Von
ANNA SCHMID
Jugendliche wollen sich engagieren – doch irgendwie muss dieses Engagement in den vollgepackten Alltag passen. Und wer nicht weiß, in welcher Stadt er morgen studieren wird, lässt sich vielleicht nicht gern auf ein längeres Projekt ein. Doch wer will, findet viele Möglichkeiten.

Ich habe sie sehr bewundert“, sagt Roxana. Zwei Jahre lang hat die 18-jährige Schülerin eine Bewohnerin in einem Münchner Pflegeheim besucht, jeden Sonntag für eine oder anderthalb Stunden. Die beiden haben Zeit miteinander verbracht, sich unterhalten und zusammen Kuchen gegessen. Roxana möchte nächstes Jahr ihre allgemeine Hochschulreife machen und überlegt gerade, was sie danach studieren will. Anders als die Frau, die in diesem Text Klara Müller heißt, haben sie und ihre Mitschülerinnen heute beinahe alle Möglichkeiten. „Ihr Leben war so anders als meines“, sagt sie. Vor wenigen Wochen ist Klara Müller gestorben. Wie alt sie war, wollte sie ihrer Besucherin nie verraten. 272 Bewohner leben in verschiedenen Wohnbereichen in dem Münchner Pflegeheim, das sich auf die Betreuung und Pflege dementer Menschen spezialisiert hat.
Das Haus liegt inmitten eines idyllischen Gartens mit Bänken unter alten Bäumen, einem kleinen Teich und einem Hühnerstall, in dem Hahn Pablo zusammen mit den Hennen Babette, Nora, Trudi und Dori lebt. Rausgehen wollte Klara Müller nicht gern, erzählt Roxana. „Sie war nicht mehr gut zu Fuß und ihr war immer kalt.“ Also trafen sich die beiden meist im Aufenthaltsraum zu Kaffee, Kuchen und Gesprächen. Vor ihrer ersten Begegnung mit Frau Müller sei sie unsicher gewesen, erinnert sich Roxana. Sie fragte sich, worüber sie mit der alten Dame reden sollte. Gab es etwas, das sie lieber nicht ansprechen sollte? Doch das habe sich rasch gegeben. „Wenn man kommunikativ unterwegs ist, geht das“, meint sie. Nach dem Tod von Frau Müller ist Alica Hörter, Ansprechpartnerin für die Ehrenamtlichen im Haus, auf der Suche nach einer „neuen“ Dame, die Roxana in Zukunft besuchen könnte. Denn für die Schülerin ist klar, dass ihre Arbeit im Pflegeheim weitergehen wird. „Alte Menschen haben so eine Ruhe in sich“, sagt sie. „Sie haben so viel zu erzählen.“ Während ihrer gemeinsamen Zeit hat Klara Müller auch ihr geholfen. Sie hat ihren Wechsel von der Realschule auf die höhere Schule begleitet und Druck von ihr genommen: „Ich habe von ihr gelernt, mich von der Schule nicht stressen zu lassen. Dass es keine Eins sein muss, sondern dass eine 1,5 auch geht“, erzählt Roxana.
Auf die Idee, sich im Pflegeheim vorzustellen, kam die Schülerin über ein Praktikum. „Compassion“ heißt das Projekt, bei dem Schülerinnen und Schüler zwei Wochen in einer sozialen Einrichtung arbeiten: in Krankenhäusern, Obdachlosenheimen oder in Einrichtungen für Menschen mit Behinderung, im Pflegeheim wie Roxanas Freunde damals oder im Kindergarten wie Roxana, die zunächst dort hineinschnupperte. Als ihre Freunde ihr später von ihrer Zeit im Pflegeheim erzählten, wurde Roxana neugierig und bewarb sich aus eigener Initiative: Sie googelte, fand die Stelle und schrieb eine Mail. Im Garten des Pflegeheimes traf sie sich mit der Ehrenamtskoordinatorin des Hauses, Alica Hörters Vorgängerin, und unterschrieb einen Vertrag. Die beiden besprachen, welche Aufgaben Roxana als Ehrenamtliche übernimmt und welche nicht. Sie muss die Bewohnerin nicht zur Toilette bringen und ebenso gehören alle anderen pflegenden Tätigkeiten nicht zu ihren Aufgaben, sondern sind Sache der Pfleger. „Die Ehrenamtlichen hier haben viel Verantwortung. Auch wenn sie jederzeit beim Pflegepersonal um Unterstützung bitten können, ist der direkte Eins-zu-eins-Kontakt mit dementen Bewohnern nicht immer einfach“, sagt Hörter.
Auch Roxana erzählt, dass sie am Anfang Angst hatte, dass Frau Müller aus dem Rollstuhl fallen könnte. Was sie dann gemacht hätte? „Alica angerufen“, sagt sie sofort. Insgesamt 70 Ehrenamtliche im Haus kümmern sich um die Bewohner: Die meisten sind selbst schon im Rentenalter. Sie arbeiten nicht mehr, ihre Kinder sind aus dem Haus und sie können frei über ihre Zeit verfügen. Nur fünf Ehrenamtliche sind jünger als 30 Jahre. „Die Lebenswelt von Jugendlichen ist eine andere. Ihr Tagesablauf ist nicht immer gleich, sie haben zum Beispiel Prüfungsphasen, in denen sie viel lernen müssen. Oder es gibt andere Veränderungen in ihrem Leben, nach denen einfach keine Zeit mehr da ist“, sagt Alica Hörter. Deswegen hat man sich beim Träger des Heims ein fünfeinhalb Wochen dauerndes Projekt überlegt, bei dem Interessierte einen Eindruck von der ehrenamtlichen Arbeit bekommen: Sie sind bei Sportrunden dabei, lesen den Bewohnern aus der Zeitung vor oder gehen mit ihnen spazieren. „Viele, die an dem Programm teilgenommen haben, sind danach auch dabeigeblieben“, sagt Hörter. Manche Teilnehmer blieben nicht direkt im Anschluss, kämen aber später wieder, etwa wenn sie ihre Ausbildung abgeschlossen haben und der Alltag geregelter ist. Wer sich länger binden will und kann, kann wie Roxana und die meisten Ehrenamtlichen im Haus eine Eins-zu-eins-Betreuung übernehmen. „Dabei geht es darum, die Bewohner zu besuchen, ihnen zuzuhören, vielleicht gemeinsam rauszugehen. Die Ehrenamtlichen haben ein paar Stunden Zeit in der Woche und bilden mit den Bewohnern feste Teams, von denen viele über Jahre bestehen bleiben“, erklärt Hörter.
Für die Ehrenamtlichen bedeute dies, sich länger festzulegen. Denn die Bewohner bauen mit der Zeit eine Beziehung zu ihnen auf. Dass junge Menschen sich höchstens kurzfristig engagieren wollen, werde ihnen oft nachgesagt, sagt Hanna Lutz, Mitinitiatorin und Geschäftsführerin der 2015 gegründeten Freiwilligen-Plattform Vostel. Doch sie und ihre Kollegen beobachten sogar eher eine Tendenz zum langfristigen Engagement bei jungen Leuten. Auf der Plattform können Freiwillige und solche, die es werden wollen, in mehreren deutschen Großstädten nach passenden Angeboten suchen: nach langfristigen Engagements ebenso wie nach Projekten, die spontan für ein paar Stunden jemanden suchen. Eine Momentaufnahme nach dem Gespräch mit Lutz zeigt: In München braucht eine Organisation für ein Mentorenprogramm junge Erwachsene bis 30 Jahre, die sich einmal die Woche zwei bis drei Stunden als Paten um Kinder kümmern. Eine andere Initiative sucht weibliche Ehrenamtliche, die geflüchtete Frauen in einem Frauencafé unterstützen, auch kurzfristig oder nur einmal. Viele Organisationen wollten zunächst Ehrenamtliche, die sich langfristig binden. Doch die Erfahrung habe gezeigt, dass kurzfristige Engagements ein Türöffner zum langfristigen Engagement sein können, sagt Lutz. Wer etwa einmal beim Sommerfest einer Organisation Kuchen verkauft hat, habe die schon einmal kennengelernt und binde sich so leichter länger, erklärt sie. Vostel fungiert als Vermittler zwischen den Freiwilligen und den Organisationen. Diese schreiben in ihren Anzeigen auf der Seite, worum es geht und welche Voraussetzungen Freiwillige mitbringen sollten: Ob sie etwa ein erweitertes Führungszeugnis brauchen oder wie gut ihre Deutschkenntnisse sein sollen. Mehr als 14.000 Menschen hat die Plattform seit ihrer Gründung im Jahr 2015 auf diesem Wege schon vermittelt, erzählt Lutz im Gespräch. Der älteste Freiwillige war 86, im Schnitt sind die Ehrenamtlichen aber etwa 25 Jahre alt.
Mit dem digitalen Angebot will das in Berlin ansässige Unternehmen junge Leute da abholen, wo sie ohnehin schon sind: im Internet. Einer aktuellen, bundesweiten Umfrage des Unternehmens unter 1.067 jungen Menschen zwischen 18 und 33 Jahren zufolge sind mit 45,8 Prozent die meisten von ihnen über Familie, Freunde und Bekannte an ihr Engagement gekommen. Die aktive Suche im Internet, etwa bei Google, liegt dann mit 18,8 Prozent auf Platz 2. Soziale Netzwerke, heißt es beim Unternehmen, spielten zwar bei der aktiven Suche keine größere Rolle, seien aber wichtig, wenn jemand zufällig auf ein Angebot stößt. Dass freiwilliges Engagement in Deutschland weit verbreitet ist, belegt der Freiwilligensurvey, eine umfassende, repräsentative Studie, die das Bundesfamilienministerium seit 1999 alle fünf Jahre durchführen lässt.
Laut der letzten Veröffentlichung von 2014 engagierten sich 43,6 Prozent der Deutschen ab 14 Jahren freiwillig – also beinah jeder Zweite. Am beliebtesten war dabei der Bereich Sport und Bewegung: 16,3 Prozent der Befragten gaben an, sich in diesem Bereich zu engagieren, also etwa in einem Sportverein. Mitglied in mindestens einem Verein oder in einer gemeinnützigen Organisation waren der Erhebung zufolge 44,8 Prozent der in Deutschland lebenden Menschen, dazu gehören nicht nur Sportvereine, sondern die vielen anderen Vereine in Deutschland, etwa Bildungs- und Fördervereine. Und wer einmal in einem Verein ist, übernimmt leichter freiwillige Aufgaben, heißt es in der Untersuchung: etwa wenn ein Mitglied seit Jahren im Sportverein trainiert und später gefragt wird, ob es
nicht auch eine Gruppe trainieren will.
So war das auch bei Luisa. Die 17-Jährige tanzt Hip-Hop im Verein, seit sie in die fünfte Klasse ging. Zusätzlich unterrichtet sie in zwei Münchner Sportvereinen Kinder im Alter zwischen vier und 13 Jahren – jedenfalls wenn nicht gerade Corona-Lockdown herrscht. „Es ist schön, gemeinsam mit den Kindern etwas zu erreichen. Und zu sehen, dass ich wichtig für sie geworden bin, wenn sie mit ihren Problemen zu mir kommen“, sagt sie. Neben ihrer Aktivität im Sportverein engagiert sich die Gymnasiastin in der StadtschülerInnenvertretung, der Schülervertretung der Stadt München (SSV). Die vertritt die Interessen der Schülerinnen und Schüler gegenüber der Politik. Gemeinsam mit anderen Institutionen hat die SSV sich etwa für die Einführung des 365-Euro-Tickets eingesetzt, mit dem Schüler und Schülerinnen, Auszubildende oder FSJler seit diesem Schuljahr das MVV-Netz für einen Euro am Tag nutzen können.
Und im Münchner Schüler*innenbüro hilft Luisa bei der Organisation des Besser-Kongresses, bei dem sich jedes Jahr etwa 200 Schüler und Schülerinnen aus München und Bayern treffen und sich über die Arbeit in der Schülervertretung austauschen. Dort stehen verschiedene Workshops und Diskussionen auf dem Programm. In diesem Jahr ging es zum Beispiel um Themen wie Ernährung, Nachhaltigkeit oder Zeitmanagement. Die Schülerinnen und Schüler bereiten Workshops vor und laden Teilnehmer verschiedener Parteien zu einer Podiumsdiskussion ein. Gemeinsam mit zwei Kolleginnen hat Luisa im Vorfeld bei der Koordination eines 20-köpfigen Teams geholfen. Durch ihre Engagements habe sie sich persönlich weiterentwickelt, sagt Luisa. Sie sei selbstbewusster geworden und habe gelernt, im Team zu arbeiten. Gerade allerdings hat sich die Zwölftklässlerin wegen der Schule ein wenig aus ihrer Arbeit bei der SSV zurückgezogen. Das sei das Gute, sagt sie: „Man kann sich bei der SSV voll reinhängen, wenn einen ein Thema interessiert, und rausnehmen, ohne dass jemand sauer wird.“ Im Sportverein sei das anders.
Doch die Planung dort wird ein Jahr vorher gemacht – und deshalb sei es auch leicht, das Training in den Alltag zu integrieren: „Man weiß ja ungefähr, was in einem Jahr auf einen zukommt. Und wenn es doch zu viel werden sollte, bin ich mir sicher, dass die Trainer und ich eine Lösung finden.“ Im Juni will Luisa ihr Abitur machen und ihren Plan für später sieht sie schon glasklar vor sich: In München möchte sie Lehramt an der LMU studieren, Psychologie und Englisch sollen es werden. Warum Lehramt? „Ich will Kindern etwas beibringen“, sagt sie fest. Sie erzählt, dass sie in ihren Mittagspausen, wenn sie nicht selbst lernt, noch Nachhilfe gibt. Ob ihre Tage nicht ganz schön verplant sind? „Gut genutzt“, sagt sie selbstbewusst und lacht. Für ein Treffen mit Reporterin und Fotografin hat sie nur kurz Zeit, sie muss gleich weiter in den Laden, in dem sie neben der Schule noch ein bisschen Geld verdient. Auch Roxanas freie Zeit ist knapp, ihre Schultage ziehen sich bis in den Nachmittag. Für Klara Müller hat sie sich an den Sonntagen Zeit genommen, vor Prüfungen vielleicht mal etwas weniger. Sie sagt: „Die eine Stunde, die hat jeder.“