, schwarze Jacke. „Hi Leute, ich bin Erblina aus der 9 G und ich will Schülersprecherin werden, weil ich Probleme lösen will und für jeden ein offenes Ohr hab.“
Bevor abgestimmt wird, geht die Sozialarbeiterin Lisa Gröger, die an der Schule ein Projekt zur Demokratieförderung betreut, noch einmal die Wahlrechtsgrundsätze durch. „Du musst niemandem sagen, wen du auf den Zettel schreibst“, sagt Gröger. Und dass sie nur einen Namen notieren dürfen. Dann fragt ein Mädchen aus der siebten Klasse, welche Aufgaben Schülersprecher überhaupt hätten. Gute Frage: „Na, wenn die Klassensprecher die Interessen einer Klasse vertreten, vertreten die Schülersprecher die Interessen aller Schüler“, sagt Christine Thorwarth.

Alexia

Eine, die diese Aufgaben schon kennt, ist Alexia Timeea. Seit vergangenen Oktober ist Alexia, lange, ordentlich gekämmte dunkelbraune Haare, Schülersprecherin an der Eduard-Spranger-Mittelschule. In ihrem schwarzen Stoffmantel mit großer Knopfleiste ist sie angezogen wie eine Erwachsene. Sie ist 16. Gemeinsam mit ihren Eltern kam sie im Alter von acht Jahren aus Rumänien nach Deutschland. Wenn sie über die Schüler an ihrer Schule spricht, springt sie in eine Art Mediatorrolle. „Die Schüler könnten mehr Respekt haben, untereinander, aber vor allem gegenüber den Lehrern“, sagt Alexia.
Wie sie das als Schülersprecherin erreichen will? Sie will den Lehrern Rollenspiele vorschlagen. „Ich glaub, das ist gut, dass man lernt, warum jeder Respekt verdient“, sagt die Schülerin mit der hellen, freundlichen Stimme. So sollten Lehrer Schüler, die Probleme zu Hause haben und sich dann aber in der Schule laut oder aggressiv reagieren, besser verstehen. Und umgekehrt: Schüler sollten merken, dass es nicht leicht ist, vor so einer Klasse zu stehen. Aber damit wird auch klar, dass Alexia ihr Amt weniger als klassische Interessenvertretung der Schülerschaft sieht, sondern eher als Streitschlichterin oder Kummerkasten. „Es kommen oft Schüler zu mir, die Streit haben“, sagt die 16-Jährige. Aber es ginge auch um Themen wie die erste Periode oder Konflikte im Elternhaus.

Das Schulhaus ist jetzt voll und belebt. In der Pandemie waren Kinder aus einkommensschwachen Familien den größten Belastungen ausgesetzt, aber die öffentliche Aufmerksamkeit galt überwiegend den Abiturienten und ihren ausfallenden Abschlussbällen. Selten gaben Medien Einblicke, wie Kinder den Lockdown in zubetonierten Hochhaussiedlungen erleben. Wie sie ihr Zimmer mit Geschwistern teilen. Mit Eltern, die nicht im Homeoffice sind, sondern abends von ihren Jobs als Pflegekraft oder von Baustellen nach Hause kommen. Die Lobby von Kindern und Jugendlichen ist sowieso klein. Als die Schulschließungen zu lange andauerten, war es Dario Schramm, ehemaliger Generalsekretär der Bundesschülerkonferenz, aber auch er ein Abiturient, der mehrfach mehr Unterstützung für Kinder aus finanziell benachteiligten Familien forderte. Passiert ist aber nicht viel. „Bei uns hatten von 500 Schülern zu Beginn der Pandemie 250 noch kein Endgerät für den Digitalunterricht“, sagt Florian Schmidt, Schulleiter der Eduard-Spranger-Mittelschule, in seinem Büro. Ein Riesenhandicap schon zu Beginn, um dann sechs Monate Distanzunterricht zu überstehen. Die Stadt habe zwar schnell Geld bereitgestellt, sagt der junge Schulleiter, der eine dunkelblaue Weste zu weißen Sneakern trägt, aber bis alle Schüler ein Tablet hatten, habe es eineinhalb Jahre gedauert.

95 Prozent der Kinder an seiner Schule haben einen Migrationshintergrund. Viele Kinder sind tagsüber allein zu Hause. Wie in vielen sozialen Fragen ist die Pandemie Verstärker und Kontrastmittel zugleich. Verstärker, weil Kinder aus benachteiligten Familien auch am Vormittag mit schlechteren Lernbedingungen zurechtkommen mussten, in engen Wohnungen und zum Teil ohne eigenen Arbeitsplatz. Und Kontrastmittel, weil in der Pandemie erst klar wurde, wie ungleich die Verhältnisse, konzentriert lernen zu können, zu Hause sind. Wie an anderen Schulen auch sitzen die Schülersprecher in der Eduard-Spranger-Schule neben den Elternvertretern, dem Träger und Schulleiter Florian Schmidt und seiner Konrektorin im Schulforum. Ein Gremium, in dem Entscheidungen rund um das Schulleben beraten werden. „Beim nächsten Treffen mit den drei Schülersprechern erarbeiten wir, welche Themen sie im Schulforum besprechen wollen“, sagt Christine Thorwarth. Wenn sie von den Schülersprechern spricht, benutzt Christine Thorwarth auffällig häufig das Wörtchen „wir“. – „Es ist jetzt nicht so, dass sie sich auch ohne uns treffen würden“, sagt Thorwarth. Es brauche den Rahmen und die Impulse von außen bei gemeinsamen SMV-Treffen. Viele ihrer Schüler hätten von zuhause nicht das Selbstvertrauen mitbekommen, dass auch ihre Meinung relevant ist. Gerade Mittelschulen sind die einzige Schulart, an der die Schülermitverwaltung, SMV, kein Anrecht auf einen eigenen Raum im Schulgebäude hat, an Gymnasien ist es Pflicht. Vielleicht würden sich die Schüler treffen, wenn es einen Rückzugsraum gäbe, sagt die Vertrauenslehrerin. Thorwarth will sich dafür einsetzen, dass sich das ändert. In diesem Jahr beginnen die Bauarbeiten für einen Neubau. Aber was ist mit den Forderungen, die über die eigenen Schulmauern hinausreichen, wie nach einer besseren Ausstattung, mehr Lehrkräften oder eben einem SMV-Zimmer?

Ein Anruf zu Geschäftszeiten im Büro der Stadtschüler*innen-Vertretung an einem Donnerstagabend. Hier trifft sich der Vorstand der Schülersprecher sechs unterschiedlicher Schularten. 18 Schüler wurden in den Vorstand gewählt. Sie werden in Stadtausschüssen gehört und stehen im Kontakt mit kommunalen Politikern und dem Bildungsreferat. Am Telefon drei sprudelige, jugendliche Stimmen. „So viele Baustellen gleichzeitig wie in der Pandemie hatten wir noch nie“, sagt Carolin Fermum vom Bertolt-Brecht-Gymnasium in Pasing. Wer die Vorstellung hatte, dass die meisten Lehrer Videoschulstunden gegeben haben, der irrt. „Das gab es schon, aber ganz viele haben einfach nur Aufgaben und Lösungen auf der Lernplattform hochgeladen, und manchmal hat man auch ewig gar nichts gehört“, sagt Fermum. Die Tagesstruktur fehlte. Die sechs Monate ohne Klassenzimmer klingen in ihrer Beschreibung wie eine Mischung aus ständiger Überforderung und Motivationstief. „Bei uns in der Stufe sprechen mittlerweile die Hälfte über Depressionen“, sagt eine andere Schülersprecherin. Darunter sogar Einzelne, die Suizidgedanken geäußert hätten. Und das auf einem gewöhnlichen städtischen Gymnasium. Schüler, Lehrer, ja das ganze System Schule sei ausgezehrt. Die Lernrückstände der Schüler seien groß und enorm unterschiedlich. Carolin Fermum und die anderen Schülersprecher wissen, dass es die Mehrheit der Gymnasiasten vergleichsweise gut hatte. Aber auch ihr Gremium hat ein Problem mit der Repräsentation:
Nur eines von 18 Vorstandsmitgliedern ist Mittelschüler. Das sei aber garantiert keine Absicht, sagt Dominik Sell, der die Schülersprecher in seinem Freiwilligen Sozialen Jahr bei der Arbeit unterstützt. „Es kommen zu wenige Mittelschüler zu den Stadtschulkonferenzen, zu denen wir regelmäßig einladen“, sagt Sell. Er könne sich vorstellen, dass die Information in Mittelschulen nicht so zuverlässig weitergeleitet würde.
Draußen im Hasenbergl vermutet Vertrauenslehrerin Christine Thorwarth zunächst andere Gründe: „Das hat auch etwas mit dem Selbstverständnis unserer Schüler zu tun“, sagt sie. Die Schüler fühlten sich nicht wohl bei solchen Terminen, weil sie sich nicht auf Augenhöhe mit Schülersprechern von Gymnasien und Realschulen sehen. „Das kommt auch von der Ausgrenzung, die sie sonst erfahren, und davon, dass sie mit ihrem Aussehen, ihrer Sprache und Herkunft schnell in Schubladen einsortiert werden.“
Es gibt immer die, die sich anderen überlegen fühlen. Einige Schüler der Hasenbergler Mittelschule haben das erfahren, als ein paar Klassenzimmer wegen Bauarbeiten vorübergehend bei einem benachbarten Gymnasium untergebracht wurden. Alexias Klasse war auch dabei. „Die haben uns beschimpft und gesagt, dass wir ihr ganzes Schulhaus kaputtmachen würden“, sagt die 16-Jährige. Es seien aber hauptsächlich jüngere Schüler gewesen.

Im Atrium geht es jetzt weiter mit der Schülersprecherwahl. Christine Thorwarth ist keine Lehrerin mit Von-oben-herab-Attitüde, im Gegenteil. Sie gibt ruhig und wertschätzend die Regieanweisungen, ermuntert immer wieder Schüler, sich noch aufstellen zu lassen. Es geht ihr mit der SMV-Arbeit nicht um Schulfeste oder die Rosenaktion zum Valentinstag. Thorwarth will bis zu ihrem Selbstbild vordringen und Schülern beibringen, für ihre Anliegen einzustehen. „Und nicht immer alles als gegeben hinzunehmen.“
Die Wahlzettel werden eingesammelt. Susann, künstliche Nägel, lange blonde Haare, meldet sich zum Auszählen. Stoisch faltet sie Zettel für Zettel auf, liest monoton Namen ab. Das Mädchen neben ihr macht Striche auf dem Flipchart. Sie verteilen sich erst bunt auf der Liste, dann häufen sie sich bei einem Namen. Der erste Junge, der sich getraut hat, vorzusprechen, entscheidet die Wahl für sich. Er reckt den Arm zu einer Gewinnerfaust in die Luft. „Ich bin mir sicher, dass du dieses Amt verantwortungsbewusst ausführen wirst“, sagt Thorwarth ins Mikrofon auf der Bühne.

Dann Tagesordnung: Es gibt eine kurze Diskussion zum Pausenverkauf, der für die Schüler aus dem anderen Gebäude in der Pause schlecht zu erreichen ist. Thorwarth nimmt das Anliegen auf, will nachfragen, ob es möglich ist, früh eine Bestellliste zu machen. Es sind die kleinen Fragen, die Schüler stören, die großen sehen sie nicht, auch weil sie den Vergleich zu anderen Schulhäusern, Wohnungen, Vierteln noch nicht so vor Augen haben. Aber je intensiver man fragt, desto eher erfährt man von Alexia, dass sie sich Schule schon auch manchmal anders vorstellt: Neben dem „harten Stoff “ käme etwas zu kurz, sagt die 16-Jährige: „Ich glaube, was fehlt, ist mehr Zeit, wo es darum geht, uns als Person zu entfalten.“ Sie wünscht sich, dass Lehrerinnen und Lehrer, gerade nach der langen Zeit im Distanzunterricht, mehr mit ihnen darüber sprechen, wie es ihnen geht, wie ihre Zukunft aussehen könnte.