„We don’t need no education? – Yes, we do!“

Text  MARGIT ROTH
Mzoxolo Mtila steht in seiner blauen Weste vor der Cape Peninsula University of Technology in Kapstadt. Seit einem Jahr verkauft er hier die „The Big Issue South Africa“. Er hofft, dass vielleicht auch seine Kinder irgendwann zu den Menschen gehören, die durch die Tür der Universität gehen können, und nicht mehr davorstehen müssen. Die Chancen dafür, und das weiß auch Mzoxolo Mtila, stehen in Südafrika auch mehr als 20 Jahre nach Ende der Apartheid schlecht. Seine Familie lebt in Centani, einem Dorf am Eastern Cape, irgendwo zwischen Port Elizabeth und Durban. Mzoxolo Mtila hat dort als Tankwart gearbeitet und hat versucht, mit seinem Gehalt seine Familie zu ernähren.

Ein Tankwart verdient in Südafrika durchschnittlich 4.000 Rand, also 280 Euro im Monat. Mit Glück und Trinkgeld werden daraus 300 Euro, mehr jedoch nicht. In einem Land, in dem das Preisniveau kaum unter dem Deutschlands liegt, ist das zu wenig zum Leben, vor allen Dingen aber auch viel zu wenig, um den Kindern eine gute Schulausbildung zu ermöglichen. Gute Bildung ist in Südafrika trotz Schulpflicht teuer, nur wenige Schwarze und Farbige können sich eine Schule, die über die kostenlose Grundversorgung hinausgeht, leisten. An Privatschulen belaufen sich die Schulgebühren auf 30.000 bis 70.000 Rand im Jahr, wer anschließend studieren möchte, muss noch einmal mit Kosten von 42.000 bis 70.000 Rand, also ca. 3.000 bis 5.000 Euro jährlich rechnen. Mit den 4.000 Rand im Monat, was dem südafrikanischen Durchschnittseinkommen entspricht, müsste Mzoxolo Mtila sein Jahresgehalt einsetzen, um die Studiengebühren wenigstens eines Kindes bezahlen zu können. So ist es nicht verwunderlich, dass trotz der in der Verfassung garantierten völligen Gleichstellung nur 17 % der Schwarzen eine Universität besuchen können, dafür aber 50 % der Weißen. Von diesen 17 %, die es überhaupt auf die Uni schaffen, brechen 60 % das Studium wieder ab, weil sie sich die Gebühren nicht mehr leisten können. Die Folge: Fast 50 % der jungen Menschen in Südafrika zwischen 18 und 25 Jahren sind arbeitslos und damit völlig mittellos. Sozialhilfe gibt es in Südafrika nur für Kinder, Rentner und Behinderte, Arbeitslosengeld nur die ersten 3 Monate der Arbeitslosigkeit. Wer erwachsen ist und in Not gerät, muss sich selbst einen Ausweg suchen – nicht wenige wählen als Ausweg den Schritt in die Kriminalität. Kapstadt zählt zu den 10 gefährlichsten Städten der Welt – wer etwas hat, schützt es mit Stacheldraht und zur Not auch Waffengewalt; wer nichts hat, versucht wenigstens, ein kleines Stück vom Kuchen abzubekommen. Wenn man vom Kap der guten Hoffnung nach Kapstadt fährt, bekommt man einen Eindruck von der Ungleichheit im Land. Am Stadtrand riesige Townships. Wellblechhütten, sogenannte Shaks, für die Ärmsten der Armen, einfache Steinhäuser für diejenigen, die sich schon etwas mehr leisten können. Wenige Kilometer davon entfernt liegt Camps Bay am Fuße der Tafelberge, direkt am Atlantik. Hier leben die Reichen in protzigen, streng bewachten Villen, in den Garagen stehen schicke Autos. Diese eklatante Ungleichheit lässt sich mithilfe des Gini-Index in Zahlen ausdrücken. Der Gini-Koeffizient wird genutzt, um die Vermögensverteilung in Ländern darzustellen. Ein Wert von null würde völlige Gleichheit bedeuten – eins eine maximale Ungleichheit. Südafrika hat einen Wert von 0,62 und nimmt damit einen der letzten Plätze im Ranking ein, Deutschland hat im Vergleich dazu einen Wert von 0,27. Dass sich die Misere, in der sie leben, durch einen Index ausdrücken lässt, davon wissen die „The Big Issue“-Verkäufer wahrscheinlich nichts. Was sie jedoch jeden Tag zu spüren bekommen, ist die Ungleichheit in ihrem von der Apartheid befreiten Land. Was sie erleben, ist die lähmende Aussichtslosigkeit, dieser Situation jemals zu entkommen.
Ausnahmslos alle Verkäufer leben in einer der Townships rund um Kapstadt. Keinem ist es bislang gelungen, den Sprung aus der Township zu schaffen und in die Stadt zu ziehen. Unter den Verkäufern gibt es keine Weißen – 95 % sind schwarz, die restlichen 5 % farbig. Anders als in vielen westlichen Ländern, sind in Südafrika fast die Hälfte der Verkäufer Frauen, die meisten alleinerziehend oder verwitwet. Bei einer durchschnittlichen Lebenserwartung von 55 Jahren sterben viele Männer, die bis dahin die Familie versorgten, bevor die Kinder erwachsen sind. Über 5 Millionen Südafrikaner, also fast 10 % der Bevölkerung, sind mit HIV infiziert, fast 140.000 allein 2014 an Aids gestorben. Ein weiterer Faktor, der den Weg aus der Armut erschwert, ist die Sprachenvielfalt Südafrikas. Viele „The Big Issue“- Verkäufer sprechen nur iXhosa – eine der 11 Amtssprachen Südafrikas. Auch wenn iXhosa zu den offiziellen Sprachen gehört – besser bezahlte Jobs gibt es nur für diejenigen, die Englisch beherrschen. In den Townships wird Englisch zwar als Fremdsprache unterrichtet. In Klassen mit bis zu 50 Schülern und Lehrern, die nicht über die nötige Qualifikation verfügen, reicht es auch nach 9 Jahren Schule nur für das Allernötigste. Für viele „The Big Issue“- Verkäufer bedeutet das, dass sie kaum in der Lage sind, mit ihren zumeist weißen Kunden zu sprechen, während sie die Zeitung verkaufen. Das, was auf der Schule versäumt wurde, lässt sich zwar kaum nachholen – ehrenamtliche Englischlehrer versuchen aber, mit denjenigen, die daran interessiert sind, einfache Sätze einzuüben. Mzoxolo Mtila hat Glück, er spricht ein wenig Englisch und kann sich an seinem sicheren Standplatz vor der Uni mit den vorbeikommenden Kunden unterhalten. Andere Verkäufer haben einen weniger gemütlichen Arbeitsplatz. In Kapstadt sind „The Big Issue“-Verkäufer nur an wenigen öffentlichen Orten geduldet. Vor den großen Einkaufszentren wie der Victoria & Alfred Mall an der Waterfront dürfen sie nicht stehen, auch an anderen öffentlichen Plätzen ist das Verkaufen verboten. Vielen Verkäufern bleibt deshalb nichts anderes übrig, als sich todesmutig in den Straßenverkehr zu stürzen und während der Rotphasen ihre Hefte den wartenden Autofahrern anzubieten. 30 Sekunden – dann springt die Ampel wieder um. Die eingeschränkten Verkaufsmöglichkeiten sind ein Grund dafür, dass sich von der „The Big Issue South Africa“, obwohl sie die einzige Straßenzeitung auf dem Kontinent ist, selten mehr als 15.000 Exemplare im Monat verkaufen lassen. Zusammen mit den wenigen Anzeigenkunden, die in der „The Big Issue“ inserieren, steht das Magazin auch 20 Jahre nach seiner Gründung immer wieder vor großen finanziellen Herausforderungen. Mzoxolo Mtila hofft, dass er die „The Big Issue“ auch in den nächsten Jahren noch verkaufen kann, um seinen Kindern eine bessere Bildung zu ermöglichen, ja vielleicht sogar seine Familie nach Kapstadt nachholen zu können. „Ich wünsche mir sehr, dass sich meine Kinder in der Schule anstrengen. Auch wenn es keine Garantie dafür gibt, dass sie dann einen Job bekommen, so ist Bildung doch ein Geschenk, das ihnen niemand mehr nehmen kann. Ich ermutige die Studenten, die bei mir die ‚Big Issue‘ kaufen, immer wieder, ihr Studium nicht hinzuschmeißen. Wenn sie es schaffen, gibt es auch mir Hoffnung.“