
2 7.04.1967 – 20.11.2020
Ercan Uzun kam am 4. Mai 2001 zu BISS. Seitdem verkaufte er das Magazin am Sendlinger-Tor-Platz im Zwischengeschoss. Herr Uzun war fest angestellt, zahlte Steuern und Sozialversicherung und führte ein von Sozialleistungen unabhängiges Leben. Das war umso bemerkenswerter, als ihm mit seiner psychischen Erkrankung, mit der er offen umging, eine schwere Bürde im Leben auferlegt war. Die trug er meist stoisch-gelassen und mit dem ihm eigenen Humor. Für uns BISSler war er ein Held, denn er bewies, dass man trotz alledem ein gutes Leben führen kann. Herr Uzun hatte eine Wohnung und ein Arbeitseinkommen, vor allem aber war er anderen Menschen in großer Zuneigung verbunden: Seine Frau und seine Kinder standen bei ihm an erster Stelle, dann kamen seine lieben Stammkunden und treuen Leser und natürlich auch die BISS-Kollegen. Am 20. November 2020 ist er völlig unerwartet zu Hause gestorben. Er wurde nur 53 Jahre alt. Wir werden uns an Ercan Uzun stets in Liebe und Dankbarkeit erinnern.
Karin Lohr
Er nickte immer kurz, reichte die Hand, an manchen Tagen skeptischer, an anderen lächelnd. Wenn Ercan am Dienstag in die Schreibwerkstatt kam, war das – zumindest auf den ersten Blick – ein stiller, unauffälliger Besuch. Seine Geschichten prägten seit vielen Jahren die Doppelseite im Heft: sein Kampf mit dem Rauchen, die Erzählungen von anstrengenden Reisen in die Türkei und, natürlich, die Gedanken um seine Familie. Gerade seine zurückhaltende und höfliche Art hat die zwei Stunden oft wesentlich mitbestimmt. War er fertig, gab Ercan das Blatt ab, wartete, ließ sich das getippte Ergebnis vorlesen – oder sagte, in weichem Münchner Dialekt: „Ich vertrau dir“, und zog gen Sendlinger Tor. Dass er dort nicht mehr stehen wird, erzählen wird, wie es grad mit der Baustelle um ihn herum läuft, dass er nicht mehr schreiben wird und nicht mehr Teil des Alltags in dieser Stadt sein wird, ist unglaublich schwer vorstellbar.
Christine Auerbach, Lea Hampel und Felicitas Wilke
Meine Zeit in Istanbul
von Ercan Uzun
Ich gehe zurück ins Jahr 1984. Da kam im türkischsprachigen Programm im WDR die Information, dass in Istanbul eine Schule eigens für Rückkehrer eröffnet wird. Sie war für Jugendliche, deren Eltern sich entschieden hatten, in die Türkei zurückzugehen. Ich beschloss, es zu versuchen. Meine Eltern blieben in Deutschland. Spontan flog ich nach Istanbul, um nach meiner mittleren Reife in einigen Jahren die Hochschulreife zu erlangen. Die plötzlich eingetretene Freiheit von den Eltern nutzte ich aus. Ich wohnte in einer eigenen Wohnung, ging zwar meinen schulischen Verpflichtungen nach, aber sonst war ich recht undiszipliniert und gab sinnlos Geld aus. So fing ich das Rauchen an und ernährte mich recht ungesund. Ich ging an den Wochenenden im Stadtteil Taksim in einschlägige Kinos und sah mir freizügige Filme an. Schöne Erlebnisse waren unter anderem die Annäherungsversuche zweier Mädels, die ich in meine Wohnung einlud. Ich hatte viele Verwandte dort mütterlicherseits, die meine Verhaltensänderung kritisch beobachteten. Aber meine Noten waren gut, nur in den Fächern Philosophie und Logik hatte ich bescheidene Zensuren. Diese Fächer waren für mich Neuland. Und eines Tages kam sogar der damalige türkische Staatspräsident Kenan Evren in unsere Schule, das Üsküdar Anadolu Lisesi. Noch vor dem Zwischenzeugnis sollte sich dann das einstellen, was mich bis heute im Leben prägt: meine psychischen Störungen. Sie kamen einher mit diversen Wahnvorstellungen, Verfolgungsängsten und irrationalen Gedanken. Dreimal innerhalb von drei Monaten war ich stationär in der Klinik im Stadtteil Capa. In meiner Erinnerung waren 50 Kranke in einem Saal, und es gab jeden Tag eine Handvoll Tabletten. Erst kam meine Mutter, um mich vor dem Schlimmsten zu bewahren, nach abgeschlossener Behandlung holte mich mein Vater zurück nach Deutschland, wo ich das Glück hatte, nicht den Aufenthaltstitel verloren zu haben. Daher sehe ich meine Zeit in Istanbul stets mit gemischten Gefühlen. Und möchte hier vielen, die an meiner Stelle stehen, den Rat mitgeben: Bevor jemand studieren will – eine ordentliche Ausbildung tut es auch!