Systemrelevant

Karin Lohr, Foto: Volker Derlath

Eigentlich geht es uns von der Straßenzeitung BISS den Umständen entsprechend gut. Denn wir können unsere Arbeit für sozial benachteiligte Menschen unter den Bedingungen der Pandemie – Abstand, Mund-Nasen-Schutz und frische Luft – leisten. Wir können die Zeitung ausgeben, deren Verkauf für unsere Verkäuferinnen und Verkäufer oft der einzige Anlass ist, ihre Wohnung oder die Unterkunft zu verlassen. An ihren Standplätzen haben sie die Chance, auf andere Menschen zu treffen, die sie freundlich grüßen, ihnen die Zeitung abkaufen und im besten Fall auf einen kurzen Plausch stehen bleiben. Das tut allen Beteiligten gut. In der Diskussion, was in einer Gesellschaft systemrelevant ist, ist das ein wichtiger Punkt. Darüber hinaus sehen wir täglich, wie wichtig es ist, dass sozial benachteiligte Menschen möglichst einfach und direkt Zugang zu Hilfsangeboten und Unterstützung haben. Wenn also ein Verkäufer aus einer Notunterkunft voller Panik die BISS-Sozialarbeiterin anruft, weil er verstanden hat, er dürfe sein Zweibettzimmer für die nächsten Wochen nicht verlassen und würde zwangsweise geimpft, lässt sich dieses Missverständnis ausräumen. Für andere ist es der Anruf bei der Krankenkasse, weil die Versichertenkarte fehlt, oder das zunächst unverständliche Behördenschreiben, dessen Inhalt man „übersetzt“ und so erst verständlich macht. Diese „Übersetzungsleistung“ von sozialen Diensten für Arme und Obdachlose ist immer notwendig, in Pandemiezeiten ist sie überlebensnotwendig. Das funktioniert nicht im Homeoffice, sondern es braucht den direkten Kontakt zu den Betroffenen. Diejenigen, die bei BISS Hilfe suchen, sind zwar in der Regel arm, jedoch in ihrer Persönlichkeit und in ihren Einstellungen genauso unterschiedlich wie alle anderen Menschen. BISS funktioniert im Kleinen nach vergleichbaren Regeln und Gesetzen wie die Gesellschaft im Großen. Überhaupt halte ich es aktuell für eine enorme gesellschaftliche Herausforderung, die drastischen Maßnahmen, die zur Bekämpfung der Pandemie verordnet werden, den Menschen bestmöglich zu vermitteln und nachvollziehbar zu machen. Dafür müssen soziale Dienste, Betriebe, Schulen, Theater und Museen maximal beteiligt werden. Das System, also wir alle, muss sich bemühen, möglichst alle anderen Menschen einzubeziehen. Sonst haben böse Demagogen leichtes Spiel. Wie lange es dauert, bis man so jemand wieder los wird, hat man in Amerika erlebt. Immerhin gibt es dort einen neuen Präsidenten!

Herzlichst

Karin Lohr, Geschäftsführerin