Vom Systemsprenger zum Schreiner

Ohne Halt in der Familie und ohne Unterstützung können Jugendliche in eine Abwärtsspirale geraten. Das Projekt „Weitblick“ zeigt, wie viel die richtige Förderung bewirken kann.

Schreinerei Graham, Weitblick für BISS

Von BENJAMIN EMONTS

Fotos DORO ZINN

Beim Stichwort „Gabelstapler“ entfaltet sich ein breites Grinsen auf Manulitos jungenhaftem Gesicht. Mit einem Satz schwingt er sich auf den Fahrersitz und dreht den Zündschlüssel um. Behutsam manövriert er das Gefährt rückwärts aus der Schreinerei. Ein bisschen lenken, ein bisschen Gas geben, und schon steht er auf der Straße. Nach einer kurzen Ehrenrunde kehrt Manulito mit einem vielsagenden Blick zurück. „Seht ihr, ich hab hier oben alles im Griff “, soll seine Mimik wohl sagen. Er ist sichtlich stolz auf seine Leistung.
Manulito, 18, hat viel gelernt, seit der Jugendhilfeverein Weitblick ihm eine Ausbildung ermöglicht hat: Er kann jetzt Gabelstapler fahren, Tischsägen bedienen und Dachstühle isolieren. Noch wichtiger jedoch ist: Er bekommt endlich Anerkennung und Vertrauen. Es sind Werte, die er vorher kaum kannte. Manulito wurde seit seiner Kindheit von einem Heim zum nächsten gereicht, überall eckte er an. Jugendliche wie er gelten in Fachkreisen als „Systemsprenger“ oder „Grenzgänger“. Die Behörden wissen mit ihnen oft nicht mehr weiter, weil sie durch alle herkömmlichen Raster fallen. Sie gehen nicht zur Schule, sind gewalttätig, nehmen Drogen und erscheinen beratungsresistent. Oft sind ihre Verhaltensmuster auf traumatische Kindheitserfahrungen zurückzuführen. Sie wuchsen in zerrütteten Familien auf, litten unter häuslicher Gewalt, wurden misshandelt oder vernachlässigt.
Ein Besuch in der Schreinerei. In einer Pause nimmt sich Manulito Zeit, um seine Geschichte zu erzählen. Er lässt die Blicke nur selten sich kreuzen, als hätte er Angst, dass seine Augen etwas über seine verletzte Seele verraten – doch andererseits ist er sehr mitteilsam. Manulito war sechs Jahre alt, als er das erste Mal in ein Heim kam. Seine Mutter war mit der Erziehung überfordert, sein drogensüchtiger Vater lebte in Berlin. Richtig prekär wurde die Situation, als der Vater an einer Überdosis Heroin starb, wie Manulito später erfuhr. „Ich war fix und fertig, ich konnte seinen Tod überhaupt nicht verkraften“, sagt er rückblickend. In jener Zeit begannen seine Aggressionen. Der damals Zwölfjährige schlug alle Hilfsangebote aus, er wollte nicht mehr zur Schule gehen und geriet ständig in Konflikte. Wenn andere Kinder Sprüche auf Kosten seines Vaters machten, schlug Manulito zu. Einmal brach er einem Jungen den Kiefer, ein anderes Mal trat er die Tür ein und bedrohte einen Betreuer. Seine Gewaltausbrüche führten zu Strafanzeigen. Zweimal verbüßte Manulito einen mehrwöchigen Jugendarrest in München-Stadelheim; fürs Blaumachen und Sachbeschädigungen leistete er unzählige Sozialstunden. Mehrmals, so erzählt er, brachte ihn die Polizei vor den Augen der Mitschüler in den Unterricht, eine Demütigung für den Jungen. In nur einem Jahr wechselte er siebenmal die Schule. Noch im Kindesalter war Manulito zu einer Bedrohung für sich und andere geworden. Sein Weg schien vorgezeichnet. Er würde geradewegs ins Gefängnis führen, sollte sich nicht grundlegend etwas ändern.
Der Dachauer Jugendhilfeverein Weitblick nahm sich seiner an: aus heutiger Sicht ein Glücksfall. Die Zahl der Minderjährigen, die in Heimen leben, ist laut Bundesamt für Statistik von 30.000 im Jahr 2005 auf rund 91.000 im Jahr 2018 gestiegen. Jugendämter nahmen 2019 fast 50.000 Kinder vorübergehend in Obhut. Die häufigsten Gründe sind Überforderung der Eltern, unbegleitete Einreise aus dem Ausland, Vernachlässigung, Beziehungsprobleme und Misshandlungen. Speziell für Systemsprenger, die wegen ihres aggressiven Verhaltens schwer zu integrieren sind, gibt es deutlich zu wenige Plätze in geeigneten Einrichtungen. Die Scheu vor ihnen ist groß, auch auf dem Arbeitsmarkt. Wer Straftaten, aber keinen Schulabschluss vorweisen kann, hat in der Gesellschaft kaum eine Chance.

Weitblick bekommt Anfragen aus ganz Deutschland, teilweise melden sich Jugendliche aus dem Gefängnis, weil sie verzweifelt nach einer Perspektive suchen. Die Nachfrage übersteigt bei Weitem das Angebot. Seit seiner Gründung im Jahr 2012 hat der Verein etwa 200 Jugendlichen ein Zuhause und meist auch eine Perspektive gegeben. Zwei Drittel schaffen den Einstieg in ein „geregeltes“ Leben. Der andere Teil kehrt zurück in die Drogensucht und Kriminalität. Viele landen auf der Straße oder in Vollzugsanstalten. Der ehemalige Polizei-Hauptkommissar Carlos Benede hat die Einrichtung mit einem Dutzend Pädagogen, Juristen und Polizisten gegründet. Benede selbst hat als Polizist im Opferschutz vor Jahren zwei Jungen adoptiert, deren Mütter von ihren Vätern ermordet wurden – er kennt die Probleme von verlassenen Kindern. Der Verein hat in Dachau ein ehemaliges Hotel gepachtet und bedarfsgerecht umgebaut. Es gibt dort ein Fitness-Center, einen Sportplatz, eine große Gemeinschaftsküche und mehrere Therapieräume.
15 männliche Jugendliche im Alter zwischen 14 und 21 Jahren leben dort in Ganztagsbetreuung durch Erzieher, Psychologen und Sozialpädagogen, weitere acht sind in Apartments in München in betreutem Wohnen untergebracht. Finanziert wird der Verein über Jugendämter und Spenden. „Unsere Philosophie ist, den Jugendlichen ohne Vorbehalte und auf Augenhöhe zu begegnen, mit Respekt und Geduld“, sagt Carlos Benede. Manulitos Ausbildung ist Bestandteil eines zukunftsweisenden Experiments. Weitblick hat im beschaulichen Eisenhofen im Landkreis Dachau eine Schreinerei gepachtet, wo die Jugendlichen eine Ausbildung oder ein Praktikum absolvieren können. Der vormalige Inhaber des Betriebs, der geduldige, aber durchaus fordernde Schreinermeister Simon Grahamer, wurde von dem Verein angestellt und gibt nun den Boss und Betreuer. In Eigenregie renoviert er mit den Jugendlichen und einem Gesellen ein geschichtsträchtiges Haus neben der Schreinerei. Es ist das einzige Gebäude in der Ortschaft, das im Dreißigjährigen Krieg nicht abgebrannt ist; ein katholischer Heiler und Märtyrer namens Benno Grahamer ist dort einst aufgewachsen. Sobald das Haus renoviert ist, sollen Kinder im Alter von sieben bis 14 Jahren dort einziehen und rund um die Uhr betreut werden. Dieses Ziel verleiht dem Projekt einen tieferen Sinn: Manulito errichtet eine Bleibe für Menschen, die Ähnliches durchmachen wie er selbst.
Das Gefühl, gebraucht zu werden, gibt Manulito offensichtlich Auftrieb. Seit einem halben Jahr steht er nun jeden Morgen um sechs Uhr auf, zieht sich seine Stahlkappenschuhe an, streift sich seinen grünen Arbeitspullover über und macht sich auf den Weg in die Arbeit. Während er früher lange schlief und tagsüber „chillte“ oder stundenlang zockte, geht er jetzt einem geregelten Tagesablauf nach. Der Schreinermeister berichtet stolz, dass Manulito sehr zuverlässig und pünktlich sei. „Er ist ein super Kerl, er hat Talent“, sagt der Meister über den Lehrling. „Ich bin mir sicher, dass Manulito im Berufsleben Fuß fassen kann.“
Manulito hat wieder sein breites Grinsen, wenn er so etwas hört. „Wir stehen pünktlich auf. Wir sind uns für nichts zu schade“, kommentiert er knapp. „Man muss Respekt aufbringen für die Hand, die einen füttert.“ In der Schreinerei wirkt er mit seinen verstaubten Arbeitsklamotten wie in seinem Element. An diesem Nachmittag schneidet er millimetergenau Holzlatten mit einer Tischsäge zurecht, um sie im Haus nebenan in der Dachschräge zu verschrauben. Eine kurze Führung über die Baustelle übernimmt er höchstpersönlich. Er präsentiert die künftige Küche, die Schlafräume, den Spielraum, die Dachterrasse. Es ist eine Mammutaufgabe, zu der jeder seinen Beitrag leisten muss. Manulito lernt nun, was es heißt, wenn andere auf ihn zählen. Und er hat eine neue Vorstellung von Zusammenhalt bekommen. Mittags sitzt er mit den Kollegen und der Familie des Schreiners am Esstisch und kocht manchmal für alle; zeitweise hat er bei der Familie sogar gewohnt. „Ich war überrascht, wie sie mich hier aufgenommen haben“, sagt er. „Das ist wie eine zweite Familie.“
Für Manulito bedeutet Familie viel. Weil sein Vater Muslim war, isst er keine Weißwürste in der Schreinerei. Oder, während des Ramadans hat er drei Tage lang gefastet, bis ihn der Hunger überkam. Noch heute erzählt er, wie gut sich der Vater gekümmert habe, wenn er in Berlin zu Besuch war. Er idealisiert seine Familie, obwohl so vieles schiefgelaufen ist. Über seine Mutter, die ebenfalls drogenabhängig wurde, verliert er nie ein schlechtes Wort. „Sie konnte sich nicht um mich kümmern, weil sie sich ja nicht einmal um sich selbst kümmern konnte“, sagt er nur. Jetzt, da er eine Ausbildung absolviert, sei die Mutter stolz auf ihn. „Das ist das Größte für mich.“ Erst allmählich rücken die Probleme von Jugendlichen wie Manulito in den Fokus der Öffentlichkeit. Das Sozialdrama „Systemsprenger“, das den Leidensweg der neunjährigen „Benni“ (Helena Zengel) zwischen Pflegefamilien, Psychiatrien und Heimen erzählt, hat im vergangenen Jahr beim Deutschen Filmpreis in acht Kategorien gewonnen und dem Thema Aufmerksamkeit gebracht. Doch es ist längst nicht genug. Die Geschichte von Manulito zeigt, dass es sich lohnt, die jungen Menschen nicht frühzeitig aufzugeben. Man muss ihnen jedoch die Chance dazu geben.
Dem Ziel, ein selbstbestimmtes Leben zu führen, ist Manulito einen großen Schritt näher gekommen. Er sagt jetzt Sätze wie: „Ich habe endlich losgelassen von meinem Vater.“ Oder: „Ich habe kein Bedürfnis mehr, wütend zu werden.“ Oft klingt er dabei zu abgeklärt und erwachsen, um es ihm abzunehmen. Doch insgesamt erweckt er den Eindruck, in den vergangenen Monaten Halt gefunden zu haben, auch wenn die Situation sehr fragil ist. Im Dezember, kurz nach seinem 18. Geburtstag, hat er über Weitblick eine Wohnung bekommen, die ihm das Jugendamt zahlt. Er lebt dort im betreuten Wohnen. Es sei ein merkwürdiges Gefühl, den Schlüssel umzudrehen und seine eigenen vier Wände
zu betreten, erzählt Manulito. „Wer kann in meinem Alter schon von sich sagen, eine eigene Wohnung zu haben.“ Er wäscht nun selbst, räumt auf und muss kochen. „Ich bin glücklich“, sagt er. In seinem Wohnzimmer steht sein selbst geschreinerter Tisch, den er schon vor Monaten stolz präsentiert hat. Wenn alles gut läuft, kommen noch viele handgemachte Möbel hinzu.