Wenn das System behindert

Ein Gespräch mit Oswald Utz, dem ehrenamtlichen Behindertenbeauftragten der Stadt München, über neoliberale Strukturen, Unternehmensvorteile und Parallelwelten.

INTERVIEW
Von
STEPHANIE STEIDL

Foto: privat

Reformieren oder abschaffen – in welche Richtung sollten sich die Werkstätten Ihrer Meinung nach entwickeln?
Das Thema ist komplex, aber die eigentlich spannende Frage lautet: Passen neoliberaler Arbeitsmarkt und Menschen mit Behinderungen überhaupt zusammen? Denn in unserem System scheitern immer mehr Menschen und werden aussortiert – nicht nur solche mit Behinderungen, sondern auch Ältere, Menschen mit niedrigerem Bildungsabschluss oder mit längeren Familienzeiten. Auch ich würde die Werkstätten gern abschaffen. Aber wohin dann mit diesen Menschen? Seien wir ehrlich: Auf dem Arbeitsmarkt, wie er aktuell beschaffen ist, haben viele von ihnen keine Chance.

Also bleibt vorerst nur eine Reform.
Das System der Werkstätten ist extrem verlogen. Eigentlich sollte es fit machen für den ersten Arbeitsmarkt. Aber das passiert so gut wie gar nicht.

Verhindern Werkstätten in ihrer jetzigen Struktur die Teilhabe am ersten Arbeitsmarkt?
Unternehmen müssen eine Ausgleichsabgabe zahlen, wenn sie nicht genügend Menschen mit Behinderungen beschäftigen. Aber wenn sie Leistungen in einer Werkstatt einkaufen, können sie die Ausgleichsabgabe gegenrechnen. Und sie erhalten weitere Vergünstigungen wie zum Beispiel einen reduzierten Mehrwertsteuersatz. Warum also sollte ein Unternehmen Menschen mit Behinderungen einstellen, wenn es über den Weg Werkstatt viel einfacher und günstiger geht? Und warum sollte die Werkstatt ihre Beschäftigten weitervermitteln, wenn sie innerhalb ihrer eigenen Struktur viel mehr von ihnen profitiert? Also ja, die Teilhabe wird durch dieses System erschwert.

Warum wird von politischer Seite so wenig Druck ausgeübt? Manchmal kommt mir das vor wie eine stillschweigende Übereinkunft: Die Werkstätten werden üppig gefördert und als Gegenleistung schaffen sie eine Parallelwelt für Menschen mit Behinderungen. Dort sind diese dann versorgt und aufgeräumt und fallen der Öffentlichkeit und den Behörden nicht weiter zur Last.


Können Sie Werkstätten auch etwas Positives abgewinnen?
Selbstverständlich. Es gibt Menschen, die sich dort sehr aufgehoben fühlen: weil kein Druck ausgeübt wird, weil sie ihren Therapien nachgehen können, weil sie dort ihr soziales Umfeld haben. Für sie ist der Schutzraum Werkstatt gut und passend. Das darf man ihnen auch nicht wegnehmen, das wäre geradezu fahrlässig. Perspektivisch müsste es aber darum gehen, dass keine neuen Beschäftigten in die Werkstätten nachrücken, sondern Alternativen für eine echte Teilhabe gefunden werden.