BISS-Verkäufer*innen auf dem Armutskongress

„Wenn ich mir Gedanken darüber machen würde, was andere haben, würde ich mich selbst vergessen“

Wie und warum BISS-VerkäuferInnen für einen digitalen Armutskongress schreiben oder reden wollen

Von CHRISTOPH LINDENMEYER

Fotos HANNES ROHRER

Roland Herzog gehört zu der Generation, die noch ohne Computer aufgewachsen ist.

Ein Computerkurs der anderen Art. Keiner der Teilnehmenden besitzt einen Laptop oder ein iPad. Aber zwei von den drei Anwesenden, die Monat für Monat das BISS-Magazin in München verkaufen, besitzen ein Handy. Einer hat kein Mobiltelefon. Er hat noch nie eines besessen. Bis vor Kurzem verfügten die zwei Handy-Benutzer über keine E-Mail-Adresse. Wozu auch? Telefonieren, SMS schreiben genügte. Bis sie sich einen Account einrichteten, um E-Mails empfangen und senden zu können. Denn das sind Probleme, die sich lösen lassen. Ein Laptop wird zur Verfügung gestellt. Der Zugang auf dem Handy der Kursleiterin hilft dabei, eine E-Mail-Adresse einzurichten und zu verifizieren. Das Konto eines Teilnehmers wurde sehr schnell gesperrt. „Herr Herzog hatte sich große Sorgen gemacht“, erzählt die Kursleiterin, „weshalb sein E-Mail-Zugang gesperrt wurde.“ Und dann war da noch das Problem, die Passwörter einzutragen. Die drei Personen hatten bisher keine Erfahrung damit. Eine ganz andere Dimension des Denkens wurde verlangt. Als es so weit war, sich eine Adresse und ein Passwort auszudenken, waren sie aufgeregt. Es ist nicht leicht, ein Passwort zu erfinden. Keiner von ihnen verfügt zu Hause über einen Computer, niemand über ein Netzwerk. Vielleicht ein Passwort mit Lieblingszahlen und dem geliebten Fußballverein? So zeigten sich in den ersten Stunden die Probleme. Die Geschichte soll aber von Anfang an erzählt werden.

„Alles ist anders, wenn es uns Armen begegnet“ Anton Wildgans, „Dichter und Dramatiker der Armut“

Unter dem Motto „Armut? Abschaffen!“ veranstaltet der Paritätische Gesamtverband vom 10. bis 12. Juni 2021 einen Aktionskongress gegen Armut – im Jahr der Kontaktbeschränkungen wegen der Covid-19-Pandemie natürlich als digitalen Armutskongress. Der Verband lädt ein: „Die Konzepte zur Armutsbekämpfung liegen auf dem Tisch. Doch die Armut in Deutschland steigt weiter. Schon vor Corona hat sie ein Rekordniveau erreicht. Mit der Krise droht die Ungleichheit weiter zuzunehmen. Dagegen wollen wir uns gemeinsam fortbilden, vernetzen und handeln.“
Für Sevdzhan Hasan ist der Computerkurs eine gute Möglichkeit, nebenbei auch Deutsch zu üben. Der Verband beschreibt seine Zielsetzung: „Gemeinsam Strategien erarbeiten, den armutspolitischen Forderungen mehr Gehör in der Öffentlichkeit und Politik verschaffen und den Druck für Veränderung erhöhen.“ Technisch soll die Teilnahme am digitalen Aktionskongress gegen Armut auf der Plattform ZOOM stattfinden, auch politische Zeichen sollen im Bundestagswahlkampf gesetzt werden.

Mine Killi, 22 Jahre alt, Studentin im vierten Semester an der Hochschule München („Ich bin eine Studentin der sozialen Arbeit“), arbeitet als freiberuflich tätige Projektleiterin auf Honorarbasis im Verein BISS, weil sie das Projekt „sehr interessant“ findet und neben ihrem Studium Praxiserfahrung gewinnen will. Die gebürtige Starnbergerin hatte die Idee, dass sich drei BISS-Magazin-Verkäufer am Kongress beteiligen könnten: durch eine digitale Teilhabe an der Meinungsbildung und durch eigene Beiträge, Forderungen oder Analysen zum Thema Armut auf der Grundlage ihrer jeweiligen Erfahrungen. Frau Killi lernte das Fach „Sozialberatung“ in ihrem Praktikum in einer Erstaufnahmeeinrichtung kennen. Eine Dozentin machte sie auf den digitalen Armutskongress aufmerksam. Gedacht, realisiert. Ein Laptop steht im Büro. Der Rest müsste sich organisieren lassen. Und dann sitzen am Gründonnerstag in diesem Büro des BISS-Vereins in der Münchner Metzstraße Mine Killi und drei Menschen zusammen, die das Magazin BISS verkaufen: Frau Sevdzhan Hasan, seit fast zwei Jahren BISS-Verkäuferin. Vorher hatte sie in Bulgarien als Schneiderin, später dann in Deutschland zehn Jahre als Zimmermädchen gearbeitet. Das Leben meinte es nicht gut mit ihr, obwohl sie sagt: „Über Reichtum habe ich mir noch nie Gedanken gemacht. Ich habe mir nie vorgestellt, was ich dann alles kaufen könnte.“
Sie besucht einen Deutschkurs, spricht wenig. Sie hört lieber zu. Es ist nicht leicht für sie, das komplexe Computersystem und die Anleitungen in deutscher Sprache zu verstehen. Mine Killi versucht trotzdem, mit Frau Hasan Deutsch zu reden, eine zusätzliche Übung neben dem Deutschkurs. Aber nicht immer gelingt die Kommunikation in der deutschen Sprache; nur dann verständigt sich Mine Killi mit ihr auf Türkisch; diese Sprache ist beiden vertraut. Frau Hasan, an das kyrillische Alphabet gewöhnt, tut sich nicht leicht mit dem deutschen. Manchmal sprechen sie zur Erholung Türkisch, Frau Hasan erzählt dann von Bulgarien. „Ich hatte am Anfang keine Ahnung, aber auch keine Angst“, sagt sie. „Der Anfang war schwer, jetzt ist es einfach. Wenn nur die Buchstaben nicht wären. Aber mit der Hilfe von Frau Killi macht es auch Spaß.“ Das Bayerische Fernsehen begleitete Frau Hasan einen ganzen Tag, filmte auch im Webseminar. „Ich konnte den Startknopf nicht finden, deshalb bat ich Frau Killi, mir zu helfen, damit ich mich nicht blamiere“, erzählt Frau Hasan. Sie war am Ende der Dreharbeiten ein bisschen stolz, dass sie fast keine Tippfehler gemacht hatte und über 20 Lektionen schaffte. „Ich tippe nur mit der rechten Hand, bin auch langsam. Aber mit der Maus kann ich gut arbeiten.“

„Nur der Besitz macht frei, und nur die Freiheit erzeugt Menschen“ Anton Wildgans


Herr Roland Herzog ist früher im gehobenen Verwaltungsdienst tätig gewesen. Mine Killi erzählt, was ihr Roland Herzog anvertraut hat: Er hat die Ausbildung für den gehobenen nichttechnischen Dienst in der Versorgungsverwaltung Baden-Württemberg abgeschlossen, aber es fehlte ihm eine letzte Prüfung, um in diesem Bereich arbeiten zu können. Weshalb diese Ausbildungslücke? Er sei, hat er ihr erzählt, in diese letzte Prüfung nicht gegangen, weil er genau wusste, dass er dort auf keinen Fall arbeiten will und wird. Über 41 Jahre stand er im Arbeitsleben, als Selbstständiger in jenen Jahren, in denen er als Gebäudereiniger arbeitete. „Ich hatte am Anfang wirklich Schwierigkeiten, die Maus zu bedienen. Meine Hand verrutschte oft.“ Also wurde nach einer besseren Maus gesucht: Touchpad oder externe Maus? Roland Herzog entschied sich für das Touchpad. „Meine Eltern wollten, dass ich Kaufmann werde.“ Der Vater war Kaufmann und wollte seinen Sohn durch Fachliteratur für diesen Beruf begeistern. In jedem Fall wäre diese Ausbildung eine gute Vorbereitung für ein Arbeitsleben als Selbstständiger. Als Roland Herzog sich entscheiden musste, lebten beide Eltern nicht mehr. So kam es, wie es kommen musste: „Ich gehöre zur letzten Generation, die ohne Computer aufgewachsen ist. Es gab immer Fachleute für die Computerarbeit, deshalb kam ich nie dazu. Ich bin später bankrottgegangen und hatte Schulden.“ Mehr muss er nicht erzählen. In guten Zeiten verkauft er bis zu 100 BISS-Magazine, seit Beginn der Pandemie wurden es weniger. Jetzt sind es vielleicht 70 Exemplare, die er an sein Publikum bringt, „aber ich komme damit aus. Man kann mit weniger auskommen, wenn man sich zusammennimmt. Ich verzichte auf Staatshilfe, um keine Probleme zu bekommen.“
Wer so denkt, bedarf keines Mobiltelefons. Er lehnt es ab. Kategorisch. Seit immer schon. Er sagt: „Ich habe Verwandte, kenne sie aber kaum. Aber wissen Sie: Kleinere Milliardäre sind in großen Schwierigkeiten, um zu behalten, was an Besitz da ist, weil die Superreichen ständig kämpfen müssen. Reichtum kann man sich nicht vorstellen.“ Seine Lebenserfahrungen ließen bei ihm Verschwörungstheorien entstehen: Mafia. Logen. Politiker, die Deutschland als Firma betrachten. Waffenlobbys. Rüstungsfirmen. Kirchen. „Wir sind mitten in Wirtschaftskriegen“, sagt er, und wer will ihm diese Weltsicht verdenken? „Ich studiere den Hintergrund“, sagt er, „alles ist ein einziges Komplott.“

Ernst Köppel sagt: „Nein. Ich kann mir alles leisten, auch das Rauchen. Reichtum ist, wenn man in seinem Umfeld und in der Familie keine Probleme hat und gesund ist. Das ist Reichtum. Ich habe nie Neid gespürt. Ich habe eine kleine Wohnung, Arbeit bei BISS. Das reicht.“ Und Sevdzhan Hasan sagt: „Ich schaue die Leute nicht an, spüre keinen Neid, keine Eifersucht.“

„Wann haben Sie sich zum letzten Mal etwas geleistet?“

Frau Hasan sagt: „Ich kann mich daran nicht erinnern.“

Herr Herzog sagt: „Ich habe mir eine neue Hose vor zwei Wochen gekauft.“

Sich etwas zu leisten heißt: In das Stadion zum Fußballspiel zu gehen. Information zu studieren. Zufrieden zu sein. Auszukommen mit dem, was man hat. Den Umgang mit einem Computer zu lernen. BISS e. V. zahlt den KursteilnehmerInnen einen kleinen Betrag pro Stunde. Verdienstausfall. Denn in dieser Zeit ließen sich ja auch BISS-Magazine verkaufen.

Worüber also schreiben?

  • Mehr Achtsamkeit zu wecken –bei der Bevölkerung, aber auch bei der Politik für die Probleme der Armut in Deutschland.
  • Jeder Mensch ist ein Mensch, ob Deutscher oder Ausländer. Im Land, in dem du lebst, hältst du dich an die Gesetze. Dass sich die Menschen vertragen, gesund sind und keine Verbrechen begehen.
  • Dass ich glaubensstark sein werde und geistig und gesundheitlich in der Lage, Zusammenhänge weiter zu verstehen und mich danach zu benehmen.
  • Dass mehr Leute sehen, was sich abspielt. Die Wiederkunft Christi den Menschen mitzuteilen. Wenn ich einen Glauben habe, kann ich kein Verbrechen begehen.

Die Liste ist natürlich unvollständig. Das Denken entsteht in diesem Fall während des Schreibens. Es ist schwer, Gedanken in Buchstaben umzuwandeln, wenn man es nicht gelernt hat. Gedanken, Gefühle, Ängste, Hoffnungen: Sie wollen ausgesprochen und schriftlich dokumentiert werden. Das ist für Ungeübte eine schwere Arbeit. Und wer – bitte schön – soll das dann ab Mitte Juni lesen oder als gesprochenen Meinungsbeitrag hören?

„Die Allgemeinheit, weil nur sie etwas bewirken kann“, sagt einer. „Es gibt zu viele Leute, denen es zu gut geht; sie interessieren sich nicht für Armut. Ich habe letzte Woche in Giesing BISS-Exemplare verkauft. Da kam ein Schwerbehinderter vorbei und sagte: Ich kaufe dir heute dein Abendessen. Hendl und Salat. Da habe ich ihm die Zeitung geschenkt. Wem es gut geht, interessiert sich dafür nicht.“

Frau Hasan denkt nach und sagt: „Lesen soll das Sozialamt. Lesen sollen das die Leute, die Nachrichten machen. Die Bevölkerung insgesamt.“ Inzwischen üben sie: Buchstaben, Mausklicks, E-Mails zu verschicken. Bald werden sie in die ZOOM-Technik eingewiesen, ein Leitfaden soll vom Paritätischen Gesamtverband für die „Computer-Vorbereitung“ schnell entwickelt werden, aber noch gibt es ihn nicht. Deshalb hat Mine Killi sich ein eigenes System ausgedacht, um die Teilnehmenden „Schritt für Schritt“ in die Computerwelt einzuführen. Wenn dies gelingt (woran keiner der vier im Kurs zweifelt), wissen eine Autorin und zwei Autoren genauer, was sie bei dem digitalen Armutskongress schreiben oder sagen wollen. Der „Paritätische“ ist informiert. In Kopf und Herz arbeiten die Kursteilnehmerin und die Kursteilnehmer schon an den Inhalten, während sie die Buchstaben auf der Tastatur suchen: von Woche zu Woche schneller, sicherer und leichter. Und doch ist der Weg noch mühsam, seine Stimme in die digitale Vielstimmigkeit des Armutskongresses einzubringen.

Und vielleicht ist es eines Tages doch möglich, dass sie sich einen Computer anschaffen können. Es wäre doch sehr schön. Ein Traum. Ob er sich erfüllt?