Die letzte Generation

Seit März 2012 gilt die Kinderlähmung in Indien als überwunden. Nachdem es ein Jahr lang keine Neuinfektion mehr gab, hat die Weltgesundheitsorganisation Indien von der Liste polioendemischer Länder gestrichen. Das Leben der bereits an Polio Erkrankten ist nach wie vor ein täglicher Kampf – selbst in der IT-Hauptstadt Bangalore, dem so genannten „Silicon Valley Indiens“

Nagma Sultana, 15 Jahre alt, vor dem kleinen Zimmer ihrer Familie in den Slums von Bangalore. Sie trägt eine Beinschiene, um ihr mit Polio infiziertes Bein zu stützen. Links: Nagmas Mutter, die alleine den Haushalt führt | Foto: Simon Murphy
Nagma Sultana, 15 Jahre alt, vor dem kleinen Zimmer ihrer Familie in den Slums von Bangalore. Sie trägt eine Beinschiene, um ihr mit Polio infiziertes Bein zu stützen. Links: Nagmas Mutter, die alleine den Haushalt führt | Foto: Simon Murphy

Mühevoll erklimmt Nagma mit ihren Krücken Stufe für Stufe des schmalen Treppenhauses. Im obersten Stockwerk betritt sie eine winzige Ein-Zimmer-Wohnung, die sie mit ihrer Mutter, ihren vier Schwestern und zwei Brüdern teilt. Der Geruch eines offenen Abwasserkanals liegt penetrant im Raum. Die schmutzigen Zementwände haben keine Fenster; das einzige Licht kommt durch die offene Tür, die in den engen Gang führt. Ein Teil des kalten Steinbodens ist mit einem dünnen Teppich bedeckt; ansonsten ist das Zimmer leer. Man hört die lauten Geräusche aus den umliegenden Straßen des Armenviertels.

Zu Hause angekommen, nimmt die 15-Jährige den schwarzen, vollständig bedeckenden Schleier ab, den sie als Muslimin immer tragen muss, wenn sie das Haus verlässt. Er schränkt ihre Bewegungsfreiheit zusätzlich ein und verdeckt ihre Beinschiene. „Manchmal drücken mich die Leute im Gedränge an der Bushaltestelle zur Seite, sodass ich fast hinfalle. Sie sehen ja nicht, dass ich behindert bin.“
Nagmas linkes Bein ist gelähmt, sie erkrankte schon als Baby am Poliovirus. Erst seit sie vor ein paar Monaten die Krücken und Beinschienen bekam, kann sie allein das Haus verlassen und zur Schule gehen. Nagma gehört in Indien wohl zur letzten Generation von Menschen, die an Kinderlähmung leiden. Im März 2012 erklärte die Weltgesundheitsorganisation (WHO) das Land als poliofrei. Das ist ein Meilenstein im jahrzehntelangen Kampf gegen das Virus; 2009 hatte Indien noch die weltweit meisten Fälle von Polio-Erkrankungen. Jetzt stehen nur noch Afghanistan, Pakistan und Nigeria auf der WHO-Liste der polioendemischen Länder, bald wird Polio eine Krankheit der Vergangenheit sein.
Für viele Menschen wie Nagma bestimmt die Krankheit jedoch weiterhin ihren Alltag und ihre Zukunft. Während Bangalore, Nagmas Heimatstadt, einen unglaublichen Modernisierungsschub erlebte und zum „Silicon Valley“ Indiens wurde, war Nagmas Kindheit ein ständiges Ringen ums Überleben. Ihr Vater verließ die Familie, als sie ein Kleinkind war, die Mutter konnte für die sieben Kinder kaum das Nötigste zum Überleben aufbringen. Die behinderte Tochter im Krankenhaus untersuchen zu lassen, wäre viel zu teuer gewesen, daher suchte sie Hilfe bei traditionellen und religiösen Heilern. „Wir fuhren bei Vollmond mit dem Bus zum etwa 100 Kilometer entfernten Dargah-Tempel, um dort zu beten. Ich bekam Massagen für mein Bein, und meine Familie hat 16 Tage lang gefastet. Sie dachten, das würde mich heilen“, erzählt Nagma.
Nagmas Mutter und ihre Schwestern verkaufen von morgens bis abends Dosa, das sind knusprige, pikante Omeletten. Damit verdienen sie etwa 30 bis 40 Rupien am Tag (weniger als 60 Cent). Auch Nagma verdient 10 Rupien, indem sie Räucherstäbchen rollt. „Normalerweise essen wir Dosa, kein Gemüse, keine Früchte und kein Fleisch. Manchmal trinken wir nur Wasser und gehen ins Bett.“
Die in Bangalore ansässige „Vereinigung für Menschen mit Behinderung“ (Association of People with Disability, APD) schätzt, dass sechs Prozent der indischen Bevölkerung, also 72 Millionen Menschen, eine Behinderung haben. Davon leiden etwa 29 Millionen Menschen an körperlichen und 43 Millionen an geistigen Krankheiten.
Bevor ein APD-Mitarbeiter in Nagmas Slum kam, musste die Teenagerin im Haus bleiben und war komplett von ihrer Mutter abhängig. Erst seit die Organisation ihr die Krücken und Beinschienen zur Verfügung stellte, kann sie allein zur Schule gehen. Die APD half auch Nagmas Mutter, die Analphabetin ist, eine staatliche Invalidenrente zu beantragen. Diese beträgt zwar nur 400 Rupien im Monat (7 Euro), die jedoch oft entscheidend dafür sind, ob die Familie etwas zu essen hat oder nicht. In einem Kurs lernte die Mutter außerdem, Nagmas Behinderung zu verstehen und ihre Tochter mit physiotherapeutischen Übungen zu unterstützen. Wie es mit der Familie Sultana weitergeht, bleibt dennoch ungewiss. Das Zimmer, in dem sie lebt, gehört der Familie des Vaters, die gedroht hat, sie rauszuwerfen, weil die Miete nicht bezahlt wird. Nagma blickt zum Himmel, wenn sie daran denkt. „Nur Allah weiß, wo wir hingehen sollen.”
Gopinath Krishnapur, leitender Mitarbeiter der APD, sagt, dass zwar einige Krankheiten wie Polio jetzt unter Kontrolle seien, die Zahl anderer Behinderungen aber weiter zunehme. „Wir haben immer mehr Menschen mit Wirbelsäulenverletzungen, die oft die Folge von Arbeitsunfällen sind, und viele neue Fälle von Babys mit angeborenen Behinderungen, aufgrund von Geburtsfehlern, Erbkrankheiten oder Unterernährung während der Schwangerschaft.“ Die Arbeit des APD kratze kaum an der Oberfläche der Probleme. „Unterstützung gibt es nur in wenigen großen Städten, in denen Nichtregierungsorganisationen wie die APD aktiv sind. Mehr als 60 Prozent aller körperlich Behinderten bräuchten dringend Unterstützung verschiedenster Art, um überleben zu können. Weitere 17,4 Millionen Menschen mit Behinderungen leben in extremer Armut. Die Herausforderung ist riesig.“ Zusätzlich müsse viel getan werden, um die behinderte Bevölkerung in die Gesellschaft zu integrieren, sagt Krishnapur, „wir brauchen unbedingt barrierefreie Zugänge, sie fehlen in 90 Prozent aller öffentlichen Einrichtungen.“
Obwohl Bangalore, als Sitz vieler in- und ausländischer Computerfirmen, teilweise hochmodern erscheint, ist die Einstellung der Leute gegenüber Behinderten erschreckend rückständig. Laut einem Bericht der Weltbank werden Menschen mit Behinderungen stigmatisiert, oft sogar in ihren eigenen Familien. In den Umfragen, die für den Bericht gemacht wurden, meinten etwa 50 Prozent der Befragten, dass der Grund für eine Behinderung ein „Fluch Gottes“ sei. Vor allem Frauen mit Behinderungen leiden unter vielen zusätzlichen Benachteiligungen und Problemen.
Die 23-jährige Vimalashree Ramamurthy weiß das nur allzu gut. An Polio erkrankt und in den Slums Bangalores aufgewachsen, fühlte sie sich immer als Außenseiterin: „Ich fürchtete mich, zur Schule zu gehen, weil die anderen Kindern mich quälten. Sie schubsten mich wegen meines Beins und nannten mich nur ´das behinderte Mädchen´. Ich weinte die ganze Zeit und dachte oft an Selbstmord.”
Vimalashrees Vater ist Alkoholiker. „Er hat oft versprochen, mit dem Trinken aufzuhören. Und nachdem er auf einer Pilgerreise in Kerala war, schlug er mich eine Weile nicht mehr, aber dann fing er wieder damit an. Wenn wir die Polizei riefen, half die auch nicht. Er ist schließlich mein Vater, und deshalb kann man nichts dagegen unternehmen.” Wie viele indische Mädchen fürchtet sich Vimalashree vor der Ehe, weil sie Angst hat, dass ihr Mann sie auch schlagen wird. Dazu kommt das Problem der Mitgift. Zwar wurde das Zahlen einer Mitgift in Indien schon 1961 offiziell verboten, es ist jedoch gängige Praxis. Familien, die die von den neuen Schwiegereltern geforderten Summen nicht aufbringen können, werden bedrängt und bedroht Frauenorganisationen schätzen, dass jedes Jahr etwa 25.000 Bräute umgebracht werden, deren Eltern die Mitgift nicht bezahlen konnten. Für Frauen mit Behinderung fällt die geforderte Mitgift besonders hoch aus.
Vimalashree bekam kürzlich mit Hilfe der APD eine befristete Stelle als Buchhaltungsassistentin in einer großen Firma. Obwohl sie jetzt Lebensmittel für die Familie kaufen kann, macht sie sich große Sorgen um die Zukunft. „Ich pendle täglich vier Stunden zwischen den Slums und dem Geschäftsviertel und manchmal werde ich im Bus belästigt. Ich versuche, so hart wie möglich zu arbeiten, aber ich weiß, dass ich die Stelle nicht halten kann.”
Text: Danielle Batist/Street News Service
Übersetzung: Andrea Wieler

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