Interview HERMANN WEISS
Fotos RAINER VIERTLBÖCK

Rainer Viertlböck, Jahrgang 1958, kam auf Umwegen zur Fotografie, nachdem er zunächst 20 Jahre lang als Komponist für Film und Fernsehen gearbeitet hatte. Der Autodidakt wird zum Haus-und-Hof-Fotografen des New Yorker Stararchitekten Helmut Jahn, gewinnt 2008 als erster Deutscher einen „International Photography Award“.
„Strukturen der Vernichtung“, sein ambitioniertestes Projekt, soll die Geschichte des Umnutzens, Vergessens und Verdrängens von Nazi-Konzentrationslagern visualisieren. Geplant sind Aufnahmen an 1.200 Standorten. www.tangential.de/recent
Die Fotoserie „Einblicke“, bei der Viertlböck die Wohnungen von BISS-Verkäufern fotografiert hat, ist vom 1.12.21 – 31.1.22 in der Friedrich-Ebert-Stiftung in München, Herzog-Wilhelm-Straße 1, zu sehen. fes.de/fes-in-bayern
Die Umwelt abbilden, ohne mit ihr in Kontakt zu treten. Zeigen, was man nicht sieht. Das ist der eigenwillige Ansatz des Fotografen Rainer Viertlböck. Ausgezeichnet für seine Inszenierung moderner Architektur, bekannt durch seine München-Ansichten, setzt er sich mittlerweile verstärkt mit sozialen und politischen Themen auseinander – wie auch seine Interiors der Wohnungen von BISS-Verkäufern zeigen. Die sind jetzt in der Friedrich-Ebert-Stiftung zu sehen.

Herr Viertlböck, mögen Sie Menschen?
RAINER VIERTLBÖCK: Oh, so pauschal kann ich die Frage gar nicht beantworten! Ich mag Menschen, mit denen man sich gut unterhalten kann, wo’s ne gute Schwingung gibt. Und ich hab’ auf jeden Fall eine Affinität zu offenen, herzlichen Menschen. Aber es gibt auch genug Leute, die ich nicht so mag – und einige wenige, wo ich denke: Wär’ vielleicht kein Fehler, wenn die nicht da wären. Ich glaube, Hannah Arendt hat mal gesagt: Ein Prozent der Menschen sind wirkliche Bestien, ein Prozent selbstlose Heroen, die nur ihrem Herzen folgen. Und die anderen 98 Prozent spreizen sich irgendwie dazwischen. So sehe ich das auch.
Ich frag’ deshalb, weil ich mir vor unserem Gespräch noch einmal Ihre Fotografien angesehen habe – und da sind keine Porträts dabei, keine situativen Momentaufnahmen mit Menschen.
Es gibt bei mir Menschenmassen, aber wenig Individuen. Das stimmt.
Gibt’s dafür einen Grund?
Es liegt daran, dass ich die Art der Arbeit nicht so mag. Menschen gegenüberzusitzen und mit der Kamera in sie einzudringen, ist nicht mein Ding. Es stresst mich, Menschen zu porträtieren: Die haben Erwartungen. Die freuen sich, wenn’s vorbei ist, oder auch nicht. Die posen oder posen nicht. Es kommt auf jeden Fall zu einer Interaktion – und ich arbeite lieber aus der Ruhe heraus. Die habe ich aber nicht, wenn ich mich im Timeframe eines Gegenübers befinde.
Wie sehr Sie beim Fotografieren auf Distanz gehen, ist mir bewusst geworden, als ich neulich die Wiesnbilder Ihres Kollegen Volker Derlath gesehen habe, der sich dafür ins Getümmel der Bierzelte gestürzt hat. Bei Derlath riecht man förmlich die Ausdünstungen der Menschen, so nah kommt er ihnen. Ihre aus sicherer Entfernung aufgenommenen Oktoberfest-Bilder wirken dagegen richtig steril.
Ich lasse dem Betrachter den Freiraum, ein Bild emotional zu besetzen. Das ist ein Prinzip meiner Arbeit. Auf die Spitze getrieben habe ich das in meinem größten Projekt, an dem ich seit Jahren arbeite: der Welt der Konzentrationslager. Da fotografiere ich tatsächlich über weite Strecken Unsichtbares. Was ich dort aufnehme, sieht man nicht. Weil nichts mehr da ist.
Ja, aber zum Beispiel in Oświęcim, dem früheren Auschwitz, leben aktuell knapp 40.000 Menschen, die mit dem Stigma und der Geschichte des Ortes irgendwie klarkommen müssen. Kein Thema für einen Fotografen?
Das ist ein möglicher, subjektiver Blick, der den anderen damit nicht entkräftet. Da gibt es kein Für und Wider. Kein Entweder-oder. Herbert Naumann, ein Kollege von mir, den ich sehr schätze, hat in jahrelangen Recherchen den Verlauf des Todesmarsches von 2.400 Häftlingen von der Außenstelle Leipzig des Konzentrationslagers Buchenwald nach Fojtovice rekonstruiert. Der hat sich unfassbar hineinbegeben in dieses Horrorszenario, ist den Weg der Häftlinge über 500 Kilometer nachgegangen, hat übernachtet, wo sie übernachtet haben. Das ist mir vollkommen fremd. Ich bewundere Herberts Arbeit. Wir sind auch befreundet. Aber es ist nicht meine Herangehensweise. Ich bleibe außen. Bilde ab. Und bewege mich nicht in die Emotion von Leuten hinein.
Sind Sie menschenscheu?
Ich sag’ mal so: Meine Haltung zur Gesellschaft ist von einer gewissen Grundskepsis geprägt, seit ich in ganz jungen Jahren Gerhard Schoenberners Buch über die Judenverfolgung in Europa gelesen habe („Der gelbe Stern“). Das lag so Mitte der 1960er-Jahre bei uns zu Hause herum – und es hat mich entsetzt, was Menschen einander antun können, was da möglich ist. Das ging mir nicht mehr aus dem Kopf. Genau wie die Sache mit den Atomwaffen. Ich habe schon als Jugendlicher nicht begriffen – und begreife es immer noch nicht –, wie man in einer Gesellschaft leben kann, die damals noch 25.000, heute 15.000 abschussbereite Nuklearwaffen um sich herum stehen hat. Dass, überspitzt formuliert, zwei psychotische U-Boot-Kommandanten, die sich einig sind, genügen, um die ganze Welt in die Luft zu jagen. Das habe ich nicht kapiert und werde es nie kapieren. Die Zweifel sind mir geblieben.
Das verstehe ich. Aber was bedeutet es für Ihre Fotografie, wenn Sie aus Prinzip auf Distanz gehen? Wofür ist das gut?
Ich glaube, viele Sachen werden erst sichtbar, wenn man mit Abstand darauf schaut.
Zum Beispiel?
Bei meinen Fotos von der Wiesn ging es mir nicht um den Exzess. Für mich sind diese Bierzelte Hüllen, wie leere Gefäße, die dann randvoll mit Menschen befüllt werden, grade dass man sie nicht übereinanderstapelt. Ich finde es faszinierend, dass man auf diesen Bildern insgesamt rund 100.000 Menschen sieht, die alle mehr oder weniger das Gleiche tun. Dass ich hier eine Vermassung habe mit einer scheinindividuellen Farbigkeit, punktuell und marginal, denn diese Bierzelte unterscheiden sich ja nicht wirklich fundamental voneinander. Im Gegenteil. Man könnte wahrscheinlich auch eins für 100.000 Menschen hinstellen. Kennen Sie die Bilder von Andreas Gursky?
Die Supermarkt-Bilder. Oder die Boxenstopp-Szenen von den Rennstrecken der Formel 1 …
Nicht, dass ich seinen Namen zu nah an meinen bringen möchte! Aber im Grunde haben Gursky und ich da einen ähnlichen Blick – nur, dass ich nicht noch eigens jemanden mit einem roten Anzug ausstatten würde. Und ich würde auch nicht die Menge der Menschen noch mal verdoppeln. Ich bleibe in der Realität und verfremde die nicht, weil ich meine, sie ist gewaltig genug.
Als Fotograf sind Sie ein Spätberufener …
Das stimmt. Ich hab’ erst Ende der 1990er-Jahre mit dem Fotografieren angefangen, nachdem ich meine erste Karriere als Filmkomponist an den Nagel gehängt hatte. Ich war wie manisch. Total fasziniert davon, dass ich durch die Kamera in direkten Kontakt mit der Umwelt gehen konnte, ohne dass ich deswegen persönlich in Kontakt treten musste. Mein Blick auf die Welt hatte schon immer etwas Autistisches. Das ist es wahrscheinlich, was Sie in meinen Bildern sehen.
Fast logisch eigentlich, dass Sie damals als Architekturfotograf angefangen haben. Aber worum ging es Ihnen dabei? Um Form, Funktion, Ästhetik? Oder war’s mehr dieser Optimismus, das Emporstrebende, Entgrenzte, wie es die Wolkenkratzer eines Helmut Jahn symbolisieren, dessen Bauwerke Sie oft fotografiert haben?
Ja, der Optimismus vom Helmut nach dem Motto „The future is always right“, der hat mir gefallen, weil er den auch wirklich mit so einer unumstößlichen Vehemenz postuliert hat. Dass die Zukunft dem Guten zustrebt, dagegen kann man ja nicht wirklich etwas haben, auch nicht als spirituell angehauchter Pessimist – und er hat das eben transformiert auf die weltliche Ebene. In seine Gebäude. Ich weiß noch, wie wir einmal bei ihm in der Küche saßen. Deborah, seine Frau, und ich haben über so Themen geredet, die gerade viel diskutiert wurden, Plastikmüll, glaube ich, und der Helmut saß daneben, hat Hochhäuser gezeichnet, und als Deborah von ihm wissen wollte, wie er die Dinge sieht, meinte er nur: „In diesem Leben zeichne ich Hochhäuser. Im nächsten … mal schauen!“ Das gefiel mir. Und mir gefiel auch, dass Helmut so eine Power hatte, die eigentlich nicht zu bezähmen war, die auch durch restriktiv sparsame Bauherren nicht in den Griff zu bekommen war. Er wollte, dass seine Häuser etwas haben, was man nicht kaufen kann. Eine Seele.
Dass Häuser eine Seele haben, ist eine interessante These! Sie gehen aber noch weiter, indem Sie beispielsweise sagen, dass es bei den baulichen Gegebenheiten in den Siedlungen der People of Color in den USA, wo Sie auch fotografiert haben, kein Wunder ist, wenn es dort regelmäßig zu Gewaltausbrüchen kommt.
Wenn Sie sich die Wohnviertel der weißen und die der schwarzen Bevölkerung in den USA anschauen, dann ist das wie ein Spiegel der unerträglichen gesellschaftlichen Spaltung im Land. Und es ist klar, dass das in einer Explosion enden muss.
Sie lassen die Häuser sprechen, nicht die Menschen.
Ich kann ohne die Menschen etwas zeigen, was mit ihnen nicht sichtbar wird. Am deutlichsten wird das, glaube ich, in den Chabolas, einer frühen Arbeit von mir. Da habe ich wochenlang die Siedlungen afrikanischer Immigranten im Süden Spaniens fotografiert. Die Leute wollten damals gar nicht im Bild sein, hauptsächlich aus Scham, weil viele von ihnen das Problem haben, dass man ihnen daheim nicht glaubt, dass sie unverschuldet so leben, wie sie leben: in Behausungen aus Obstkisten, mit Plastikplanen aus den nahe gelegenen Plantagen darüber. Man gibt ihnen die Schuld dafür, dass es zu mehr nicht reicht, weil man in Afrika 250 Satellitenprogramme guckt und zu wissen glaubt, wie es im Westen aussieht, und ganz sicher sieht es nicht so aus! Es ist also aus der Situation heraus passiert, dass das leer fotografiert ist. Aber: Stellen Sie sich die Hütten mal mit Menschen vor: Da schauen Sie nur noch in die Gesichter und sehen nichts anderes mehr.
Was ich jetzt sehe, ist ein Sinnbild der Globalisierung – und uneingelöster Versprechen?
Zum Beispiel, ja.
Sie haben auch noch andere Interiors fotografiert – darunter die Wohnungen von BISS-Verkäufern.
Das war für mich in gewisser Weise die Fortsetzung meiner Arbeit in Spanien. Und man muss es im Kontext mit meinem Oktoberfest-Buch und dem München-Buch sehen, die ich davor gemacht habe, wo ich das Außen fotografiert habe. Die Oberfläche. Den schönen Schein der Stadt. Danach hab’ ich überlegt, ob ich nicht vielleicht auch Interiors machen sollte, Reich und Arm, quer durch die Schichten, aber das hat mich nicht so gepackt. Es erschien mir irgendwie gewollt, zu abgeschmackt, diese Gegenüberstellung.
Und die BISS-Geschichte?
Die hat sich ganz anders, wie von selbst ergeben. BISS war mir vertraut. Ich hatte bereits das eine oder andere Cover fürs BISS-Magazin fotografiert. Ich war auch dabei, als 2018 anlässlich des Jubiläums 25 Jahre BISS auf dem Wittelsbacher Platz die Soziale Skulptur des Künstlerduos Studio Morison errichtet wurde. Und die BISS-Verkäufer habe ich immer mit Wohlwollen gesehen – was ich von den allermeisten Top-Verdienern mit drei, vier, fünf oder auch mal 20 Millionen Euro teuren Villen per se nicht sagen kann. Da habe ich dann schon eine gewisse Grundhaltung. Die mag man als unfair empfinden, wenn man Villenbesitzer ist, das ist sie vielleicht auch im Einzelfall. Aber mein Herz schlägt nun mal eher für die BISS-Verkäufer. Deshalb habe ich wahrscheinlich auch deren Wohnungen fotografiert – und nicht die Grünwalder Häuser, die mir zumindest damals in München auch offengestanden wären.
Mit welchen Erwartungen sind Sie an das Projekt herangegangen?
Ich hatte keinerlei Idee. Überhaupt gar keine Vorstellung, wie die Leute wohnen.
Sie haben gesagt, das Projekt sei eine Fortsetzung Ihrer Arbeit in Spanien gewesen. Was ist das Verbindende?
In beiden Fällen, bei den Chabolas wie den Wohnungen der BISS-Verkäufer, ist es so, dass die Menschen tun, was sie können, um sich mit ihren Mitteln ein lebenswertes Umfeld zu schaffen. Da steckt so viel Organisation und Ordnung drin – die im Übrigen erst sichtbar wird durch eine analytische Fotografie. Wenn Sie in eine Chabola oder auch in die ein oder andere BISS-Wohnung mit einem Handy oder mit einer Spiegelreflexkamera einfach so hineinfotografieren – on the fly, dokumentarisch, einen Schnappschuss machen –, werden Sie keinerlei Ordnung entdecken. Durch die Enge des Raums, die Fülle der Gegenstände, die Einfachheit der Materialien wird sich Ihnen nicht entschlüsseln, dass hier, den Möglichkeiten der Menschen entsprechend, dieselbe Ordnung herrscht wie im New Yorker Luxusloft. Wenn ich in der Chabola detailliert rangehe und die auf jeden Fall gruseligen, zu Wasserkanistern umfunktionierten Spritzmittelbehälter, die Lebensmittel und die Armut herausstreiche, geht durch diese interpretierende Wahrnehmung auch der Respekt vor den Lebensverhältnissen verloren. Die Immigranten in den Chabolas haben gespürt, dass ich ihre Würde nicht angetastet habe. Und auch die BISS-Verkäufer fühlten sich gesehen in der Ernsthaftigkeit ihres Seins. Ein Bild aus der Serie, 2,20 auf 1,60 Meter, hängt gerahmt hinter Glas in der BISS-Geschäftsstelle in der Metzstraße. Eine wirklich museale Präsentation! Sie überhöht, was man sieht – und wird auf diese Weise dem Anspruch, meinem Anspruch gerecht.
Was ist Ihnen beim Fotografieren in den Wohnungen durch den Kopf gegangen?
Ich war erstaunt über die Individualität der Lebensverhältnisse! Ein BISS-Verkäufer, ich glaube aus Pakistan, hat seine Wohnung in Rot und Gelb eingerichtet. Es gab da einen Buddha, aber auch einen Christus am Kreuz und noch eine andere Gottheit nebeneinander in einem Raum, und als ich fragte, woran man denn da glauben soll, sagte er: „Such’s dir aus!“ Das Wohnzimmer eines aus Rumänien stammenden Verkäufers war praktisch leer, mit zur Seite, an die Wand gerückten Sitzgelegenheiten, damit auch alle Platz finden – er, seine Frau, die vier Kinder und eine Großmutter – und gut auf den Fernseher gucken können, der, eingerahmt vom Spielzeug der Kinder, an der Stirnseite des Raumes stand und wo gerade eine rumänische Schlagersendung lief. Das fand ich schon spannend! Gerade auch im Vergleich. Denn einen derart ausgeprägten Willen zum Individuellen, zur Selbstbehauptung wie hier werden Sie in sogenannten besseren Kreisen nur sehr selten finden.
Sind Ihre Interiors und speziell die Wohnungen der BISS-Verkäufer auch ein Kommentar zur Wohnsituation in unseren Städten?
Genau deshalb liegt mein Fokus natürlich auf diesen Schattenseiten – weil ich die Entwicklung, wie wir sie erleben seit den späten 1980er-Jahren, das Auseinanderdriften gesellschaftlicher Schichten und die damit verbundene soziale Spaltung kritisch sehe.
Inwiefern?
Wenn man sich vorstellt, dass ein paar Promille der Menschheit über genauso viele Ressourcen verfügen wie Milliarden Arme, dann ist das ein unerträglicher Zustand. Das fängt schon damit an, dass Menschen, die über Wohlstand verfügen, in aller Regel davon ausgehen, er stünde ihnen zu – egal, ob sie ihn ererbt haben oder ob sie ihn sich erarbeitet haben. Das wird als Lebensleistung betrachtet. Umgekehrt wird es als Lebensversagen gewertet, wenn Sie auf 20 Quadratmetern leben oder im Flüchtlingszelt. Diesem Gedanken folge ich nicht. Absolut nicht. Deshalb mache ich diese Art sozialer Fotografie. Ich fürchte nur …
Ja?
… dass wir erst am Anfang einer gesellschaftlichen Entwicklung stehen, deren Ende wir nicht absehen können, weil uns die Vorstellungskraft fehlt. Aber auch in der Vergangenheit waren Zivilisationsbrüche, bevor sie geschahen, in ihrem Ausmaß nicht vorstellbar. Insofern kann ich nur hoffen, dass ich mich in meiner dystopischen Betrachtung des Zeitgeschehens täusche.