Interview CHRISTINA HERTEL
Warum der Kontostand in vielen Fällen entscheidend ist, ob jemand vor Gericht ziehen kann, erklärt der Jurist Gerhard Grossmann im Interview.

Jeder hat das Recht auf Verteidigung, heißt ein Grundsatz. Rechtsanwalt Gerhard Grossmann sagt jedoch, dass nicht jeder dieses Recht gleichermaßen einfordern kann. Entscheidend sei in vielen Fällen, wie gut gefüllt der Geldbeutel ist. Zu dieser Meinung kommt Grossmann durch seine Arbeit beim H-Team. Seit zehn Jahren berät er dort arme Menschen in Rechtsfragen und erlebt häufig, dass es schwierig für sie ist, einen Anwalt zu finden oder einen Prozess zu beginnen, wenn sie sich ungerecht behandelt fühlen. Eigentlich gibt es für bedürftige Menschen die Möglichkeit, Prozesskostenhilfe zu beantragen. Doch nicht immer bewilligen die Gerichte diese. Das Amtsgericht München wies im vergangenen Jahr von rund 4.760 Anträgen 700 ab. Im Bereich des Miet- und Verkehrsrechts zum Beispiel gewährte es 386 von 607 gestellten Anträgen. Interpretieren möchte das Gericht diese Zahlen nicht. Doch Rechtsanwalt Grossmann erklärt im Interview, weshalb es für arme Menschen schwieriger sein kann, vor Gericht zu ziehen, und warum nicht nur die Gier Anwälte dazu bringt, lieber Reiche zu verteidigen.
Bekommt in Deutschland jeder Bürger Rechtsbeistand?
GERHARD GROSSMANN: Grundsätzlich stimmt das. Menschen, die sich keinen Anwalt leisten können, haben die Möglichkeit, bei Gericht einen Antrag auf Prozesskostenhilfe zu stellen. Aus meiner Erfahrung heraus kann ich allerdings sagen: Einen Anwalt und dessen Kosten erstattet zu bekommen setzt einiges voraus. Ich sage meinen Klienten deshalb immer, dass sie einen langen Atem haben müssen.
Wie lange dauert es, bis sie einen Anwalt gefunden haben?
Ich würde schätzen, dass meine Klienten vielleicht bei einem von zehn Anwälten Glück haben und er ihren Fall annimmt. Natürlich gibt es dazu keine Statistiken. Doch von Kollegen, die auch beraten, höre ich immer wieder, dass sie ähnliche Erfahrungen machen.
Warum ist es für arme Menschen so schwierig, einen Anwalt zu finden?
Für Anwälte sind solche Verfahren mit einem hohen Aufwand verbunden. Als Erstes, noch bevor der Anwalt den Antrag stellt, muss er prüfen, ob der Mandant bedürftig ist und ob das beabsichtigte Verfahren Aussicht auf Erfolg hat. Nur wenn der Anwalt das eingehend begründet, gewährt das Gericht die Prozesskostenhilfe. Das ist ein enormer Aufwand. Lehnt das Gericht den Antrag am Ende trotzdem ab, bezahlt niemand für seine Arbeit. Ein weiteres Problem entsteht, wenn der Prozess verloren geht. Dann müssen die Mandanten die Kosten des gegnerischen Anwalts übernehmen. Auch das schreckt viele ab.
Was müssen Anwälte und ihre Mandanten tun, um einen Antrag auf Prozesskostenhilfe zu stellen?
Zuerst müssen meine Klienten auf einem vierseitigen Formblatt verschiedene Fragen zu ihrer finanziellen Situation beantworten. Was verdienen Sie? Haben Sie Unterhaltsansprüche? Welche Wohnkosten haben Sie? Das klingt erst einmal banal. Doch oftmals ist es gar nicht so leicht, zu sagen, aus was sich die Wohnkosten insgesamt zusammensetzen. Dann müssen die Mandanten für all diese Fragen Belege finden. Außerdem müssen sie detailliert darüber Auskunft geben, wie viel Bargeld sie besitzen, ob sie Lebensversicherungen oder andere Vermögenswerte haben.
Warum ist das ein Problem?
Vielen Menschen ist es unangenehm, das alles offenzulegen. Es gibt keine Garantie, dass der Antrag bewilligt wird. Bei Klienten, die Hartz IV bekommen, ist das meistens der Fall. Aber wenn sie eine kleine Rente oder ein geringes Einkommen beziehen, schauen die Gerichte in München oft sehr genau hin. Dann kann es sein, dass sie noch mehr Belege sehen wollen. Für den Anwalt geht die Arbeit dann wieder von vorne los.
Können Sie mir von einem typischen Fall erzählen?
Vor Kurzem habe ich eine wohnungslose Frau vertreten, deren früherer Vermieter behauptete, sie habe noch Mietrückstände bei ihm. Sie hat ausgeführt, dass sie in Unfrieden aus der Wohnung ausgezogen sei, die Miete aber immer persönlich bar bezahlt habe. Ich habe ihr dabei geholfen, das Formblatt auszufüllen. Das Nettoeinkommen der Frau schwankte zwischen 1.200 und 750 Euro. Weil ihr Einkommen so gering war, fand sie keine bezahlbare Wohnung und schlief unter der Woche bei Freunden und am Wochenende bei ihrer Tochter. Das Gericht lehnte den Antrag auf Prozesskostenhilfe jedoch ab, weil die Frau angeblich zu viel verdiene.
Wie kam das Gericht darauf ?
Die Richterin ist deshalb zu diesem Ergebnis gekommen, weil meine Mandantin als Wohnungslose keine Miete von ihrem Einkommen absetzen konnte. Als ich eindringlich nachfragte, stellte sich jedoch heraus, dass sie für die Übernachtungen bei ihrer Tochter 200 Euro Miete zahlte. Trotzdem genehmigte das Gericht den Antrag nicht sofort, weil zwischen Mutter und Tochter kein Untermietvertrag bestand. Eigentlich ist das zwischen Verwandten nicht erforderlich, jedoch genehmigte das Gericht die Prozesskostenhilfe erst, als wir diesen vorlegen konnten. Mein Honorar betrug 300 Euro; der Arbeitsaufwand lag bei etwa 20 Stunden. Wenn Anwälte eine Büromiete oder Angestellte bezahlen müssen, können sie sich nicht leisten, solche Fälle häufiger zu übernehmen.
Wonach richtet sich das Honorar in so einem Fall?
Das Honorar richtet sich nach der Höhe des Streitwerts. In dem geschilderten Fall betrug der Streitwert 650 Euro.
Müssen Anwälte solche Fälle trotzdem annehmen?
Theoretisch ja, aber sie können sich immer damit herausreden, dass sie sagen, sie seien gerade überlastet. Ich kann ihnen das nicht verdenken. Denn Anwälte haben mit solchen Fällen auch dann noch Arbeit, wenn sie bereits abgeschlossen sind. Bis zu vier Jahre kann das Gericht von dem Anwalt Nachweise verlangen, die beweisen, dass der Mandant nicht plötzlich einen neuen Job gefunden oder im Lotto gewonnen hat. Der Anwalt ist verpflichtet, zu melden, wenn sein Mandant umzieht.
Könnte ein Grund auch sein, dass sich die Anwälte schämen, wenn ihre Mandanten nicht so aussehen, als würden sie ihre Garderobe auf der Maximilianstraße kaufen?
Sicherlich kann das sein. Aber man kann die Anwälte ja auch schlecht dazu verdonnern, solche Fälle zu übernehmen. Ich bin mir jedenfalls sicher, dass es für viele arme Menschen nicht möglich ist, ihre Rechte vor Gericht wahrzunehmen.
Was müsste passieren, dass sich daran etwas ändert?
Die rechtlichen Vorschriften müssten geändert werden, die Einkommensgrenzen sollten heraufgesetzt werden und es sollten auch die Kosten für den gegnerischen Anwalt übernommen werden. Für besonders aufwendige Verfahren, etwa Umgangsrecht bei Kindern, sollten die Streitwerte heraufgesetzt werden. Denn heute kommt es oft vor, dass ein Prozesskostenhilfe-Anwalt nur halb so viel Honorar wie ein normaler Anwalt bekommt.