114 Delegierte aus 29 Ländern trafen sich zum diesjährigen INSP-Kongress in Athen. Fünf Tage lang wurden Konzepte diskutiert, Erfahrungen ausgetauscht und Kooperationen vereinbart – bei sommerlichen 35 Grad und umgeben von antiker Schönheit
von Margit Roth
Für den diesjährigen INSP-Kongress, den jährlich stattfindenden Kongress der Straßenzeitungen, hatten die Organisatoren Athen gewählt, und das aus zweierlei Gründen: Zum einen sollte es ein Zeichen der Anerkennung für die Macher der neu gegründeten Straßenzeitung „Shedia“ sein und zum anderen eine Art wirtschaftliche Unterstützung für das gebeutelte Athen. In den letzten Jahren ist viel darüber geschrieben worden, wie verheerend die Auswirkungen der Wirtschaftskrise auf alle Bereiche des Lebens in Griechenland sind. Wir waren darauf vorbereitet, ähnlich wie vergangenes Jahr in Seattle und das Jahr davor in Glasgow, die Folgen des Geldmangels überall zu sehen. Doch genau das Gegenteil war der Fall – Athen wirkte aufgeräumt und lebendig. Die Märkte und Geschäfte waren gut besucht, die U-Bahnen voll, und abends, wenn die Temperaturen langsam erträglicher wurden, bevölkerten Einheimische und Touristen die Kneipen und Restaurants. Inmitten der Stadt, fast unwirklich schön und völlig unbeeindruckt von den Wirren der Tagespolitik, die Akropolis. Abgesehen von gelegentlichen Streiks, funktionierte die Infrastruktur reibungslos, leer stehende Häuser oder Geschäfte sah man nur selten. Aber nicht immer entspricht das, was man sieht, den tatsächlichen Verhältnissen. Wie es um Athen bestellt ist, durften die Organisatoren und TeilnehmerInnen hautnah erfahren.
Eine Woche vor Beginn der Tagung meldete das Hotel, in dem die Mehrzahl der TeilnehmerInnen untergebracht hätte werden sollen, Konkurs an und knipste die Lichter aus. Diejenigen also, die sich ansonsten beruflich mit den Ursachen und Folgen von Obdachlosigkeit befassen, waren plötzlich selbst ohne Obdach, zumindest temporär. Den Mitarbeiterinnen des INSP und den griechischen Kollegen vor Ort ist es zu verdanken, dass auf die Schnelle Ersatz gefunden werden konnte und der Kongress wie geplant stattfand. Eine echte Herkulesaufgabe, die das Organisationsteam des INSP mit englischem Humor, Herzblut und Pragmatismus meisterte, unterstützt von Christos Alefantis, dem Gründer von „Shedia“, der über die nötigen Beziehungen und Ortskenntnisse verfügte. Einziger Wermutstropfen für die TeilnehmerInnen: Das Hotel befand sich fast eine Stunde vom Tagungsort entfernt. In Rucksäcke und Taschen wurde morgens schon alles gepackt, was über den Tag hinweg gebraucht werden konnte: von der Sonnencreme bis hin zum warmen Schal für die extrem gekühlten Veranstaltungsräume, von der Abendgarderobe bis hin zu den bequemen Turnschuhen für den Ausflug zu den Flüchtlingscamps am Rande der Stadt. Beim „Global Street Paper Summit“ treffen sich jedes Jahr MacherInnen und VerkäuferInnen von Straßenzeitungen aus aller Welt. Im INSP (International Network of Streetpapers) sind Straßenzeitungen aus 35 Ländern organisiert – von Japan bis Brasilien und von Südafrika bis Norwegen. 112 Zeitungen sind es insgesamt, 25.000 Menschen sind weltweit unterwegs, um ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Die BISS gehört mit zu denjenigen Straßenzeitungen, die 1994 den INSP gründeten. Damals wie heute dient das Netzwerk dem Austausch von Erfahrungen, dem Kennenlernen neuer Modelle zur Betreuung und Einbindung der VerkäuferInnen, dem gemeinsamen Entwickeln neuer Konzepte und vor allen Dingen auch dazu, sich gegenseitig Mut in schwierigen Phasen zu machen und besonders jungen Straßenzeitungen, wenn es nicht anders geht, auch finanziell unter die Arme zu greifen. Ein besonderes Kongress-Highlight ist in jedem Jahr der Eröffnungsvortrag. Dieses Jahr wurde er von Yanis Varoufakis, dem früheren griechischen Finanzminister, gehalten. Über seine Ansichten mag man geteilter Meinung sein, in jedem Fall aber ist er ein charismatischer Redner, der es versteht, seine Sicht auf Politik und Gesellschaft mit scharfen Worten zu vertreten. Er spannte den Bogen vom Beginn der Industrialisierung und der Entstehung des Arbeitsmarktes in England bis hin zu den Gründen, warum auch heute noch Armut und Obdachlosigkeit ihre Funktion im Kapitalismus erfüllen und deshalb staatlich gewollt sind. Richtig spannend wurde es in der anschließenden Frage-undAntwort-Runde. Karin Lohr wollte wissen, warum es dem griechischen Staat nicht gelingen will, Steuern einzutreiben. Varoufakis nahm die Frage sichtlich begeistert auf. Für ihn ist es in erster Linie die sogenannte Troika, die das Problem verstärkt, anstatt bei dessen Lösung mitzuhelfen. Die Troika, bestehend aus Vertretern der Europäischen Zentralbank, des Internationalen Währungsfonds und der Europäischen Kommission, sei es, die den Superreichen Griechenlands in Ländern wie Luxemburg einen sicheren Steuerhafen anbiete. Die Troika sei es auch, die durch gezielte Personalpolitik verhindere, dass durch Datenabgleich Steuersünder unter den Superreichen überhaupt identifiziert werden können. Selbst in seinem Ministerium gelang es der Troika, einen Mitarbeiter einzusetzen, der seine Pläne zum Aufspüren von Steuersündern sabotierte. Der einfache Bürger leidet, die Reichen, die Steuergelder in die Kassen spülen könnten, werden offiziell oder inoffiziell von ihren Steuerverpflichtungen entbunden. Die Vorträge und Diskussionen in den darauffolgenden Tagen waren sehr viel weniger dogmatisch, dafür aber an den Alltagsproblemen der Straßenzeitungen aus aller Welt orientiert. Wie kann ich mein Heft interessanter gestalten? Was braucht es, um eine erfolgreiche Kampagne zu starten? Welche Beschäftigungsmodelle für Verkäufer lassen sich in den jeweiligen Ländern umsetzen? BISS versucht seit vielen Jahren sein Beschäftigungsmodell zu er- klären und leistet Überzeugungsarbeit. BISS ist nämlich nach wie
vor die einzige Straßenzeitung, die konsequent so viele Verkäu- ferInnen wie möglich fest anstellt und ihnen damit auch die Vorteile einer sozialversicherungspflichtigen Anstellung zukommen lässt. BISS-VerkäuferInnen sind kranken- und rentenversichert, haben Anspruch auf Urlaub und bekommen auch dann ihr Gehalt ausbezahlt, wenn sie krankheitsbedingt ausfallen. Die Diskussionen über Finanzierungsmodelle endeten keineswegs an den Türen der Seminarräume – auch beim Abendessen wurde diskutiert, gerechnet und nach Umsetzungsmöglichkeiten gesucht. Tagungen finden zwar oft an spannenden Orten statt, wegen der Programmdichte bekommt man aber selten etwas von der Umgebung zu sehen. Um die TeilnehmerInnen hinter die Kulissen einer Stadt blicken zu lassen, werden auf jedem Kongress Fahrten zu Orten organisiert, die eine besondere Bedeutung für die Stadt und die Straßenzeitung vor Ort haben. In Athen war es das Flüchtlingscamp Eleonas, in dem 2.300 Flüchtlinge untergebracht sind. In Griechenland gibt es an die 45 Flüchtlingscamps, allein in der Umgebung Athens sind es vier. Der zweite Bürgermeister Athens, Lefteris Papagiannakis, führte die KongressteilnehmerInnen persönlich durch das Camp und lud zu Gesprächen mit den Bewohnern ein. Vielleicht lag es an der Größe der Besuchergruppe, vielleicht auch an der Hitze oder am Ramadan – die Bewohner blieben einsilbig und erzählten wenig über ihre Lebenssituation. Die Akropolis kennt beinahe jedes Kind aus den Geschichtsbüchern. Seit zweieinhalbtausend Jahren steht sie auf einem Hügel inmitten der Stadt. Sie wurde von Perikles zu Ehren der Göttin Athene erbaut, von den Christen umgebaut und diente über 300 Jahre als Moschee. Im 17. Jahrhundert wurde sie von den Venezianern weitgehend zerstört. Erst seit den 80er-Jahren des letzten Jahrhunderts versuchen Wissenschaftler die Akropolis möglichst originalgetreu wieder aufzubauen und den Tempeln und Gebäuden zu neuem Glanz zu verhelfen. Die Akropolis ist in Athen omnipräsent. Nach drei Tagen konnten auch wir uns ihrer Schönheit nicht mehr entziehen, und wir beschlossen mit KollegInnen aus Japan, Russland, den USA, Slowenien, der Ukraine und Brasilien, die Akropolis in den frühen Morgenstunden zu besichtigen. Keineswegs wach, dafür aber guter Laune wanderten wir morgens um sechs Uhr fünf Kilometer durch die Stadt, vorbei am Olympiastadion und interessiert betrachtet von Athenern auf dem Weg zur Arbeit. Um kurz vor acht waren wir am Fuße des geschichtsträchtigen Berges und konnten bei noch erträglichen 32 Grad den Blick über die Stadt genießen. Die Akropolis hat schon viel überstanden und nichts von ihrer Schönheit eingebüßt. Wie kaum die Bewohner einer anderen Stadt, scheinen die Athener verinnerlicht zu haben, dass es gute und schlechte Zeiten gibt – Athen aber immer ein kulturelles Zentrum und ein unverwechselbarer Ort bleiben wird. Vielleicht ist es das, was Athen den KongressteilnehmerInnen mit auf den Weg gab – die Hoffnung nicht zu verlieren und die Schönheit des Augenblicks zu genießen.