Meine erste Wahl

EIN TEXT AUS DER SCHREIBWERKSTATT

von Zuheir Takiyan

Ich habe noch gar nicht so lange einen deutschen Pass. Dieses Mal darf ich das erste Mal bei der Bundestagswahl wählen. Ich habe mich schon erkundigt, welche Parteien es gibt. Aber es ist nicht so einfach, weil ich mich von Grund auf neu informieren muss. Ich informiere mich über das Internet, hauptsächlich bei Youtube und Facebook. Für mich ist wichtig, was eine Partei für Ausländer macht. Ob sie für oder gegen Abschiebungen ist. Außerdem will ich wissen, wie die Partei zur Religion steht. Ich bin Christ. Und ich möchte, dass eine Partei dem christlichen Glauben gegenüber offen ist. Ich möchte, dass die Partei, die ich wähle, den Armen auf der Straße hilft. Ich möchte, dass niemand auf der Straße leben muss. Ich mag keine Politiker, die den Menschen Dinge versprechen, die sie dann nicht einhalten. Gute Politik muss ehrlich sein. Es braucht Politiker, die sich wirklich für ihr Land ins Zeug legen. Ich habe in meinem Leben bisher nur einmal gewählt. Das war noch im Irak. Deshalb ist es für mich jetzt wie ein Geschenk, dass ich wählen kann. Auch meine ganze Familie wird jetzt wählen. Es ist wirklich ein Privileg. Ich hoffe, dass es hier nicht so ist wie in dem Sprichwort, das ich aus dem Irak kenne. Dort heißt es: Die Parteien zerstören unsere Häuser und dann bauen wir neue für sie. So richtig vertraut man der Politik also nicht. In Deutschland findet die Wahl immer an einem Sonntag statt. Im Irak meist an einem Arbeitstag, an dem aber alle freibekommen, um zur Wahl gehen zu können. Oft sieht man dort auf Fotos nach der Wahl, dass die Menschen einen violetten oder schwarzen Finger haben. Das passiert in Ländern, in denen es nicht überall einheitliche Dokumente gibt oder nicht jeder Dokumente hat. Um zu verhindern, dass Leute doppelt wählen, wird ihr Finger mit spezieller Wahltinte markiert. Meist ist es der Zeigefinger. Auch mein Finger war damals schwarz. Man kann diese Wahltinte nicht sofort abwaschen. Das ist ja auch der Sinn der Sache. Aber mit Seife geht die Farbe nach ein paar Tagen weg. Es ist in Deutschland also einiges anders als bei meiner letzten Wahl im Irak. Eines aber ist gleich, egal ob in Deutschland oder dem Irak: Am Wahltag muss ich mich entscheiden, wem ich meine Stimme gebe.