Das 9-Euro Sommermärchen

Karin Lohr, Foto: Volker Derlath

An den Sommer 2022 werden sich sehr viele Menschen erinnern, denn es war der Sommer mit dem 9-Euro-Ticket, das, so hat die Bahn mitgeteilt, 52 Millionen Mal verkauft wurde. Ja sicher, die Züge waren sehr voll, fuhren öfter verspätet ab und einige fielen ganz aus. Und so manche Widrigkeiten mussten die Bahnreisenden auch bewältigen. Aber die vielen Begegnungen und die Möglichkeiten zu Gesprächen mit Leuten, die man sonst nie getroffen hätte, die waren doch großartig! Ich denke dabei an die muntere Giesinger Rentnerin und ihren Lebensgefährten im Zug nach Tegernsee, die sich über eine Zeitungsannonce kennengelernt haben (Print wirkt, Anm. der Herausgeberin), an den Pendler in der Regionalbahn Richtung Marktredwitz, der meinte: „Wer jetzt noch Auto fährt, ist selber schuld“, und die Berliner Schaffnerin, die mit einem Niederbayern verheiratet ist und ihre Fahrgäste im Zug nach Nauen so gut gelaunt angesprochen hat. Über Sitze hinweg wurden in den Zügen die Versäumnisse der zuständigen Verkehrsminister der letzten Jahrzehnte diskutiert. Die zukünftige Verkehrspolitik sollte anders aussehen: Wenn sich nur die Hälfte der Ticketkäufer dafür einsetzt, dass die Bahn eine ausreichende Finanzierung, genügend Personal und saubere Bahnhöfe mit funktionierenden Aufzügen und Toiletten bekommt, dann ist das eine starke Lobby. Mich hat begeistert, dass auch Leute mit dem 9-Euro-Ticket unterwegs waren, die sonst genau nachrechnen, bevor sie Geld für sich ausgeben: Von den BISSlern waren das viele, beispielsweise die beiden Verkäuferinnen, die am liebsten ganz am Schliersee geblieben wären, oder Verkäufer Herr R., der sich dieses Jahr auf unbekanntes Terrain wagte – „Oiso, des Regensburg ist der Hammer“ – und dafür belohnt wurde. Wer meint, Deutschland sei das Land, das man aus einem Dienstwagen auf der Überholspur der Autobahn heraus sieht, das Land, in dem die Raser die Langsamen mit der Lichthupe wegscheuchen, der täuscht sich. Unsere Gesellschaft hat mehr Ähnlichkeit mit einem Regionalzug, in dem viele unterschiedliche Leute sitzen, die einem aber nicht so auf die Nerven gehen, wie man vor der Abfahrt des Zuges befürchtet hat. Im Gegenteil, denn ist man erst einmal mit seinem Gegenüber ins Gespräch gekommen, stellt man in den meisten Fällen fest, dass der auch was zu sagen hat. Mich macht es traurig, dass die bayerische Landesregierung angeblich den vom Bund angebotenen Zuschuss für eine Neuauflage des Tickets nicht einsetzen will. Wie kann das sein, nach so einer Erfolgsgeschichte? Dank des 9-Euro-Tickets waren viele im Land in Bewegung und haben nicht nur räumliche, sondern auch zwischenmenschliche Distanzen überwinden können.


Herzlichst


Karin Lohr, Geschäftsführerin