
ROBERT BREMBECK
Oberbürgermeister Dieter Reiter im Gespräch mit MARGIT ROTH und RAINER STADLER
BISS: Bei unserem letzten Gespräch vor zwei Jahren waren Sie sehr optimistisch, der Stadt ging es finanziell blendend. „Wir kaufen uns die Stadt zurück“, sagten Sie und wollten bis 2030 einen Bestand von 100.000 Wohnungen erreichen. Das war vor Corona. Ist das Ziel noch realistisch?
DIETER REITER: Zwischendurch sah die Finanzlage aufgrund der Pandemie sehr schlecht aus, wir hatten eine halbe Milliarde Minus zu erwarten. Inzwischen sind die Aussichten wieder besser. Die Stadt besitzt bereits rund 70.000 Wohnungen, auch weil wir nie Wohnungen verkauft haben. Dazu kommen die bestehenden Genossenschaftswohnungen und die aus jenen Genossenschaften, die hoffentlich noch gegründet werden, denn sie bauen beispielsweise auf städtischen Grundstücken langfristig bezahlbare Wohnungen. Insofern zähle ich diese Wohnungen dazu. Darüber hinaus müssen wir die Werkswohnungen der Post- und Eisenbahngenossenschaften retten. Dazu bin ich gerade mit Berlin im Gespräch.
Worum geht es dabei?
In den vergangenen Jahren war es so, dass der Bund Wohnungen, die aus der Bindung gelaufen sind, verkauft hat. Viele der Menschen, die bisher in diesen Wohnungen gelebt haben, waren gezwungen, die Stadt zu verlassen. Wir können in Erhaltungssatzungsgebieten versuchen, Wohnungen über das Vorkaufsrecht zu kaufen. Das haben wir in München in den vergangenen Jahren auch oft getan. Diese Möglichkeit wurde uns jetzt genommen.
Sie sprechen das Urteil des Bundesverwaltungsgerichts in Leipzig an, das die Rechte der Kommunen stark eingeschränkt hat. Was bedeutet das für München?
2020 haben wir 285 Wohnungen gekauft und dafür 143 Millionen Euro ausgegeben. Das sind rund 500.000 Euro pro Wohnung, um die Menschen vor Luxussanierungen und unbezahlbaren Mieten zu retten. Nicht jede dieser Wohnungen war das Geld noch wert. Geschäft ist das für uns keines, aber wir machen es trotzdem.
Ist es den Aufwand wert? Sie helfen damit höchstens ein paar Hundert Mieterinnen und Mietern.
Die1.000 bis 1.500 Mieterinnen und Mieter sehen das sicher so.
Und wie viele stehen dann vor Ihnen und fragen: Wieso rettet ihr mich nicht?
Das verstehe ich natürlich. Wir haben fast alle Vorkaufsrechte, die wir ausüben konnten, auch ausgeübt. Außer – und jetzt wird’s kompliziert – wenn der Verkäufer vorher eine Abwendungserklärung abgegeben hat. Damit unterwirft er sich unseren Vorschriften, wie: keine Mieterhöhungen in den kommenden Jahren, keine Umwandlung von Miet- in Eigentumswohnungen, frei werdende Wohnungen dürfen nur mit förderberechtigten Mietparteien belegt werden. Damit sind wir auch schon zufrieden. Grundsätzlich gibt es sehr wenige Mieterschutzinstrumente für eine Stadt wie München. Wir sind an das Bundesrecht gebunden. Jeder Vermieter kann bei Erstvermietungen im Grunde verlangen, was er will. Immerhin gibt es inzwischen eine Mietpreisbremse bei Wiedervermietungen. Bei bestehenden Mietverhältnissen darf die Miete maximal 15 Prozent innerhalb von drei Jahren erhöht werden und dabei den Mietspiegel nicht überschreiten. Ich hätte schon gerne ein Mietmoratorium für fünf Jahre und danach eine an die Preissteigerungsrate gebundene Mieterhöhung. Jedenfalls keine Sprünge mehr von 30, 50 oder 70 Prozent und keine Luxussanierungen. Das müssten wir als Stadt alles verhindern können, können es aber nicht.
Wie viele Eigentümer haben denn eine Abwendungserklärung unterschrieben?
Seit 2018 wurden durch Abwendungserklärungen 504 Wohnungen und damit deren Mieter und Mieterinnen geschützt. Im gleichen Zeitraum hat die Stadt zusätzlich 841 Wohnungen durch Vorkaufsrecht erworben.
Wenn die Stadt aktiv auf dem Markt mitwirkt und Wohnungen kauft, trägt sie dann nicht auch dazu bei, dass die Preise weiter steigen?
Wir können uns nicht immer sicher sein, ob der zwischen dem Verkäufer und Käufer vereinbarte Preis realistisch ist. Wenn wir uns entschließen, einzusteigen, und es sich nicht um Privatpersonen handelt, schauen wir ganz genau nach, welche Querverbindungen zwischen den Parteien bestehen. Wir passen gut auf, ob uns da vielleicht jemand über den Tisch ziehen will, und lassen unser Bewertungsamt ermitteln, welcher Kaufpreis objektiv angemessen wäre. In einem Fall haben wir sogar versucht, einen gedeckelten Kaufpreis durchzusetzen. Und man muss natürlich feststellen, dass es sich dabei ja doch um einen Eingriff ins Eigentumsrecht handelt.
Das wäre mal eine Schlagzeile: Enteignungen in München!
Mir würde es schon reichen, wenn wir nicht mehr zahlen müssten, als die Wohnungen wirklich wert sind.
Wäre es nicht sinnvoller, das Geld in Mietzuschüsse zu stecken, wie die FDP vorschlägt?
Meine politische Meinung ist, dass die FDP damit durchsetzen will, dass jede Mieterhöhung geht. Wenn der Mieter die Erhöhung selbst nicht mehr zahlen kann, springt die Stadt ein. Der Vermieter bekommt sein Geld in jedem Fall. Dem Mieter kann es auch egal sein – wir zahlen’s ja. Das würde die Preise natürlich noch mehr in die Höhe treiben.
Treibt nicht jede Maßnahme in München den Mietpreis ein bisschen nach oben?
Wenn wir unser Vorkaufsrecht ausüben oder eine Abwendungserklärung unterschrieben wird, passiert das genau nicht. Die Mieten bleiben stabil. Aber auf dem Wohnungsmarkt insgesamt sieht das anders aus. Wir müssten so viele Wohnungen bauen, bis der Bedarf gesättigt ist. Aber das haben wir nicht im Kreuz. Das kann keine Stadt. Wir haben aktuell 8.000 Menschen, die als wohnungslos gelten, die also keinen passenden Wohnraum haben. Gebaut wurden in der Stadt in den vergangenen Jahren knapp 8.000 Wohnungen jährlich. Wir bau – en, so viel es geht. Neben den Wohnungsbaugesellschaften haben wir mit der sogenannten SoBoN, der Sozialgerechten Bodennutzung, ein Instrument geschaffen, mit dem wir auch private Investoren verpflichten können, bezahl – baren Wohnraum zu schaffen. Wenn die Stadt neues Baurecht schafft, dann müssen nach dem Grundmodell der neuen SoBoN auch auf privatem Grund mindestens 60 Prozent der Wohnungen im geförderten und preisgebundenen Segment sein und weitere 20 Prozent müssen Mietwohnungen sein – und beides mit einer Bindung von 40 Jahren. Manche Investoren drohen deswegen damit, in München nicht mehr zu bauen. Aber das erschreckt mich nicht wirklich. Denn die Renditen sind in München immer noch deutlich höher als etwa in der Uckermark.
Ihr Vorgänger Christian Ude klagte immer, dass er mit seinen Münchner Wohnungsproblemen in Berlin wenig Gehör finde. Hat sich das geändert?
Mit der neuen Bundesregierung habe ich in den vergangenen sechs Wochen mehr über das Thema gesprochen als mit den vorherigen in den sechs Jahren davor. Ich bin mit Klara Geywitz, der Bundesbauministerin, im intensiven Austausch. Wenn wir jetzt den Mieterschutz nicht durchbringen, mit einem sozialdemokratischen Bundeskanzler und einer sozialdemokratisch geführten Bundesregierung, nur weil der kleinste Koalitionspartner sich querstellt, dann kann ich als Sozialdemokrat einpacken.
Haben Sie nicht auch das Problem, dass sich das CSU-regierte Bayern querstellt?
Dann muss der Bund halt seine Gesetze ändern. Ich kann einfach nicht nachvollziehen, warum die bayerische Staatsregierung nicht verstehen will, dass wir hier einen angespannten Wohnungsmarkt haben. Das sehen übrigens auch die CSU-Bürgermeister in Augsburg und Nürnberg so.
Was ist eigentlich mit den Tausenden Wohnungen, die in München leer stehen?
Da greift das Zweckentfremdungsrecht. Eine Wohnung muss allerdings länger als drei Monate wirklich leer stehen, bevor wir eingreifen können.
Wie lässt sich das nachweisen?
Eigentlich nur, wenn ein Nachbar im Sozialreferat anruft. Dann wird das geprüft. Das ist allerdings nicht so einfach. Es gilt ja das Recht auf Unverletzlichkeit der Wohnung. Gelingt es, den Verdacht zu belegen, können Zwangsgelder fällig werden. Das passiert in München jährlich in 350 bis 400 Fällen. Aber gegen sogenannte Opernwohnungen, also einfach nur selten genutzte Wohnungen, können wir nichts machen.
Haben Sie das Problem auch in den städtischen Wohnungen?
Da haben wir den Leerstand auf ein absolutes Minimum reduziert und dokumentieren immer genau, warum eine Wohnung wie lange leer steht, etwa weil es einen Mieterwechsel gibt oder Sanierungs- bzw. Umbaumaßnahmen anstehen.
In Berlin sind die Menschen aufmüpfiger als hier und gehen auf die Straße oder besetzen Häuser. In München ergeben sich Mieterinnen und Mieter ihrem Schicksal, selten kommt es zu größeren Protesten gegen hohe Mieten. Warum nicht?
Ich glaube, alle, die hierherziehen, wissen, wie die Wohnungssituation ist. Und die, die schon hier leben und vielleicht noch eine bezahlbare Wohnung haben, sagen: Das ist in München schon seit dem Krieg so. Die Menschen haben sich mehr oder weniger damit abgefunden, dass der Anteil vom Einkommen für Miete immer höher wird. Es waren einmal 20 Prozent. Mittlerweile sind viele froh, wenn sie nicht mehr als 50 Prozent zahlen.
Vor Kurzem ging durch die Presse, dass ein Investor acht Millionen Euro für einen Acker im Norden von München zahlen will. Was denken Sie, wenn Sie das lesen?
Ich möchte nicht wissen, wie viele Optionsverträge es zwischen Landwirten und Investoren gibt. Nach dem Muster: Ich zahle dir jetzt eine halbe Million. Wenn gebaut werden darf, verkaufst du mir das Grundstück. Die Rechnung geht ja auch auf: Irgendwann werden die Äcker zu Bauland erklärt und die Hasardeure profitieren.
Hans-Jochen Vogel, der frühere OB von München, sprach von „leistungslosem Wertgewinn“.
Ja, und richtig wäre, diesen Gewinn der Allgemeinheit zukommen zu lassen. So steht es in der Bayerischen Verfassung. Das Grundstück ist ja nur deshalb so viel wert, weil die Stadt Milliarden für die Infrastruktur ausgibt, für Schulen, Kultur und öffentlichen Nahverkehr. Es müssen ja nicht 100 Prozent sein. Aber einen nennenswerten Teil sollte die Stadt schon zurückbekommen, um das Geld in neue Infrastrukturprojekte und den Wohnungsbau zu investieren. Die Diskussion gibt es schon ewig, aber niemand hat es geschafft, das auch umzusetzen. Nicht einmal Hans-Jochen Vogel.
Bauen ist das eine. Aber wie viel Platz gibt es eigentlich noch in München?
Laut Schätzungen reicht er noch für 40.000 bis 60.000 Wohnungen. Deshalb wird sich auch im Umland das Thema Nachverdichtung stellen. Ich bin seit acht Jahren mit den Umlandbürgermeistern im Gespräch, aber deren Interesse ist überschaubar. Ihre Wähler wollen ein beschauliches Eigenheim mit Garten und keine Geschosswohnungen, die womöglich noch die Aussicht verschandeln.
Muss die Stadt vielleicht doch in die Höhe wachsen, wie immer wieder gefordert wird?
Die Hochhausdebatte ist völlig skurril, weil man glaubt, damit das Wohnungsproblem lösen zu können. Aber Wohnungen in Wolkenkratzern sind meistens sündteuer.
Wie es scheint, haben zwei Jahre Pandemie nichts daran geändert: Wohnen ist weiter das drängendste Problem in München.
Leider. Das soziale Problem dieser Stadt heißt Mieten und Wohnen. Wenn wir weiterhin ein München haben wollen, wo sich die Menschen wiederfinden und die angestammte Bevölkerung nicht irgendwann gezwungen ist, wegzuziehen oder in Notunterkünfte oder gar auf die Straße auszuweichen, dann muss jetzt etwas passieren. Es ist zwar schön, wenn wir 5.000 Ingenieursarbeitsplätze bekommen, das bedeutet sichere Jobs für gut ausgebildete Menschen. Aber unsere Aufmerksamkeit muss vor allem den Menschen gelten, deren Miete 70 Prozent der Rente frisst und die ab Mitte des Monats nicht mehr wissen, wovon sie leben sollen. Die Schlangen an den Tafeln werden immer länger.
Das bringt uns zu einem anderen Punkt. Die SPD tritt nicht nur gegen die Wohnungsnot an, sie hat auch angekündigt, Hartz IV überwinden zu wollen. Wie stehen Sie zum Bürgergeld?
Aus meiner Sicht ist das eine gute Idee. Es gibt zwar noch ein paar Unklarheiten, was weiterhin aus unserem öffentlichen Haushalt zu zahlen sein wird, etwa die Kosten für Miete oder eine Unterkunft. Aber grundsätzlich bin ich für ein Instrument, das dieses Hartz-IV-Thema endlich beendet. Bis es so weit ist, könnte man wenigstens die Regelsätze erhöhen. Es ärgert mich sehr, dass wir in München nicht einfach einen Zuschlag gewähren dürfen.
Die Stadt darf bei Hartz IV nicht aufstocken?
Nur in ganz engen Grenzen. Obwohl wir hier in München in einer Sondersituation sind und es sich die Stadt auch leisten würde, dürfen wir es nicht.
Erwarten Sie durch die neue Regierung Änderungen?
Unsere Sozialreferentin ist im Deutschen Städtetag sehr aktiv und versucht auf diesem Weg, auf die Bundesregierung einzuwirken. Auch bei diesem Thema bin ich der Meinung: Wenn es die Sozialdemokraten mit den Grünen nicht schaffen, das zu ändern, dann weiß ich nicht, wer es schafft. Genauso wichtig: Wir haben in München ganz viele Kinder in Armut. Das kann ich in einer so reichen Stadt wie München nicht akzeptieren. Eine Kindergrundsicherung ist überfällig.
Macht es Sie nicht manchmal mürbe, dass so viel im Argen liegt? Und dass es so lange dauert, bis sich etwas verbessert?
Die neue Regierung ist gerade ein paar Monate im Amt. Da hat sich viel aufgestaut und zudem gibt es ja auch noch die Pandemie. Aber wenn sich in zwei, drei Jahren im Sozialbereich nichts geändert haben sollte, wenn wir das mit den Mieten nicht hinkriegen, dann wüsste ich nicht mehr, warum ich für die SPD die Werbetrommel schlagen sollte. Es gibt aber schon Erfolge. Der Mindestlohn ist trotz der ewigen Bedenken der FDP von 9,35 Euro auf 12 Euro angehoben worden.
Von ganz wenig auf ein bisschen mehr.
Immerhin.Schwierig finde ich die Sache mit den Minijobs: Mit der Erhöhung des Verdienstes von 450 auf 520 Euro, der nun monatlich zugelassen ist, werden noch mehr reguläre Arbeitsverhältnisse verloren gehen. In den meisten Fällen trifft das Frauen. Sie zahlen dann nichts in die Rente und sind noch mehr von Altersarmut bedroht.
Die Frage ist ja, was Sie diesen Entwicklungen entgegensetzen können, die oft auf Landes- oder Bundesebene verursacht werden?
Nehmen Sie unsere Altenservice-Zentren: Wir haben jetzt schon 30 und bauen zehn weitere. Diese Begegnungsstätten ermöglichen alten Menschen nicht nur soziale Kontakte, sie bekommen dort auch ein kostenloses Mittagessen ausgegeben. So etwas kann man nur tun, wenn man Oberbürger[1]meister einer Stadt ist. Und ich habe für die Wohnungen der städtischen Gesellschaften einen Mietdeckel durchgesetzt. Ich erlebe schon auch Erfolge. Und das motiviert mich natürlich weiterzumachen.