Die Corona-Pandemie hat auch soziale Einrichtungen und Dienstleister auf eine harte Probe gestellt. Viele mussten schließen oder ihr Angebot stark einschränken. Die Münchner Nähwerkstatt konnte weiterarbeiten. Warum das die Beschäftigten glücklich macht.
Von STEPHANIE STEIDL
Fotos HANNES ROHRER

Zwischen neun Uhr morgens und drei Uhr nachmittags vergisst Senay* ihre Probleme. In diesen sechs Stunden arbeitet sie in der Nähwerkstatt. Schneidet Stoffe zurecht für T-Shirts und Taschen, näht Reißverschlüsse an Stiftemäppchen, füllt Kuscheltiere. Auch jetzt, wo wegen Corona noch vieles geschlossen hat. Oder gerade jetzt. Denn zu Hause bleiben, die Kolleginnen nicht treffen und nicht nähen können: Senay schüttelt den Kopf – unvorstellbar. Die Nähwerkstatt ist einer der wenigen Sozialen Betriebe in München, die während der Corona-Pandemie offen blieben, abgesehen von ein paar Tagen zu Beginn der Krise. Doch zum Glück brauchten Sozialarbeiter*innen der Ambulanten Erziehungshilfe, das Frauenhaus und das Jugendamt dringend Mund-Nasen-Bedeckungen. Ausgestattet mit einer Sondergenehmigung, nahmen die Näherinnen ihre Arbeit für die systemrelevante Aufgabe wieder auf und stiegen in die Maskenproduktion ein.
Ja, zum Glück, sagt Senay. Vor drei Jahren hatte ihr ein Kurs Lust aufs Nähen gemacht. Das Jobcenter vermittelte sie daraufhin in die Nähwerkstatt. Mehr als 20 Jahre lebte Senay da schon in Deutschland. Ohne Ausbildung, ohne Job. Als Familienfrau hatte sie zwei Kinder großgezogen, die mittlerweile erwachsen sind. „Als ich das erste Mal hierherkam, habe ich gezittert, die Hände waren ganz nass“, erzählt die 42-Jährige. Aber alle waren nett und hatten Zeit, um ihr zu helfen. „Kein Druck“, sagt Senay. Zu Hause gibt es viele Probleme. In der Nähwerkstatt gibt es viel Spaß. Und viel Abwechslung. Mal näht sie einen Elefanten, dann Babyhosen oder Puppenkleidung. „Ich habe meinen Beruf gefunden“, sagt Senay. Beruf, das klingt bei ihr wie Berufung.
Zwischen Goetheplatz und Altem Südlichem Friedhof, in der Isarvorstadt, liegen die Räume der Nähwerkstatt. Altbauten aus der Gründerzeit, Lebensmittelgeschäfte, eine Apotheke, die Kuscheltiere und Kulturbeutel aus der Nähwerkstatt verkauft, an der Ecke eine Bäckerei. Draußen herrscht Aprilwetter, drinnen riecht es nach Kaffee und Schokokeksen. Auf dem Tisch am Eingang stehen Thermoskanne und Tassen, Biomilch und ein Becher „Double Toffee Dessert“. An den Wänden hängen Schubladen, die zu Ausstellungsvitrinen für Genähtes umfunktioniert wurden. Die Küchentür schmückt ein Rahmen mit Gesticktem: Hinfallen, Aufstehen, Krone richten, Weitergehen. Darunter eine Postkarte: Ruhe bewahren und weiternähen.
26 Frauen arbeiten in der Nähwerkstatt, verteilt auf fünf Räume. Im größten sitzen sechs Frauen an ihren Nähmaschinen, schneiden zu, stecken ab. Auf einem Tisch in der Mitte liegen Teile einer Stofftasche. Besonders beliebt bei den Kundinnen: die kleinen mintgrünen Elefanten und die pink geblümten Einhörner. Im nächsten Raum sind sie zu viert. Aus dem Radio dudelt Bayern 1, eine der Maschinen surrt. Die Frauen nähen Jacken und Westen für die BISS-Verkäuferinnen und einen Polsterbezug für eine Kindertagesstätte. Eine Frau ist gelernte Polsterin, zwei sind Änderungsschneiderinnen. Sie lachen: „Wir sind die alten Kartoffeln.“ Und sind sich einig: „Gott sei Dank ist es weitergelaufen mit der Arbeit. Nur zu Hause, das ist nix.“ In Corona-Zeiten sei die Nähwerkstatt der einzige Lichtblick.
Ob sie beim Nähen Angst haben, sich mit dem Coronavirus anzustecken? Alle schütteln den Kopf. Zwischen den Arbeitsplätzen stehen durchsichtige Trennwände, in den Gängen und den Gemeinschaftsräumen halten sie Abstand. „Und wir lüften regelmäßig“, sagt Susann. „Susann ist berühmt“, ruft eine Frau durch den Raum. Zusammen mit zwei Stoffwalen ist sie das Werbegesicht der Nähwerkstatt, ihr Foto hängt in den Schaufenstern der Läden, die die Produkte anbieten.

Keine Furcht vor Ansteckung, entspannte Arbeit im Team – ist die Nähwerkstatt eine angstfreie Oase inmitten einer Gesellschaft voller Angst? Eva Müller, die Leiterin der Nähwerkstatt, schränkt ein: „Einige der Frauen haben Angst vor dem Virus, zum Teil große Angst. Eine arbeitet deswegen im Homeoffice und strickt Socken. Bei anderen haben sich schon länger bestehende, biografisch bedingte Ängste während der Pandemie einen neuen Fokus gesucht: Manche haben große Angst vor staatlichen Maßnahmen, weil sie Erfahrungen in ihren Heimatländern wie dem Irak oder in Afghanistan mit Diktaturen gemacht haben. Dort waren sie gezwungen, Burka und Schleier zu tragen und sich zu verhüllen. Es gibt die Angst vor einer Impfpflicht. Oder die Angst, mit der U-Bahn zu fahren, weil dort Maskenpflicht herrscht. „Wer unter Panikattacken, unter Asthma oder posttraumatischen Belastungsstörungen leidet, kommt schlecht klar mit den Masken“, erzählt Müller. Und bei einigen ist die Angst einfach immer da, immer und überall. Ganz unabhängig von Corona. „Wie dünnes Eis ist bei ihnen die Lebenskraft“, sagt Eva Müller.
Greiflinge, Schmusetücher, Kuscheltiere – Zielgruppe vieler Nähwerkstatt-Produkte sind Kinder. Gesetzliche Vorgaben regeln, wie sie verarbeitet werden müssen, damit die Kleinen sicher spielen können. Unter anderem heißt das: Die Nähte müssen sauber ausgeführt sein, Borten für Mähne und Schwanz haben fest zu sitzen, Beine oder Arme dürfen nicht einfach abreißen. Alles muss perfekt sein, um den Qualitätscheck zu bestehen. Für diesen Check ist Sam zuständig. Zwei bis drei Stücke von 100 reklamiert sie nach dem Anschauen unter der Leuchtlupe. Ihre Kolleginnen müssen dann noch mal ran. Sam heißt eigentlich Susanne. Aber weil in Niederbayern, wo Susanne herkommt, jeder zweite Hund Susi gerufen wird, will sie Sam genannt werden. „Qualitätskontrolle in der Nähwerkstatt ist für mich der beste Job“, sagt Sam. Sie hat Probleme mit ihren Augen, und auch mit anderen Menschen. Besonders mit Männern. Draußen, auf dem Ersten Arbeitsmarkt, hätte sie keine Chance, meint sie. In der Nähwerkstatt kann sie immerhin 15 Stunden pro Woche arbeiten. Das bedeutet Struktur für sie und ihren Tag: arbeiten, nach Hause kommen, kochen, Gassi gehen mit den zwei Hunden. „Schon das Wochenende bringt mich durcheinander.“ Sam ist so froh, dass die Nähwerkstatt trotz Corona offen hat. Ein bisschen Normalität in all dem Durcheinander. Obwohl – etwas Gutes hat die Pandemie dann doch: Abstand halten. Das war schon immer ihr Ding, und jetzt gilt es für alle. „Yes! Endlich bin ich auch mal normal.“ Sam lacht.

Spaß haben, loslassen können, Hoffnung schöpfen. Es braucht jemanden, der die Voraussetzungen schafft, damit die Frauen das empfinden und erleben können. Eva Müller, die Leiterin, ist diejenige. Sie war es auch, die vor zehn Jahren die Idee für das Projekt hatte. Dabei kann sie selbst höchstens einen Knopf annähen. Mit Vorhängen und Kinderspielzeug und vier vom Jobcenter finanzierten Plätzen haben sie damals angefangen. Mittlerweile sind es 26. Jede Frau kann mitmachen, die Lust aufs Ausprobieren hat und förderberechtigt ist. „Unsere Aufgabe ist es, alle zu unterstützen. So, wie sie sind, und in ihrer ganzen Unterschiedlichkeit“, sagt Müller.
Aus zehn Nationen kommen die Frauen. Ihre Herkunftsländer sind häufig Krisengebiete, Syrien beispielsweise oder der Irak. Um die 20 ist die Jüngste, die Älteste geht auf die Rente zu. Konflikte wegen kultureller oder religiöser Unterschiede? Fehlanzeige. Von den deutschen Frauen, die hier arbeiten, haben einige psychische Probleme. „Aber das lassen wir alles weg.“ Die Nähwerkstatt ist kein medizinisches Projekt, keine therapeutische Einrichtung. Bewusst setzt Eva Müller in den Räumen die Fortgeschrittenen neben die Anfängerinnen. Ziel ist es, sich gegenseitig zu unterstützen und voneinander zu lernen. Die Frauen kooperieren, statt zu konkurrieren. Das gilt auch für die Kommunikation. Gemeinsame Sprache ist Deutsch – manche sprechen es gut, andere weniger. Fachbegriffe aus dem Näh-Abc lernen die Frauen bei Renate Kretzinger, der Schneidermeisterin in der Nähwerkstatt. Für die, die nicht lesen und schreiben können, gibt es Bildkarten.
Was hat sich verändert in den zehn Jahren seit der Gründung? „Wir sind professioneller geworden und bieten eine größere Produktpalette“, sagt Müller. Vor zwei Jahren hat sie die Selbstorganisation eingeführt, damit die Frauen üben können, im Team ihre Arbeitsprozesse eigenständig zu strukturieren und zu steuern. Am meisten freut Eva Müller rückblickend, dass die Nähwerkstatt zu einem Raum geworden ist, in dem Frauen ihr Potenzial entdecken und sich weiterentwickeln können. Zum Beispiel Senay. Die, die ohne Ausbildung und ohne Joberfahrung vor drei Jahren in die Nähwerkstatt kam. „Im Vorstellungsgespräch hat sie kein Wort gesagt“, erinnert sich Müller. Sie hatte eine Nachbarin mitgebracht, die das Reden für sie übernahm. Heute ist Senay Koordinatorin eines Raumes mit sechs Näherinnen und spricht mit allen ohne Hemmungen. Und was soll die Zukunft bringen? Eva Müller hofft, dass die Nähwerkstatt trotz der Corona-Turbulenzen für die Stadt München und das Jobcenter ein förderungswürdiges Anliegen bleibt. Denn leichter wird es nicht werden für die Frauen.

Der Weg zum Ausgang führt vorbei an orange gestrichenen Wänden und an Holzbänken mit geblümten Sitzkissen darauf. Vom Flur zweigen Räume ab, in denen Bügelbretter und offene Schränke mit Stoffen, Perlmutterknöpfen und Stickgarn stehen. Im Bücherregal liegt die BISS, „Kreuzstich kreativ“ und die Graphic Novel „Heimat“. Sam, die die Qualitätskontrolle macht, ist überzeugt: „Wenn die Nähwerkstatt wegen Corona dichtgemacht hätte, wäre eine Welt für mich zusammengebrochen.“ Sie korrigiert sich: „Nein, mehr als eine Welt.“
Die Nähwerkstatt ist Teil des Sozialen Betriebes Netzwerk Geburt und Familie e. V., eines von über 30 Sozialen Betrieben, die durch das Münchner Beschäftigungs- und Qualifizierungsprogramm (MBQ) gefördert werden. Die Sozialen Betriebe beschäftigen langzeitarbeitslose Menschen, qualifizieren und beraten sie mit dem Ziel, ihnen den Weg (zurück) ins Arbeitsleben zu ermöglichen.