„Es ist, wie es ist“

Text: Claudia Steiner

Zuerst veränderten sich Linien, dann kamen Doppelbilder hinzu. Inzwischen sieht
Harald nur noch sehr wenig. So wie dem 58-Jährigen geht es vielen Menschen mit Sehbehinderung. Doch mit Hilfe von Reha-Maßnahmen kann es gelingen, zurück ins Leben und einen neuen Job zu finden.

Vor etwa zwölf Jahren fing es an. Beim Autofahren bemerkte Harald, dass die Linien in der Ferne v-förmig auseinanderliefen. „Die Müdigkeit, die viele Arbeit am Bildschirm“, dachte er sich und ignorierte die Symptome erst einmal. Dann traten Doppelbilder auf. „Bei der Fußball-Übertragung waren plötzlich viel mehr Spieler auf dem Spielfeld“, erzählt der heute 58-Jährige. Er ging zum Augenarzt und wollte sich eine Brille verschreiben lassen. Die bekam er auch – und den vagen Hinweis, dass er „damit“ nun leben müsse. Harald wollte eine Zweitmeinung, ging in eine Klinik, die schickte ihn weiter in die Münchner Universitätsklinik und dort erklärte ihm ein Arzt schließlich, dass er unter einer erblich bedingten Makuladegeneration leide.

Alles unscharf, gekrümmte Linien

Bei dieser Augenerkrankung sterben die Nervenzellen im Bereich des schärfsten Sehens ab. Schon ein Jahr nach der Diagnose musste Harald das Autofahren aufgeben. „Ich bin immer gern Auto gefahren und gern auch schnell.“ Inzwischen sieht der Finanzexperte auf dem rechten Auge noch vier und auf dem linken drei Prozent. „In der Mitte ist alles unscharf und Linien sehen gekrümmt aus.“ Harald schaut deshalb an seinen Gesprächspartnern vorbei, denn am besten sieht er in den Bereichen, die am Rand seines Gesichtsfeldes liegen. Bekannte Wege läuft er sicher und zügig, man sieht ihm nicht an, dass er kaum noch sieht. Aber grundsätzlich ist er im Straßenverkehr vorsichtig. „Meist höre ich Autos, bevor ich sie sehe, bei Elektroautos ist das nicht ungefährlich.“

Harald trägt die Blindenplakette erst seit Kurzem

„Es ist, wie es ist“, sagt Harald – ohne bitter zu klingen. Doch es hat einige Zeit gedauert, bis er sein Handicap akzeptieren konnte. Erst seit Kurzem trägt er eine Blindenplakette am Anorak. „Lange habe ich mich dagegen gewehrt, das war für mich wie eine offensichtliche Bestätigung dessen, was ich alles nicht mehr kann.“ Doch inzwischen erkennt er die Vorteile: „Jetzt werde ich nicht mehr gefragt: ‚Steht doch da. Können Sie nicht lesen?‘, wenn ich jemanden bitte, mir die U-Bahn-Anzeige vorzulesen.“ Solche oder ähnliche Kommentare müssen sich sehbehinderte Menschen im Alltag immer wieder anhören – oder auch den Vorwurf, sie seien Simulanten. Je nach Augenerkrankung kann es nämlich sein, dass Betroffene zum Beispiel mit einem Blindenlangstock laufen, aber dann im Café sitzen und mit Lupe Zeitung lesen. Oder dass sie sich relativ sicher im Raum bewegen, aber eben wie Harald Anzeigen nicht lesen können. Laut Statistischem Bundesamt gab es 2019 in Deutschland rund 71.500 blinde Menschen und fast 47.000, die hochgradig sehbehindert waren.

Abschiede von alten Gewohnheiten

Für Menschen, die aufgrund eines Unfalls oder einer Erkrankung ihr Augenlicht verlieren, verändert sich viel – manchmal von einem Tag auf den anderen, manchmal schleichend. Bei Harald verschlechterte sich das Sehen über Jahre. Immer wieder standen deshalb Abschiede an. Nicht nur Auto fahren, auch Ski fahren, Rad fahren oder Bücher lesen kann er inzwischen nicht mehr. Speisekarten oder kurze Texte entziffert er mithilfe einer digitalen Leselupe, die Texte stark vergrößert. Doch seine Augen sind schnell erschöpft. Und so musste er sich umstellen: Statt selbst zu lesen, hört er nun Hörbücher aus der Blindenhörbücherei. An anderen Dingen hält er fest: Joggen geht der sportliche Mann nach wie vor, aber nur auf vertrauten und asphaltierten Strecken an seinem Wohnort im Münchner Umland.

Berufliche Rehabilitation

Bei der Arbeit wurde Harald aufgrund seiner Augenerkrankung immer langsamer. Doch sein Chef unterstützte ihn. Als dann jedoch die Firma, für die er in der Finanzabteilung gearbeitet hatte, pleiteging, fand er keinen neuen Job. Darum machte er eine Berufliche Rehabilitation beim Berufsförderungswerk Würzburg in München, die er inzwischen abgeschlossen hat. „Am Anfang dachte ich mir: Was soll ich denn da? Ich finde ja doch keinen Job mehr.“ Doch der Austausch mit anderen Betroffenen tat ihm gut. Und er merkte schnell, dass er in der Reha-Maßnahme Dinge lernen konnte, die er allein nicht schaffen würde. So erkannte er, dass trotz Sehbehinderung noch einiges möglich ist.

Diese Erfahrung machen gerade auch Claudia, Ludmilla und Roger. Sie stecken noch mitten in ihrer Reha-Maßnahme, lernen Hilfsmittel wie Vergrößerungssoftware kennen und Techniken wie die Punktschrift für Blinde, die von dem Franzosen Louis Braille erfunden wurde. Das A wird zum Beispiel mit einem Punkt dargestellt, das B mit zwei übereinanderliegenden Punkten, das C mit zwei nebeneinanderliegenden Punkten. Die drei Teilnehmer sitzen in einem Klassenzimmer und ertasten mit den Fingern die erhabenen Strukturen auf dem Papier. Sie üben das Alphabet und fügen die einzelnen Buchstaben wie Erstklässler zusammen. Dozentin Martina Stranska, die von Geburt an blind ist, gibt Hilfestellungen. „Z und Y sind nicht ganz leicht. An welcher Stelle sind die Punkte?“

„Es ist, als würden wir eine neue Sprache lernen“

„Es ist, als würden wir eine neue Sprache lernen“, sagt der 27 Jahre alte Roger, der aufgrund seiner Sehbehinderung seine Ausbildung zum Bauzeichner und Bautechniker aufgeben musste. Die 58 Jahre alte Claudia, die eine Netzhauterkrankung hat, ist sehr zufrieden: „Wir haben in den vergangenen Wochen sehr viel gelernt.“ Ludmilla erzählt: „Ich bin depressiv geworden, als meine Augen immer schlechter wurden. Aber ich bin nicht bereit, nur zu Hause zu sitzen.“ Wie früher im Labor wird die 50-Jährige nicht mehr arbeiten können, aber sie hofft wie die anderen Teilnehmer auch auf eine neue Chance und eine neue Arbeit – auch wenn sie noch nicht weiß, in welchem Bereich das sein könnte.

Die schwierige Suche nach einer neuen Arbeit

Die 54 Jahre alte Alexandra sitzt derweil in einem Nebenzimmer und arbeitet an Bewerbungen. Die studierte Übersetzerin für Englisch, Französisch und Italienisch ist durch eine Tumorerkrankung stark sehbehindert. Sie hatte Glück im Unglück: Der Tumor war gutartig und konnte in einer Operation entfernt werden, doch ihr Sehvermögen ist seitdem stark eingeschränkt. Während ihrer Reha-Maßnahme konnte sie bereits viele Dinge ausprobieren. Zusammen mit Harald, der zeitgleich mit ihr die Reha-Maßnahme absolviert hatte, hat sie zum Beispiel Podcasts mit dem Titel „Wenn die Brille nicht hilft“ aufgenommen und erklärt darin, was die Sehbehinderung für sie bedeutet. Nun sucht sie nach einer neuen Arbeit. Unterstützt wird sie dabei von Case Managerin Manuela Glaser-Pourahmad, die unter anderem Kontakte mit möglichen Arbeitgebern knüpft und bei der Beantragung von Hilfsmitteln berät. „Oft scheitert die Vermittlung der Teilnehmer daran, dass firmeneigene Computerprogramme nicht barrierefrei sind“, sagt Glaser-Pourahmad. Alexandra: „Ich kann mir ganz viel vorstellen und bin offen. Aber mein Traum wäre es, etwas mit Sprachen zu machen.“

Aktiv und unabhängig bleiben

Harald ist schon einen Schritt weiter. Er arbeitet inzwischen Teilzeit in der Schuldnerberatung des H-Teams. Die Arbeit macht ihm Spaß: „Ich hatte schon immer gern Kundenkontakt.“ Und seine Klienten können von seinen Erfahrungen als ehemaliger Bankangestellter und Finanzsachbearbeiter profitieren. In die Arbeit fährt er mit öffentlichen Verkehrsmitteln – auch wenn er sich bei U-Bahn-Ausfällen oder wenn Bahnhöfe einmal wieder umgebaut werden schwertut. Auch privat ist dem 58-Jährigen wichtig, dass er aktiv und unabhängig bleibt. „Ich will auch mal allein in die Stadt gehen. Natürlich kommt es manchmal vor, dass ich mich verlaufe. Aber wenn ich erst einmal anfange, Dinge nicht mehr allein zu machen, traue ich mich irgendwann gar nichts mehr.“

Infokasten:

Adressen und Links für Betroffene

Berufsförderungswerk Würzburg

Regional-Center München,

Lothstraße 62, 80335 München,

 Tel. 089 12739355,

www.bfw-wuerzburg.de

Podcast von Alexandra und Harald zum Nachhören:

www.bfw-wuerzburg.de/
modeler.php?subitemid=16

Bayerische Blindenhörbücherei e.V.

Lothstraße 62, 80335 München,

Tel. 089 121 551 0,

https://www.bbh-ev.org/

Deutscher Blinden- und
Sehbehindertenverband e.V.

https://www.dbsv.org/

Broschüre „Gute Aussichten im Job –

Berufliche Teilhabe mit Sehverlust“:

https://www.dbsv.org/berufe.html

Blinde bzw. hochgradig sehbehinderte Menschen erhalten in Bayern – unabhängig vom Einkommen – ein Blindengeld.  Infos dazu unter:

www.zbfs.bayern.de/menschen-behinderung/
blindengeld/index.php

Was es bedeutet, wenn das Sehvermögen
stark eingeschränkt ist, kann man mithilfe des

Sehbehinderungs-Simulators erahnen:

Allgemeiner Blinden- und

Sehbehindertenverein Berlin

 www.absv.de/

sehbehinderungs-simulator