Die Abtei Sankt Bonifaz im Münchner Stadtteil Maxvorstadt kümmert sich um Bedürftige und Obdachlose. Auf dem Gelände der ehemaligen Klostergärtnerei steht das Haneberghaus, in dem Gäste normalerweise ein warmes Essen und Kleidung bekommen, sich duschen können, einen Sozialarbeiter und einen Arzt konsultieren können. Der 54 Jahre alte Frater Emmanuel Rotter und sein Team kümmern sich auch in der Corona-Krise um Menschen auf der Straße – allerdings sind die Angebote derzeit stark eingeschränkt.
Interview CLAUDIA STEINER
Foto TOBY BINDER

Das Motto der Obdachlosenhilfe von Sankt Bonifaz lautet: „Keine Vorschriften machen, sondern Türen aufmachen.“ Geht das überhaupt in Zeiten der Pandemie?
FRATER EMMANUEL ROT TER: Ganz beschwerlich. Ganz beschwerlich geht es, die Türen aufzuhalten und das zu tun, was wir vor der Pandemie gemacht haben. Wir fahren während der Corona-Krise alles sehr reduziert. Das Haneberghaus in Sankt Bonifaz ist nicht gebaut für eine Pandemie. Wir haben nur einen Eingang, der direkt in den Speisesaal führt. In dem Gebäude sind auch die Arztpraxis, die Sozialarbeit, die Kleiderkammer und die Duschen. Mir war es besonders wichtig, dass wir die Praxis offen halten können, weil viele unserer Gäste unversichert und krank sind.
Das heißt, welche Angebote können Sie im Moment unter den geltenden Abstandsund Hygieneregeln anbieten?
Wir geben seit Beginn der Krise Lunchpakete aus, im Moment sowie donnerstags und freitags, leider Gottes kein warmes Essen. Aber das wäre wegen der Abstandsregeln nicht möglich. Aber die Gäste haben zumindest was zu essen. Aber ich bin glücklich darüber, dass die D3 der Caritas in der Hirtenstraße Bedürftigen warmes Essen anbietet. Die Duschen und die Kleiderkammer sind nur noch am Mittwoch und am Samstag offen, statt wie vor der Krise an vier Tagen die Woche. Die Arztpraxis aber ist wie immer viermal die Woche offen. Wir behandeln weiter Kranke, versorgen Wunden und geben auch Mundschutz aus, wenn wir sehen, dass jemand mit einem total zerfetzten Mundschutz ankommt.
Warum trifft die Corona-Krise Obdachlose besonders hart?
Die meisten Menschen auf der Straße sind gesundheitlich schlecht beieinander. Oft ist ihr Immunsystem sowieso schon geschwächt, und wenn dann noch Corona dazukommt, wird es schwierig. Ich denke, dass 80 Prozent unserer Gäste Vorerkrankungen haben und deshalb zu einer Risikogruppe gehören – aber das ist natürlich nur eine Schätzung.
Kennen Sie Obdachlose, die an Corona erkrankt sind?
Ja, wir kennen auch Gäste, die mit oder an Corona gestorben sind. Ich kenne für München aber keine Zahlen von erkrankten oder infizierten Obdachlosen. Wir messen bei Patienten, die zu uns in die Arztpraxis kommen, immer Fieber, machen Schnelltests und im Zweifel veranlassen wir auch einen PCR-Test. Wenn jemand positiv ist, kümmert sich die Stadt darum, dass er oder sie ein Zimmer in einer Pension bekommt und dort in Quarantäne kann.
Vor Kurzem haben die Impfungen gegen Corona begonnen. Bundesgesundheitsminister Jens Spahn sagte: „Rufen Sie uns nicht an, wir werden Sie anrufen.“ Aber wie soll das bei Menschen funktionieren, die auf der Straße leben?
Ich hoffe, dass Arztpraxen wie unsere oder auch die Praxis für Wohnungslose in der Pilgersheimer Straße kontaktiert werden, wenn Impfstoff für unsere Patienten da ist. Ich wünsche mir, dass Obdachlose nicht vergessen werden. Aber noch wissen wir nicht, wie das genau ablaufen soll.
Das Motto in der Krise heißt „Bleiben Sie daheim.“ Es gelten Ausgangsbeschränkungen von 21 bis 5 Uhr – wie gehen Menschen, die kein Zuhause haben, mit solchen Vorgaben um?
Manche schlafen in Massenunterkünften wie der Bayernkaserne. Aber viele wollten schon vor der Pandemie da nicht hin. Wegen Corona meiden viele solche Unterkünfte erst recht, weil sie Angst haben, sich anzustecken. Viele bleiben deshalb lieber auf der Straße. Sie versuchen, sich einen Platz zu suchen, wo sie nicht aufgestöbert werden. Bisher habe ich von unseren Leuten aber noch nichts gehört, dass sie – wenn sie im Park oder auf der Straße schlafen – vertrieben wurden.
Die Straßen sind leer, Kneipen und Restaurants zu. Was heißt das fürs tägliche Überleben?
Für viele Obdachlose fallen schlicht die Einnahmemöglichkeiten weg. Es sind weniger Leute unterwegs. Das heißt, Obdachlose, die betteln, bekommen weniger Geld, und es gibt zum Beispiel auch weniger Flaschen, die rumstehen und die man sammeln könnte, um an Geld zu kommen. Wir, aber auch andere Organisationen merken, dass die Nachfrage nach Essen sehr groß ist. Und für Alkoholiker ist es natürlich auch schwierig. Die brauchen ja ihren Alkohol, ein kalter Entzug kann tödlich sein.
In der Bevölkerung hat der Alkoholkonsum in der Corona-Krise teilweise stark zugenommen. Viele ihrer Gäste haben bereits ein Alkoholproblem, hat Corona einen zusätzlichen Einfluss auf das Suchtverhalten?
Ob Corona einen zusätzlichen Einfluss hat, kann ich nicht sagen. Aber gerade um die Weihnachtszeit merke ich immer – unabhängig von Corona –, dass das mit dem Alkohol stark zunimmt. Da kommen dann Gefühle auf, man erinnert sich an sein altes Leben, an die Familie und die Kinder, die man einmal hatte. Also im November, Dezember nimmt das Trinken immer stark zu, danach ist es meist wieder besser.
Viele Menschen leiden in der Corona-Krise unter den Kontaktbeschränkungen und fühlen sich einsam. Ist das auch ein Problem für Obdachlose?
Das kann man so allgemein nicht sagen. Es gibt Einzelgänger, die froh sind, wenn sie ihre Ruhe haben, und es gibt welche, die lieber in der Gruppe sind und Kontakt wollen. Für die ist es schwierig, weil die Tagesaufenthalte wegfallen oder zumindest zeitlich stark reduziert sind. Da kann dann natürlich auch das Gefühl der Einsamkeit aufkommen. Es kommen immer wieder Leute auf mich zu und fragen: „Wann macht ihr denn endlich wieder auf?“
Was können Bürger konkret tun, die Obdachlosen in der Corona-Krise helfen wollen?
Eigentlich genau dasselbe, was sie vor der Krise schon tun konnten. Man kann Organisationen Geld spenden, die sich um Obdachlose kümmern. Man kann den Menschen auf der Straße Geld geben. Sprechen Sie die Leute an. Fragen Sie nach, ob sie was zu essen oder zu trinken möchten. Bringen Sie vielleicht auch mal warmes Essen vorbei. Insgesamt muss ich aber sagen, dass die Hilfsbereitschaft der Menschen enorm ist. Gott sei Dank! Ganz allgemein wünsche ich mir, dass man die Menschen auf der Straße annimmt. Es sind Menschen mit prekären Situationen, sie gehören zur Gesellschaft. Das war mein Wunsch vor der Pandemie und das ist noch immer mein Wunsch.
Obdachlose in München
Bisher ging das Sozialreferat von schätzungsweise 550 Menschen aus, die in München auf der Straße leben. Die jüngsten Schätzungen der Praktiker*innen gehen eher von 1.000 Obdachlosen aus. Beim Kälteschutzprogramm (seit 2019 Übernachtungsschutz) handelt es sich um ein freiwilliges Angebot der Landeshauptstadt München, das insbesondere für obdachlose Zuwander*innen aus den süd- und osteuropäischen EU-Staaten, die sich zur Arbeitssuche in München aufhalten, konzipiert wurde. Das Angebot wurde über die Jahre von 200 auf 850 Bettplätze ausgeweitet. Es besteht seit 2019 als ganzjähriges, niedrigschwelliges Angebot auf dem Gelände der ehemaligen Bayernkaserne. Die Übernachtungszahlen im Übernachtungsschutz vom Oktober 2019 (ohne Corona) und Oktober 2020 (mit Corona) unterscheiden sich kaum. Im Oktober 2020 übernachteten dort durchschnittlich 356 Personen pro Nacht. Hilfsangebote für Obdachlose während der Corona-Krise In München gibt es auch in der Corona-Krise für obdachlose Menschen verschiedene Anlaufstellen, Tagestreffs, Beratungsstellen und Streetwork – allerdings sind einige Angebote derzeit eingeschränkt:
Beratungsstelle Destouche 89 Destouchestraße 89, Tel. 089 3600626-0
Infozentrum Migration und Arbeit mit dem Beratungscafé Sonnenstraße 12, II. Aufgang, 1. OG Tel. 089 51399932 oder 089 51399855
„Bildung statt Betteln“ Goethestraße 53, Tel. 089 724499200
Bahnhofsmission München Hauptbahnhof, Gleis 11, Tel. 089 594576
Haneberghaus St. Bonifaz Karlstraße 34, Tel. 089 55171-300
Teestube „komm“ Zenettistraße 32, Tel. 089 771084
otto & rosi Rosenheimerstraße 128 D, Tel. 089 32808669
Begegnungszentrum D3 Dachauerstraße 3, Tel. 089 55169624
Das Sozialreferat zahlt für diese Angebote jährlich Zuschüsse in Höhe von rund fünf Millionen Euro.