Lernwerkstatt – Ein Beitrag für mehr Bildungsgerechtigkeit

Von
CLAUDIA STEINER
Fotos
DIRK BRUNIECKI

In der Lernwerkstatt des BildungsLokals im Münchner Stadtteil Giesing werden Kinder und Jugendliche unterstützt, die sonst durch das Raster fallen. Hier werden sie fit gemacht für Schulaufgaben und Abschlussprüfungen. Aufgrund der Lernunterstützung und der Motivationsarbeit der Mitarbeiterinnen
schaffen einige Schülerinnen und Schüler, an die oft niemand glaubt, Bestnoten.

Amin und Louka „Nilufer hat mehr an uns geglaubt als wir selbst.“
Nilufer „Ich verstehe, dass
viele Lehrer überfordert sind.“

Die 21 Jahre alte Nilufer hat selbst jahrelang in der Schule gekämpft. Sie ist zweimal durchgefallen. „Ich war richtig schlecht. Meist haben mir meine Lehrer gesagt, was ich alles nicht schaffen werde. Irgendwann habe ich mich angestrengt und war richtig fleißig.“ Sie ging entgegen der Empfehlung ihrer Lehrer aufs Gymnasium, machte Abitur. Nun will die junge Frau Lehramt studieren. Im vergangenen Jahr arbeitete sie als Ehrenamtliche im BildungsLokal Giesing und ermutigte in der Lernwerkstatt Jugendliche, an die ebenfalls niemand glaubte.
Die fünf Teenager im Alter zwischen 16 und 18 Jahren gehen alle in eine Klasse. Anders als Nilufer, die hier geboren wurde, sind sie erst seit wenigen Jahren in Deutschland. Sie waren teilweise auf der Flucht und konnten lange nicht zur Schule gehen. Sie kämpfen mit der neuen Sprache, teils mit der neuen Kultur – aber sie wollen es schaffen. Bis zu dreimal die Woche gingen sie im vergangenen Schuljahr nach dem Unterricht in die Lernwerkstatt, um für Schulaufgaben und die Abschlussprüfung im M-Zweig der Mittelschule zu lernen. Alle haben bestanden, mit Abschlussnoten zwischen 1,5 und 3,0. Der 18 Jahre alte Mohammed aus Syrien wurde sogar ausgezeichnet – als bester männlicher Absolvent aus ganz München.

Hülya Hayirli (links) und
Hiam Tarzi-Schams


„Solche Erfolgsgeschichten ermutigen uns natürlich“, sagt Bildungsmanagerin Hiam Tarzi-Schams und schaut zufrieden auf die Lerngruppe. Sie und ihre Kollegin Hülya Hayirli arbeiten eng mit Schulen, Schulsozialarbeitern und den Familien in Giesing zusammen. Sie versuchen, sozial benachteiligte Familien zu erreichen.
Niedrigschwellige Bildungsangebote gibt es hier nicht nur für Kinder und Jugendliche, sondern auch für ihre Eltern und andere Interessierte im Viertel: Im Programm stehen unter anderem Sprach-und PC-Kurse oder auch Bewerbungscoaching.

Das Referat für Bildung und Sport betreibt in München acht BildungsLokale über das Stadtgebiet verteilt. Die Bildungsangebote für Kinder, Jugendliche und Erwachsene sind kostenlos. Weitere Informationen bekommen Sie unter www.muenchen.de, Stichwort:
Bildungslokale oder im BildungsLokal in Ihrer Nähe.
Neuaubing-Westkreuz, Radolfzeller Straße 11a, 81243 München, Tel.: 089 233-29255
Neuperlach, Peschelanger 8, 81735 München, Tel.: 089 62837531, Tel.: 089 62837751
Schwanthalerhöhe, Ligsalzstraße 2, 80339 München, Tel.: 089 50028130, Tel.: 089 50028749
Riem, Willy-Brandt-Allee 18, 81829 München, Tel.: 089 203279602
Giesing, Schlierseestraße 73, 81539 München, Tel.: 089-620093582
Berg am Laim, Schlüsselbergstraße 4, 81673 München, Tel.: 089 954466480, Tel.: 089 954466481
Ramersdorf, Balanstraße 79, 81539 München, Tel.: 089 606657171, Tel.: 089 606657172
Hasenbergl, Linkstraße 56, 80933 München, Tel.: 089 31202118

BISS-Ausgabe September 2022 | Goldenes Handwerk

Cover des BISS-Magazins September 2022

Thema | Goldenes Handwerk | Ein Studium aufzugeben ist kein Beinbruch, ganz im Gegenteil: Die Berufschancen sind prächtig, das Einkommen gut | 6 Meister statt Master: Zuerst studiert, dann eine Lehre gemacht | 12 Telefonseelsorge: Manchmal hilft schon ein offenes Ohr | 16 Laufen gegen Depressionen: In der Gruppe geht es leichter |20 Bezahlung in Behindertenwerkstätten: Taschengeld oder Mindestlohn? | 5 Wie ich wohne | 26 BISS-Verkäufer*innen erzählen, was sie bewegt | Rubriken | 3 Editorial | 25 Patenuhren | 28 Freunde und Gönner | 30 Mein Projekt, Impressum

Wenn das System behindert

Ein Gespräch mit Oswald Utz, dem ehrenamtlichen Behindertenbeauftragten der Stadt München, über neoliberale Strukturen, Unternehmensvorteile und Parallelwelten.

INTERVIEW
Von
STEPHANIE STEIDL

Foto: privat

Reformieren oder abschaffen – in welche Richtung sollten sich die Werkstätten Ihrer Meinung nach entwickeln?
Das Thema ist komplex, aber die eigentlich spannende Frage lautet: Passen neoliberaler Arbeitsmarkt und Menschen mit Behinderungen überhaupt zusammen? Denn in unserem System scheitern immer mehr Menschen und werden aussortiert – nicht nur solche mit Behinderungen, sondern auch Ältere, Menschen mit niedrigerem Bildungsabschluss oder mit längeren Familienzeiten. Auch ich würde die Werkstätten gern abschaffen. Aber wohin dann mit diesen Menschen? Seien wir ehrlich: Auf dem Arbeitsmarkt, wie er aktuell beschaffen ist, haben viele von ihnen keine Chance.

Also bleibt vorerst nur eine Reform.
Das System der Werkstätten ist extrem verlogen. Eigentlich sollte es fit machen für den ersten Arbeitsmarkt. Aber das passiert so gut wie gar nicht.

Verhindern Werkstätten in ihrer jetzigen Struktur die Teilhabe am ersten Arbeitsmarkt?
Unternehmen müssen eine Ausgleichsabgabe zahlen, wenn sie nicht genügend Menschen mit Behinderungen beschäftigen. Aber wenn sie Leistungen in einer Werkstatt einkaufen, können sie die Ausgleichsabgabe gegenrechnen. Und sie erhalten weitere Vergünstigungen wie zum Beispiel einen reduzierten Mehrwertsteuersatz. Warum also sollte ein Unternehmen Menschen mit Behinderungen einstellen, wenn es über den Weg Werkstatt viel einfacher und günstiger geht? Und warum sollte die Werkstatt ihre Beschäftigten weitervermitteln, wenn sie innerhalb ihrer eigenen Struktur viel mehr von ihnen profitiert? Also ja, die Teilhabe wird durch dieses System erschwert.

Warum wird von politischer Seite so wenig Druck ausgeübt? Manchmal kommt mir das vor wie eine stillschweigende Übereinkunft: Die Werkstätten werden üppig gefördert und als Gegenleistung schaffen sie eine Parallelwelt für Menschen mit Behinderungen. Dort sind diese dann versorgt und aufgeräumt und fallen der Öffentlichkeit und den Behörden nicht weiter zur Last.


Können Sie Werkstätten auch etwas Positives abgewinnen?
Selbstverständlich. Es gibt Menschen, die sich dort sehr aufgehoben fühlen: weil kein Druck ausgeübt wird, weil sie ihren Therapien nachgehen können, weil sie dort ihr soziales Umfeld haben. Für sie ist der Schutzraum Werkstatt gut und passend. Das darf man ihnen auch nicht wegnehmen, das wäre geradezu fahrlässig. Perspektivisch müsste es aber darum gehen, dass keine neuen Beschäftigten in die Werkstätten nachrücken, sondern Alternativen für eine echte Teilhabe gefunden werden.

BISS-Ausgabe Juli-August 2022 | Sommerzeit

Cover des BISS-Magazins Juli-August 2022

Thema | Sommerzeit | Liebe über Grenzen hinweg, Große und Kleine, die die Welt ein wenig besser machen wollen, und das Zusammenleben mit einer geflüchteten Familie | 6 Umweltschulen: Klimaschutz, ganz praktisch | 12 Binationale Partnerschaften: Nicht immer leicht, aber sehr bereichernd | 16 Interview: Der Schauspieler Ralf Bauer | 20 Wie also helfen? Über das Zusammenleben mit einer ukrainischen Familie | 26 Endlich Deutscher: Tibor Adamec ist eingebürgert worden | 5 Wie ich wohne | 24 BISS-Verkäufer*innen erzählen, was sie bewegt | Rubriken | 3 Editorial | 27 Patenuhren | 28 Freunde und Gönner | 30 Mein Projekt, Impressum | 31 Adressen

Endlich angekommen!

Die Einbürgerung von Tibor Adamec

Tibor Adamec ist ein BISSler der ersten Stunde. Er ist einer der ersten drei Verkäufer, die schon 1998 fest angestellt wurden. Seitdem verkauft er die Straßenzeitung an seinem Verkaufsplatz am Marienplatz im Zwischengeschoss, stets freundlich und gut gekleidet, zur Freude seiner vielen Stammkunden, die ihn sofort vermissen, wenn er einmal nicht zur gewohnten Zeit am späteren Vormittag erscheint. Tibor Adamec ist mit sich im Reinen.

Text KARIN LOHR

Foto: Magdalena Jooss

Fleißig und diszipliniert hat er sich ein gutes Leben aufbauen können. Es gab eigentlich nur einen Punkt, der ihm Verdruss bereitete: Er war staatenlos. Ein erster Versuch, die deutsche Staatsbürgerschaft zu erlangen, hat vor vielen Jahren nicht gleich geklappt. Damals war Herr Adamec auch ein bisschen gekränkt, weil er den Eindruck hatte, dass Deutschland ihn nicht als neuen Bürger haben wollte. Der zweite Anlauf, begleitet von unserer Werkstudentin Rita Rostschupkin, lief besser und so kam endlich der langersehnte Tag, an dem Herrn Adamec die deutsche Staatsangehörigkeit verliehen wurde. Das Kreisverwaltungsreferat in der Ruppertstraße ist ein eher schmuckloser Ort, aber Tibor Adamec hat der Behörde an diesem für ihn besonderen Tag Glamour verliehen: Er war wie aus dem Ei gepellt, makellose weiße Jeans, weißes Hemd, schwarz-weiß gemustertes Sakko und Krawatte, mutig im Mustermix und natürlich mit Hut! Fast hätte ihn der Pfortendienst zum Standesamt geschickt, als er sich mit dem Strauß roter und weißer Pfingstrosen nach der angegebenen Zimmernummer erkundigte. Dort lief alles reibungslos, Herr Adamec unterschrieb, nahm die Urkunde in Empfang und am Ende strahlten alle Anwesenden vor Freude und Erleichterung.
Natürlich hat Herr Adamec Pläne: Erst einmal will er verreisen, dazu braucht er einen Reisepass, den hat er gleich zwei Tage später beantragt. „Einmal wollte ich nach Dubai, da haben sie mich nicht reingelassen“, das könnte ihm jetzt nicht mehr passieren. BISS-Leser Reinhold H. mailte: „Ich wünsche Herrn Adamec noch eine sehr lange Reihe von sehr guten Jahren in München“ – danach sieht es aus!