EX-IN will Menschen, die selbst psychisch krank waren, als Vermittler einsetzen zwischen psychisch Kranken und dem medizinischen Fachpersonal. Eine gute Idee, aber in der Praxis läuft es noch nicht überall nach Plan. Das Problem liegt, wie so oft, im System.
Text ELISA HOLZ
Illustration LUCIE LANGSTON

Uli Zemlin* weiß, wovon sie spricht. Trotzdem spricht sie nicht besonders gern über ihre Krankheitsgeschichte. Aber es hilft nichts. Auch sie muss vorn anfangen, um zu erklären, wo sie heute steht und was sie tut. Mit 26 Jahren erlebte Uli Zemlin, damals noch Studentin der Soziologie, ihre erste Psychose. Sie wurde in eine psychiatrische Klinik eingewiesen. „Die steckten mich in ein Hemdchen und reduzierten meine Welt auf ein Bett und ein Nachtkästchen“, erzählt sie. Sie hatte kaum Kontakte und keiner sprach mit ihr. „Dabei war ich trotz meiner schweren Psychose ein Mensch, der fühlen, empfinden und denken konnte“, sagt Zemlin. Diese erste Erfahrung dieser Art sollte nicht die letzte sein. Im Verlauf ihrer Krankheit hat Uli Zemlin so ziemlich alles durchgemacht, was für einen psychisch kranken Menschen vor gar nicht allzu langer Zeit noch schreckliche Realität war: Fixierung, Unterbringung in riesigen Bettsälen oder eben Isolation, sehr viele Medikamente, wenig alternative Therapieangebote – und eine von Uli Zemlin stark empfundene Sprach- und Verständnislosigkeit angesichts ihrer Situation.
Aber die Zeiten ändern sich und die Menschen mit ihnen. Heute ist Uli Zemlin fast 60 Jahre alt und arbeitet seit einigen Jahren selbst mit psychisch kranken Menschen. Dennoch hat sie nicht die Seiten gewechselt. Sie hat vielmehr einen Platz eingenommen, den es bis vor 20 Jahren noch gar nicht gab. Uli Zemlin ist qualifizierte Genesungsbegleiterin, in Fachkreisen auch „EX-INler“ genannt. EX-IN ist die Abkürzung für „Experienced Involvement“. Frei übersetzt, ist es die Idee, psychiatrieerfahrene Menschen sozusagen als Mittler zwischen Patienten und dem Fachpersonal in Kliniken, Tagesstätten oder auch sozialpsychiatrischen Diensten einzusetzen. So soll ein „Trialog“ zwischen Patient, dem psychiatrischen Fachpersonal und der oder dem EX-INler etabliert werden. Eine neue Art der Kommunikation auf Augenhöhe anstatt einer Behandlungsanordnung mit dem scheinbar allwissenden Profi auf der einen und dem scheinbar hilflosen Patienten auf der anderen Seite. Die Hoffnung: Wenn dieses Gefälle im normalen Psychiatriebetrieb flacher wird, könnte das vieles besser und leichter machen. Patienten fühlen sich besser verstanden und fassen in der Regel schneller Vertrauen zu Ansprechpartnern, mit denen sie wesentliche Lebenserfahrungen teilen. Das Fachpersonal kann vom Erfahrungswissen des EX-INlers profitieren und gewinnt womöglich leichter Zugang auch zu schwierigen Patienten. Und die Genesungsbegleiter selbst, wie die EX-INler auch genannt werden, können aus dem häufig so empfundenen Makel ihrer Krankheit einen Mehrwert schaffen, nämlich eine neue Aufgabe und einen Arbeitsplatz.
EX-IN hat also Triple-win-Potenzial, wie man in der Wirtschaft sagen würde. Aber das psychiatrische Hilfssystem in Deutschland ist nun mal kein Start-up, sondern ein immer noch streng hierarchisch organisiertes System. Deshalb scheint es auch in der Praxis nicht ganz einfach zu sein, EX-IN wie gedacht und zum Nutzen aller Beteiligten einzusetzen. „Es ist eine Erfolgsgeschichte, aber auch sehr viel Kampf “, sagt Eva Ziegler-Krabel, die selbst psychisch krank war und auch als Angehörige viele Jahre Psychiatrieerfahrung hat. 2010 kam sie das erste Mal mit der EX-IN-Idee in Berührung: „Für mich war das ein entscheidendes Instrument zur Selbsthilfe.“ Seitdem ist die Rentnerin Eva Ziegler-Krabel gewissermaßen EX-IN-Netzwerkerin im Unruhestand. Sie war maßgeblich daran beteiligt, dass EX-IN inzwischen auch in Bayern etabliert ist. Und sie ist eine wichtige Ansprechpartnerin, wenn es um die Qualifizierung künftiger Genesungsbegleiter geht. Wer als psychiatrieerfahrener Mensch als Genesungsbegleiter arbeiten will, muss nicht nur
halbwegs stabil sein, sondern auch ein Jahr lang eine Qualifizierungsmaßnahme besuchen, die aus fünf Basismodulen und sieben Aufbaumodulen besteht. Es geht um Themen wie Selbsterforschung, Selbstwirksamkeit oder auch aktives Zuhören. Ziel ist es, aus der eigenen Erfahrung Wissen von einer gewissen Allgemeingültigkeit zu entwickeln. „Das ist sehr anspruchsvoll“, weiß Ziegler-Krabel. Dabei sollen die eigene Genesungsgeschichte und persönliche Erlebnisse reflektiert, geteilt, analysiert und die Perspektive des jeweils anderen mitgedacht werden. Im Fachjargon wird dieser Prozess so umschrieben: „vom Ich-Wissen und Du-Wissen zum Wir-Wissen“.
Zum Abschluss der Qualifizierung muss jeder Teilnehmende noch ein persönliches Portfolio erstellen, in dem es um die eigene Krise, den Umgang damit und die Genesung geht – und zwei Praktika machen. Das ist ziemlich wichtig, denn oft wissen weder die Einrichtungen noch die EX-INler, was sie im Alltag einer Klinik oder im sozialpsychiatrischen Dienst so genau erwartet. „Es ist wichtig, dass jeder weiß, worauf er sich bei EX-IN einlässt“, sagt auch Daniela Meier. Die Sozialpädagogin arbeitet beim sozialpsychiatrischen Dienst der Inneren Mission in Ebersberg bei München – und ist genau wie Ziegler-Krabel auch EX-IN-Trainerin. Zwei Jahre lang haben sie mit Vorbereitungen verbracht, bis ihre Einrichtung startklar war für EX-IN. Im Prozess wurden Fragen laut wie: Sollen die uns ersetzen? Haben die überhaupt eine ordentliche Ausbildung? Wären solche Mitarbeiter eine Ent- oder womöglich sogar eine Belastung? Berechtigte Fragen, die es zu klären galt.
Im zweiten Schritt mussten sie die nötigen Strukturen schaffen für die EX-IN-Mitarbeiter. Es ging um grundlegende Dinge wie die Aufnahme in den E-Mail-Verteiler und einen eigenen Schreibtisch. Aber natürlich auch um den fachlichen Informationsaustausch und die Einbindung in den Alltag. „Es ist ein Prozess“, sagt Meier. Ein Prozess, der die Mühe auf jeden Fall lohnt: „Ich wünsche mir, dass sich mehr Einrichtungen bewusst auf den Weg machen und keine Angst vor EX-IN haben.“ Der EX-IN-Mitarbeiter in Meiers Einrichtung arbeitet jetzt schon seit fünf Jahren in der Beratung und der Tagesstätte – als vollwertiges Teammitglied. Er berät in Einzelgesprächen und macht Jobcoachings mit den Klienten der Einrichtung. Einmal in der Woche gibt es einen „Abgleichtermin“ im Team. „Mit unserem Genesungsbegleiter hat sich einiges geändert. Der Zugang gerade zu schwierigen Klienten ist einfacher geworden.
Wir sehen jetzt andere Aspekte – und neue Perspektiven“, erzählt Meier. Zudem ist der EX-IN-Mitarbeiter für viele Patienten ein Hoffnungsträger und Vorbild. Jemand, der es geschafft hat, Krise und Krankheit hinter sich zu lassen. „Ich habe meinen Teufelskreis selbst durchbrochen, aber ich hatte auch Menschen, die mir geholfen haben“, sagt Uli Zemlin. Sie war, als sie ihre Qualifizierung begann, schon tief im Thema drin, das sie total fasziniert hat. „Ich habe viel dafür getan, damit das Thema auf die Tagesordnung kommt.“ EX-IN war in ihrer Situation damals eine große Herausforderung, auch eine Befreiung – und Futter für den Kopf. Als sie ihre Qualifizierung begann, fuhr sie ein Jahr lang von München regelmäßig nach Berlin. Finanziert wurde ihr das Ganze aus öffentlichen Geldern, denn aus eigener Tasche können die rund 220 Euro pro Modul nur die wenigsten ehemals psychisch kranken Menschen bezahlen.
Und weil es gerade ums Geld geht: Uli Zemlin verdient als Genesungsbegleiterin im Monat 426 Euro für sieben Stunden Arbeit in der Woche. Mehr geht nicht, weil sonst die Auszahlung ihrer Frührente gefährdet wäre. Die „Minijob-Falle“ verhindert, dass sie wirklich so arbeiten kann, wie sie wollen würde. So wie ihr geht es mutmaßlich einigen der insgesamt rund 100 EX-IN-Mitarbeiter in Bayern. Außerdem fördern die geringfügige Beschäftigung und die kurzen Arbeitszeiten nicht gerade das Standing der EX-IN-Mitarbeiter in den Einrichtungen. Zemlin erzählt ganz offen, dass sie sich gelegentlich ziemlich allein auf weiter Flur fühlt. Mit den Gruppen, die sie meist selbstständig betreut, spricht sie dann über Salutogenese und was Gesundheit bedeuten kann. Sie will so die Selbstreflexion bei den Patienten in Gang bringen. Ein Prozess, der ihrer Meinung nach auch aufseiten der Therapeuten und Psychiater noch mehr Fahrt aufnehmen müsste. „Ich wünsche mir, dass gerade die Fachkolleginnen und -kollegen an so ein innovatives Projekt wie EX-IN auch in ihrem beruflichen Alltag denken und es integrieren“, sagt Zemlin und klingt dabei ein wenig desillusioniert. Dennoch versucht sie, das Beste aus der Situation zu machen. Ein Spaziergang übers Klinikgelände, ein gutes Gespräch – diese Erfolgserlebnisse sammelt sie wie „kleine Diamanten“.
Währenddessen bohrt Eva Ziegler-Krabel weiter „dicke Bretter“. Es geht darum, aus EX-IN einen anerkannten Beruf zu machen, der so bezahlt wird, dass man davon leben kann. Es geht um die Eingruppierung in Besoldungsgruppen oder Verhandlungen mit der Gewerkschaft. Auch Daniela Meier weiß, dass es noch einiges zu tun gibt. Denn aller Anfang ist schwer. „Zwar gibt es EX-IN jetzt schon seit mehr als zehn Jahren, trotzdem steckt das Projekt noch in den Kinderschuhen“, sagt Meier. Aber dass Beteiligungsprojekte wie EX-IN die Zukunft der modernen psychiatrischen und sozialpsychiatrischen Versorgung sind, davon ist die Sozialpädagogin felsenfest überzeugt. Für Meier, Ziegler-Krabel, Uli Zemlin und alle ihre Mitstreiter ist es unabdingbar, dass Patienten und ehemalige Patienten im psychiatrischen Versorgungssystem eine Stimme bekommen. Sie wissen schließlich alle, wovon sie sprechen.
HIER GIBT ES WEITERE INFORMATIONEN:
EX-IN-Standorte gibt es in Deutschland, Österreich und der Schweiz.
Der Träger des Standorts in München ist die Innere Mission.
Trialogische Arbeitsgemeinschaft EX-IN Bayern
Eva Ziegler-Krabel
Wemdinger Straße 29
81671 München
Telefon +49 89 40 90 80 03
E-Mail: ziegler-krabel@ex-in-by.de
http://ex-in-by.de
Auf der Website sind Erfahrungsberichte, weiterführende Informationen, Termine und ausführliche Hinweise zu EX-IN zu finden.